Im so genannten Deutschen Herbst 1977 spitzten sich die gewalttätigen Aktionen der Rote-Armee-Fraktion zu. Führende Banker, Politiker, Richter wurden ermordet; mit Hanns-Martin Schleyer als Geisel sollten die Inhaftierten Baader, Ensslin & Co. befreit werden. Eine Reihe von Spiel- und Dokumentarfilmen hat den Fortgang der Geschehnisse rund um die RAF begleitet.
Unlängst wurde der deutsche Regisseur Volker Schlön-orff in einer Talkshow gefragt, ob er sich – in der Rolle des Bundespräsidenten – für die Begnadigung des RAF-Terroristen Christian Klar einsetzen würde. Schlöndorff verweigerte die Antwort mit der schlichten Begründung, das behalte er lieber für sich. Vorbei also die Gültigkeit der Parole, nach der das Private eben Politisch ist; folgt der Gesellschaftskritik von Deutschland im Herbst (1977/78) nun Die Stille nach dem Schuss (1999)? Schlöndorffs Schweigen ist zumindest zweifach verständlich: Als Antwort auf eine absichtsvoll gestellte Frage, durch die der punzierte Filmemacher sich nicht erneut in die Schusslinie bringen wollte, wie er das mit seiner Unterstützung für den reuelosen Klar bereits Anfang des Jahres getan hatte. Zudem als skeptischer Beitrag in einer Debatte, die mit medial aufbereiteten Archivbildern zur 30. Wiederkehr des Deutschen Herbstes allzu leicht zuordenbare (demokratiepolitisch bedenkliche) Haltungen hochspült.
Freilich findet die Terrorismus-Debatte von heute unter anderen Vorzeichen statt. Während die RAF-Aktivisten tot, in Gefängnissen oder als Irrläufer einer Ideologie in den Medien gut aufgehoben sind, nährt sich eine alte Bedrohungsrhetorik aus neuen Quellen. Die Symbole selbst sind rasch ersetzt: Statt des fünfzackigen Sterns nun der Halbmond, statt der Kalaschnikow das Minarett und das nihilistische A für Anarchie heißt heute Schari’a (Kopftuchalarm!). Ungeachtet dessen, ob die demokratische Ordnung nun damals oder heute bedrohter war, gleichen sich die Mechaniken gesellschaftspolitischer Ein- und Ausschlüsse frappant. Geradezu kurios, wie in einer zufälligen rhetorischen Analogie auch heute von der zweiten und dritten Generation die Rede ist, nur dass es sich dabei um Migranten handelt – für Verdachtsmomente freilich anfällig, wie Benjamin Heisenberg in Schläfer (2000) zeigt.
Aus Gründen des Erfolgs prolongiert wurde auch das – von der Springer-Presse – einst erfolgreich eingeführte Label des „Sympathisanten“ und seine rasche Bedeutungserweiterung. Um Bürgerrechte bangende Schriftsteller wie Heinrich Böll oder Luise Rinser wurden durch diese Etikettierung in einer regelrechten Fehde einzelner Verlagsexponenten selbst zu Terrorismusverdächtigen. Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) ist in Wahrheit jene Bölls. Rinsers Sohn Stefan verfilmte 1983 Kinder unseres Volkes, das Buch seiner Mutter zeigt die Bedingungen auf, unter denen Frauen zu Terroristinnen werden. Wo Schlöndorff also heute schweigt, entzieht er sich einer Diskussion, die gesellschaftspolitisch polarisiert: Bürger oder Terrorist, oder im RAF-Jargon: Schwein oder Mensch. Dazwischen bleibt nicht mehr viel.
Comandante Guerilla
Entlang welcher Bilder sich die Studentenproteste Ende der 60er Jahre formiert haben, fällt im heute ausgestrahlten Wust an Archivmaterial besonders auf. Ulrike Meinhof wurde über Vietnam wütend. Das geschah, erzählt ihr Ex-Freund, der RAF-Mitbegründer Peter Homann, im TV-Zweiteiler Die RAF von Stefan Aust und Helmar Büchel, während eines Bildberichts über die Folgen der US-Angriffe. Aust zeigt dazu den Signifikaten Vietnams schlechthin: das von Napalm verbrannte, nackt auf der Straße laufende Mädchen. Als Leitmotiv für die antiimperialistische Ausrichtung setzte sich in der Studentenbewegung eine vom linken italienischen Verleger Feltrinelli verbreitete Darstellung von Che Guevara durch. Der Verweis auf den kubanischen Revolutionär beinhaltete zugleich die Handlungsmaxime des Guerillakampfes, wie ihn die RAF-Gründer Baader, Ensslin, Raspe, Meins, der Anwalt Horst Mahler (später wegen NS-Wiederbetätigung vor Gericht) und die bald in den Untergrund folgende intellektuelle Wortführerin Ulrike Meinhof praktizierten. Dass sich antiimperialistische Allianzen in der Realität nur schlecht umsetzen ließen, wird durch ein anderes tradiertes Bild deutlich: Als sich 1970 die deutschen Revolutionärinnen leicht bekleidet im jordanischen Ausbildungslager sonnten, stießen sie die palästinensischen Kampfesbrüder der al-Fatah heftig vor den Kopf. Das Abenteuer war bald beendet, der deutsche Aufstand galt ohnehin nicht Israel, sondern der eigenen Elterngeneration. Diese hatte sich durch ihre Teilnahme und auch Passivität im Nationalsozialismus schuldig gemacht. Ihre Kinder wollten sich eine solche Haltung später nicht vorwerfen lassen.
Nicht zufällig erwähnt der Publizist Klaus Röhl in Austs Doku eine äußere Ähnlichkeit seiner Lebensgefährtin Meinhof mit der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl: Selbst ihre Haare habe sie so getragen. Durch die autoritären Tendenzen des Staates sahen die Kinder sich bestätigt: Als 1967 der Student Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen wurde, orteten sie die Rückkehr des Faschismus.
Demokratiepolitisches Schlachtfeld
Dem Gedanken an ein in Köpfen und Institutionen nur zwischengelagertes geistiges NS-Erbe folgt auch Alexander Kluge in der Gemeinschaftsproduktion Deutschland im Herbst (1977/78, Regie u.a. auch Volker Schlöndorff, Rainer Werner Fassbinder und Edgar Reitz), der zur Zeit der dramatischsten Mordserie der RAF und der Selbstmorde ihrer Gründer entsteht. Kluge fädelt eine historische Kausalkette auf: Er montiert die Aufnahmen von NS-Führern mit jenen prominenter Teilnehmer am Begräbnis des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Dem Publikum wird das Junktim der eigenen Unmündigkeit vorgehalten, als müsste es endlich aufwachen. Doch in einer ausgesprochen bitteren Replik fügt Kluge danach die Bilder von Fabrikarbeitern bei Daimler-Benz an, die zum Gedenken vor ihren stillgelegten Maschinen verharren. Die Proteste, in den Jahren zuvor von großteils ausländischen Arbeitern begleitet, werden hier zu Grabe getragen. Kluge verabschiedet damit demonstrativ die Idee einer Generation, die des revolutionären Subjekts. Nicht minder desperat äußert sich Rainer Werner Fassbinder in seiner Episode zum Stand des bürgerlichen Bewusstseins: Er selbst, in Lederstiefeln oder schutzlos nackt, abwechselnd Alkohol trinkend oder kotzend, steht, zwischen Aufbegehren und Resignation pendelnd, seiner Umwelt verzweifelt gegenüber. In Rage presst er seinem Lebensgefährten Armin und seiner Mutter Antworten ab, wie denn die Demokratie nun zu verteidigen wäre: die Terroristen an die Wand stellen, sagt der Freund; ein autoritäres Regime installieren, die Mutter. Deutschland im Herbst legt seinen verengten Fokus allein auf das, was bleibt: ein demokratiepolitisches Schlachtfeld, das selbst die Terroristen geräumt haben. Sie werden in diesem Film ausgeblendet. Übrig bleibt die Idee von Revolution, eine Geste, ein Chic, schließlich das Revolutionsflair der Modehäuser.
Den Beginn inhaltsärmerer Tendenzen setzt Fassbinder, freilich als trotzig-schrillen Kommentar, 1979 mit Die dritte Generation selbst. Die Terroristen der RAF: manipulierte Wiedergänger, zu dumm es zu merken, Agenten der zersetzenden Gegenmacht. Jahre später wird Frank Giering in Baader (2002) einen derartigen Revolutions-Dandy geben, der sich in einer fiktiven Szene konspirativ mit seinem Widersacher Horst Herold trifft. Der Architekt des deutschen Überwachungsstaates wird hier fanatisch, eingebunkert, isoliert gezeigt, in einer Spiegelung der Situation des Terroristen selbst. Ein unterhaltsamer Twist, in dem polizeiliche Ermittlungen – aber auch der schnoddrige Terrorist – ihren Schrecken verloren haben. Gut konsumierbar wird wohl auch der derzeit unter Federführung von Bernd Eichinger gedrehte Baader-Meinhof Film sein, wie schon Eichingers jüngste große Produktion, Der Untergang. Besonders gefällig: Baader heißt diesmal Moritz Bleibtreu. Heike Makatsch blieb uns, weitgehend unbemerkt, erspart, dafür spielt Martina Gedeck Ulrike Meinhof.
Warencharakter und Ideologieverlust
Beobachtet man die Entwicklung der etwa zwanzig Langfilme, die die RAF thematisieren, fallen drei Dinge auf. Erstens: Das Verwachsen der RAF-Bilder mit dem Mainstream verhält sich auffällig ähnlich jenen Mustern, durch die auch subkulturelle Phänomene wie Jugendkulturen allmählich zu Allgemeingut werden. Anfängliche Medienhypes, deviante Verhaltensweisen, Gewalt, schließlich eine Überaffirmation der Posen und ein Ende politischer Inhalte im Hauptabendprogramm, wo das Interesse des Publikums auf eine private Dimension der Täter – und schließlich der Opfer – gelenkt wird. Beispiele dafür, neben einer Vielzahl an Fernsehdokumentationen: Das Grams/Herrhausen-Doublefeature Blackbox BRD (Andres Veiel, 2001), Starbucks Holger Meins (Gerd Conradt, 2002), Der Terrorist Hans-Joachim Klein (Alexander Oey, 2005) oder Schleyer – Eine deutsche Geschichte (Lutz Hachmeister, 2003).
Damit einher geht zweitens ein markanter Ideologieverlust. Die RAF und ihre Symbole haben insofern Warencharakter erlangt, als sie, ihres Schreckens enthoben, konsumierbar geworden sind. Ob es der Rote Stern ist oder ein Fahndungsfoto, das nunmehr in seiner Bedeutung gleichwertig neben einem seriellen Siebdruck von Andy Warhol stehen könnte; Marilyn Monroe, Campbell’s Dosensuppen oder finster dreinblickende Terroristinnen. Der Ideologieverlust reicht aber viel weiter. Vergleicht man den Ausgangspunkt der RAF-Filme, Bambule (Eberhard Itzenplitz, 1970), ein immanent politisches Mädchenheim-Drama, für das Meinhof selbst das Drehbuch verfasst hat, mit dem vorläufigen Endpunkt, Stefan Austs TV-Zweiteiler Die RAF, fällt auf: Beide nehmen von zentralen Forderungen der 60er Jahre ihren Ausgang, setzen aber unterschiedliche Begriffe ein. Werden von den Mädchen im Internat Freiheit, Kritik, Solidarität als positive Werte erlebt, besetzen diesen Platz bei Aust Begriffe wie Disziplin und Kontrolle. Damit dockt Aust an die Sicherheitsdiskurse unserer Zeit an. Ästhetisch betrachtet, sind die Bilder in Bambule selbst „Aufrührer“, körnig, schwarzweiß, oft durch die Handkamera geschüttelt und distanzlos eingesetzt, bei Aust bleiben sie steril. Er strukturiert sie wie Gefängnisgänge, Baupläne, Rasterfahndungen. Einmal bezeichnet Aust das eigens für die RAF erbaute Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim – im gleichnamigen Film von Reinhard Hauff 1986 noch Ort des Aufbegehrens – als Hauptstadt der RAF. Die Personen werden individualisiert behandelt, als Polizisten mit Dirty-Harry-Gelüsten, als Hinterbliebene, als isolierte Gefangene. Bambule hingegen konzentriert sich auf das Kollektiv, choreografiert eine Mädchengruppe etwa zum Fenster, wo sie bejubeln, wie unten drei von ihnen symbolträchtig einen Zaun niederreißen. Handlungen werden hier von Stimmungen motiviert, Träume spielen – als Ängste oder Begehrlichkeiten – eine Rolle.
Postdemokratie
Der in Deutschland im Herbst betrauerte Verlust einer gesellschaftlichen Vision wird in Fernsehdokumentationen wie jener von Aust durch das Format des Krimis ersetzt. Das führt zum dritten Punkt, der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Hat Meinhof, noch als Kolumnistin der Zeitschrift konkret, ein bis zwei Stunden Fernsehen eingefordert, so hat sie diese nun bekommen. Nur eben zu anderen Konditionen. Politik, kritisieren Philosophen, würde heute als harmonischer, konsensualer Prozess gedacht. Ein Widerstreit sozialer Akteure finde nicht mehr statt. Der französische Philosoph Jacques Rancière spricht deshalb auch von einer Postdemokratie, in der Konflikte nicht mehr ausgefochten werden, sondern Experten regieren, während Politiker repräsentieren. Die Bildproduktion über die RAF hat sich analog dazu entwickelt. Vergessen scheint, was selbst dem Popstar einst zu Eigen war: ein gesellschaftsveränderndes Moment.