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Dossier Terrorismus der 70er – Der Filmemacher als Revolutionär

Der Filmemacher als Revolutionär

| Roland Domenig |

Adachi Masao nimmt eine Sonderstellung in der japanischen Filmgeschichte ein. Zentrale Figur der 60er und frühen 70er Jahre, verbrachte er später als Mitglied der Japanischen Roten Armee ein Vierteljahrhundert im „Exil“ – und wurde in seiner Heimat zum Mythos.

Geboren wird Adachi 1939 im Süden Japans, in der Präfektur Fukuoka. 1959 kommt er nach Tôkyô, um ein Studium an der Nihon Universität aufzunehmen. Dort schließt er sich dem Filmstudien-Club der Universität an, der durch die um wenige Jahre älteren Jônouchi Motoharu und Hirano Katsumi und deren Filme Kugi to kutsushita no taiwa (Gespräch zwischen Nagel und Socke, 1958) und Pû Pû (1960) zu einem Zentrum des kollektiven experimentellen Films wurde. Im Herbst 1960 wird der Filmstudien-Club umstrukturiert, Adachi wird zum führenden Kopf des Kollektivs. Es entstehen die wegweisenden Filme Wan (Bowl, 1961) und Sain (Blocked Vagina, 1963), die zu den Meisterwerken des japanischen Experimentalfilms zählen. In Sain wird die niedergeschlagene Stimmung nach dem Scheitern der Protestbewegung gegen die Unterzeichnung des amerikanisch-japanischen Sicherheitsabkommens im Sommer 1960 widergespiegelt – metaphorisch, anhand einer unter Vaginalverengung leidenden jungen Frau.

Pink eiga und Skandale

Seit Sain weit über die Grenzen der studentischen Filmszene hinaus bekannt und gewürdigt, gründet Adachi gemeinsam mit Jônouchi und anderen das Künstlerkollektiv VAN: Künstler verschiedenster Richtungen – von Akasegawa Genpei (Neo-Dada) bis Yoko Ono (Fluxus) – genießen hier einen kreativen Raum für Experimente und können mit anderen Avantgardisten zusammenarbeiten. Daneben ist Adachi in der 1964 gegründeten Vereinigung „Film Independent“ aktiv, einem Forum für experimentellen Film, dem u. a. auch Iimura Takahiko, Ôbayashi Nobuhiko und Donald Richie angehören. Sein Geld verdient Adachi als Regieassistent für Sexploitationfilme – so genannte pink eiga –, die Anfang der 1960er Jahre einen enormen Boom erleben. Auf diese Weise lernt er Wakamatsu Kôji kennen und schließt sich 1966 dessen Wakamatsu Production an. Wakamatsu ist einer der Pioniere des pink eiga-Genre und gilt als Enfant terrible des japanischen Kinos. 1965 sorgt sein Film Kabe no naka no himegoto (Geschichten hinter Wänden) bei den Filmfestspielen von Berlin für einen Skandal, der ihn in Japan schlagartig berühmt – und berüchtigt – macht. Wakamatsu schart junge Talente um sich und entwickelt sich dank deren kreativen Potentials zu einem der radikalsten und umstrittensten, dabei aber auch erfolgreichsten Filmemacher seiner Zeit. Adachi wird – neben Yamatoya Atsushi – zu Wakamatsus wichtigster Stütze und schreibt Drehbücher für mehr als zwei Dutzend seiner Filme, darunter Klassiker mit bezeichnenden Titeln wie Taiji ga mitsuryô suru toki (The Embryo Hunts in Secret, 1966) und Yuke, yuke nidome no shojo (Go, Go, Second Time Virgin, 1969).

Neben seiner Tätigkeit als Drehbuchautor für Wakamatsu Kôji führt Adachi selbst Regie bei sieben pink eiga. Seinem kommerziellen Filmdebüt Datai (Abortion) und der Fortsetzung Hinin kakumei (Birth Control Revolution, beide 1966), Parodien auf Aufklärungsfilme rund um einen verrückten Gynäkologen, der einen künstlichen Uterus bzw. ein unfehlbares Verhütungsmittel entwickelt, folgt 1967 der surrealistische Gingakei (Galaxy), der – anders als seine pink eiga – nicht von Wakamatsu, sondern von Adachi selbst produziert wird, und bei dem er zu seinen experimentellen Anfängen zurückkehrt.

Radikalisierung

Einen wichtigen Schritt zur „Politisierung“ Adachis stellt die Protestbewegung dar, die sich im Mai 1968 nach der Entlassung von Suzuki Seijun durch das Studio Nikkatsu spontan formiert. Suzukis Film Koroshi no rakuin (Branded to Kill, 1967, siehe ray 05/07) war als „unverständlich“ deklariert, der Regisseur kurzerhand vor die Tür gesetzt worden. Ein Kampfrat wird organisiert, der mit Demonstrationen, Versammlungen sowie Flugblatt- und Unterschriftenaktionen das Studio zwingen will, die Entlassung rückgängig zu machen. Der politische Aktivismus des Kampfrates, der vor dem Hintergrund der sich radikalisierenden Studentenbewegung und der allgemeinen Politisierung der japanischen Gesellschaft ab 1968 zu sehen ist, wirkt sich auch auf Adachis Drehbücher und Filme aus, die radikale Maßnahmen bis hin zum Terrorismus vorschlagen. Seiyûgi (Sex Play, 1968) dreht Adachi hinter den Barrikaden der Nihon Universität, in Jogakusei gerira (Female Student Guerilla) lässt er eine Gruppe bewaffneter Studentinnen die Revolution üben.

Seine Filme werden nicht nur politischer, sondern auch theoretischer. Zusammen mit dem Filmkritiker Matsuda Masao entwickelt Adachi die so genannte Landschaftstheorie (fûkeiron), die nicht, wie im gängigen Diskurs, die „Situation“ in den Mittelpunkt rückt, sondern die „Landschaft“, in die politische wie ökonomische Machtverhältnisse eingeschrieben sind. Eine praktische Umsetzung erfährt die Theorie in Ryakushô renzoku shasatsuma (A.K.A. Serial Killer, 1969), den Adachi gemeinsam mit Matsuda Masao und den anderen Mitgliedern der neu gegründeten Gruppe „Hihyô Sensen“ (Kritische Front) herstellt. A.K.A. Serial Killer ist eine außergewöhnliche „Dokumentation“, die die Lebensstationen des minderjährigen Serienmörders Nagayama Norio Revue passieren lässt und ausschließlich aus Landschaftsaufnahmen montiert ist. Das fast kommentarlose, mit einem suggestiven Musicscore des Jazz-Perkussionisten Togashi Masahiko untermalte Meisterwerk wird nach seiner Fertigstellung unter den Mitgliedern der beteiligten Akteure aufgeteilt und erst 1975 wieder zusammengefügt und aufgeführt. Die theoretische Auseinandersetzung mit Film kommt auch in der Filmzeitschrift Eiga hihyô („Filmkritik“) zum Ausdruck, die Adachi zusammen mit den Mitgliedern der Kritischen Front im Herbst 1970 gründet. In ihr veröffentlicht Adachi wichtige theoretische Schriften zur Landschaftstheorie sowie zur politischen Bedeutung von Film.

Von Cannes nach Beirut

Im Frühjahr 1971 werden bei den Filmfestspielen von Cannes die beiden Wakamatsu-Filme Okasareta byakui (Violated Angels, 1967) und Sekkusu jakku (Sex-Jack, 1970) in der Director’s Fortnight gezeigt. Auf dem Heimweg machen Wakamatsu Kôji und Adachi Masao einen Zwischenstopp in Beirut, wo unter Adachis Führung der Film PFLP – Sekigun: Sekai sensô sengen (PFLP – Red Army: Declaration of World War, 1971) entsteht. Während Jean-Luc Godard, der im Jahr zuvor im Libanon war, um einen Film über den Freiheitskampf der Palästinenser zu drehen, aufgrund eines Unfalls seinen Film nicht fertig stellen kann und das gedrehte Material erst 1974 aus kritischer Distanz zum Film Ici et ailleurs montiert, ist Adachis Film eine Agitprop-Arbeit, in der Elemente der Landschaftstheorie verarbeitet sind. Aus heutiger Sicht mag der roh geschnittene Film befremdlich anmuten – insbesondere die Fetischisierung der Waffen im Alltag der Palästinenser, die vor allem dem allgemeinen Schusswaffenverbot in Japan geschuldet sein dürfte –, dennoch stellt er ein sehr wichtiges Zeitdokument dar.

Der unter der Abkürzung Aka-P bekannte und als „Newsfilm“ etikettierte Dokumentarfilm über den Kampf der Volksfront zur Befreiung Palästinas zeigt auch Mitglieder der japanischen Roten Armee Fraktion (Sekigunha), die sich im Libanon als Japanische Rote Armee (Nihon Sekigun oder JRA) neu formiert; er wird in Japan nicht in den Kinos, sondern von einer mit einem roten Bus durch Japan ziehenden mobilen Aufführungseinheit an Universitäten und in Volkshallen gezeigt, begleitet von politischer Agitation und dem Aufruf zur Weltrevolution. Bei einer Aufführung an der Kagoshima-Universität sieht auch Okamoto Kôzô den Film, der tiefen Eindruck auf ihn macht und (neben der Tatsache, dass sein älterer Bruder zu den Sekigunha-Aktivisten gehörte, die im März 1970 eine JAL-Maschine nach Nordkorea entführten) mit ein Grund dafür war, dass sich Okamoto der Japanischen Roten Armee anschließt. Zusammen mit zwei Mitstreitern verübt Okamoto im Mai 1972 einen Anschlag auf den Lod-Flughafen von Tel Aviv, bei dem 24 Menschen sterben. Okamoto überlebt als einziger der Attentäter und wird von einem israelischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt, kommt aber 1985 nach einem Gefangenenaustausch zwischen Israel und den Palästinensern wieder frei. Adachis jüngstem Film, Terorisuto (Terrorist, 2007), liegt die Geschichte von Okamoto Kôzô zu Grunde.

Als Kämpfer Im Libanon

Während der „Revolutionsbus“ mit Aka-P durch Japan zieht, schreibt Adachi das Drehbuch zu Wakamatsus Art-Theatre-Guild-Produktion Tenshi no kôkotsu (Ecstasy of the Angels, 1972), der auf nahezu prophetische Weise den bewaffneten Straßenkampf radikaler linker Splittergruppen antizipiert. Wenige Tage vor der Premiere des Films wird just jene Polizeistation in Tôkyô Ziel eines Bombenanschlags, die auch im Film Ziel eines fiktiven Attentats ist. Der Film, der wenige Wochen nach dem so genannten Asama-Sansô-Zwischenfall seinen Kinostart erlebt, sorgt für einen veritablen Skandal. Der Asama-Sansô-Zwischenfall, bei dem sich in einem Ferienhaus verschanzte Mitglieder der Vereinigten Roten Armee (Rengô Sekigun) eine dreitägige, live im Fernsehen übertragene Schlacht lieferten, sowie die danach bekannt gewordenen internen Säuberungen und Ermordungen von zwölf Mitstreitern versetzten der japanischen Neuen Linken einen Schlag, von der sie sich bis heute nicht erholt hat (siehe auch Seite 38).

Adachis Engagement für die Anliegen des palästinensischen Volkes führt zu einer Annäherung an die im Libanon stationierte Japanische Rote Armee. Im August 1973 tritt er in Paris nach einer Flugzeugentführung als Sprecher der JRA in Erscheinung und gibt in Beirut eine Pressekonferenz. Im Jahr darauf taucht er endgültig im Libanon unter, wo er das folgende Vierteljahrhundert als Kämpfer der Japanischen Roten Armee verbringt. Aufgrund seiner vermeintlichen Beteiligung an einer Aktion von Ainu-Aktivisten, die auf Hokkaidô eine Statue beschädigt hatten, liegt auch ein internationaler Haftbefehl gegen ihn vor.

Adachis plötzliches Verschwinden nährt den Mythos, der sich in der Folge in Japan um seine Person zu ranken beginnt. Für die Anhänger der (gescheiterten) Neuen Linken ist er ein Held, der die Kamera gegen die Waffe getauscht hat und für die Weltrevolution kämpft, und er wird zu einer Projektionsfläche für unerfüllte Wünsche und Hoffnungen. Während linke Filmemacher in Japan ihr Engagement in einem radikal veränderten politischen Umfeld neu definieren und legitimieren müssen, wird die Biografie von Adachi Masao aufgrund seiner Abwesenheit ohne sein Zutun geschrieben (in dieser Hinsicht ist er mit Chris Marker vergleichbar, der sich Interviews konsequent entzogen hat). Der Umstand, dass nichts Konkretes über Adachis Aktivitäten im Nahen Osten bekannt wird, verstärkt noch den Mythos.

Comeback als Filmregisseur

1997 werden Adachi, Okamoto und drei weitere JRA-Mitglieder in Beirut festgenommen und zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe wegen gefälschter Reisedokumente verurteilt. Die palästinensische Führung reagiert damit auf die veränderte politische Lage und hofft auf japanische Wirtschaftshilfe. Kurz vor Ende der Gefängnisstrafe werden bis auf Okamoto, der als Einziger politisches Asyl erhält, die Mitglieder der so genannten „Beirut Five“ im Jahr 2000 an Japan ausgeliefert. Da Adachi keine unmittelbare Beteiligung an Terroranschlägen nachgewiesen werden kann, wird er nur wegen Fälschung von Reisedokumenten zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt und kommt im September 2001 wieder frei. Mit dem autobiografischen Buch Eiga / Kakumei („Film / Revolution“, 2003) holt er seine Biografie nach, 2007 feiert er mit dem Film Terrorist nach 35-jähriger Pause sein Comeback als Filmemacher. Adachi lebt heute mit seiner libanesischen Frau und dem gemeinsamen vierjährigen Kind in Tôkyô und bereitet seinen nächsten Film vor. Er ist zweifellos eine der interessantesten Figuren des japanischen Kinos. Seine Arbeit, die Meisterwerke wie Sain und A.K.A. Serial Killer, aber auch durchaus umstrittene Filme umfasst und außerhalb Japans kaum bekannt ist, hat so wie sein konsequentes Eintreten für die Rolle des Filmemachers als Teil einer künstlerischen und politischen Bewegung nichts von ihrer Aktualität verloren. Sie wartet dringend auf eine Wiederentdeckung und Neubewertung.