Über die kaleidoskopische Dylan-Approximation „I’m Not There“ von Todd Haynes.
Pat Garrett ist alt geworden. Lange zurück liegen die Zeiten seiner heroischen Gunfights. Heute ist er ein Mann für’s Grobe, der im Auftrag eines Straßenbauunternehmens die Bevölkerung eines Westernstädtchens vertreiben soll, um den Weg freizumachen für den Fortschritt. Oder so ähnlich. Es ist nicht nötig, jedes Rätsel in I’m Not There zu lösen, auch wenn der Ort, in dem diese Episode des Films spielt, Riddle heißt. Während Garrett zur aufgebrachten Bevölkerung spricht, erblickt er in der Menge plötzlich einen Mann in der Maske eines Possenreißers, der ihm bekannt vorkommt. Dieser fordert ihn heraus, hält ihm die Perfidie seines Handelns vor Augen: Dass er im Namen des Geldes die Gesellschaft verrät, dass er ein Milieu, das sich in seiner hinterwäldlerischen Behaglichkeit eingerichtet hat, zum Tanz vor dem Goldenen Kalb verführt. „Wer bist du?“, fragt Garrett. „Wie ist dein Name?“
Als der Narr die Maske abnimmt, huscht ein Schatten des Erkennens über das Gesicht des greisen Sheriffs: Dieser Mr. B., gespielt von Richard Gere, mag wohl Billy the Kid sein und damit an Bob Dylans Auftritt im Western von Sam Peckinpah erinnern. Es ist nur der Bruchteil einer Sekunde, in dem Erinnerung und phantasmatische Projektion in der Mimik des Alten zusammenfallen. Ein Moment, in dem die Zeit stillzustehen scheint, eine Fermate des Seins, in die sich die verdrängten und nicht gelebten Anteile möglicher existenzieller Entwürfe in die ontologische Leerstelle hineindrängen. Man darf dazu die Zeilen aus All along the Watchtower mitsummen: „There must be some kind of way out of here / Said the joker to the thief“.
Wie in einer Nussschale enthält dieses kleine Bruchstück aus einem megalomanen filmischen Puzzle einige Schlüsselelemente zur Dechiffrierung von I’m Not There: Erinnerung als Trugbild und Epiphanie, Mythos als Möglichkeit, die leere Mitte eines hypertrophen Künstlerselbst mit Narrativen zu möblieren, filmisches Zitat als Versuch, in der Mimesis Epochen-Echos sichtbar zu machen und gleichzeitig Distanz zu gewinnnen.
I’m not there von Todd Haynes ist einer der Filme, über die schon im Vorfeld viel gemutmaßt, spekuliert und geschrieben wurde. Man raunte einander zu, dass dieses Biopic to end all biopics sechs Darsteller aufbieten würde, um der schattenhaften und enigmatischen Persönlichkeit Bob Dylans gerecht zu werden. Man sprach von einer kühnen Konstruktion, in der jede Form von erzählerischer Kontinuität und inhaltlicher Konsistenz durcheinandergewirbelt werde, man verglich den Film voller Allusionen, Registerwechsel und Zitaten von Fellini über Richard Lester (Help) bis zu Sam Peckinpah mit Finnegan’s Wake. Und Todd Haynes, der Semiotiker unter den Filmemachern, mit allen postmodernen Laugenbädern eingeseift und schon zum Frühstück intertextuell kommunizierend, gab sich alle Mühe, noch weitere semantische Bricketts zum Bau seines cineastischen Elfenbeinturmes beizutragen: Es sei schon um Dylan gegangen – einerseits. Andererseits könne man den Film auch als Queste verstehen, als Reise ins Reich der Finsternis des eigenen Ichs und als Versuch, den traumatischen Kern des kollektiven Erlebens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzusprengen. „Ich bin mir nicht sicher, ob das Drehbuch wirklich einen Sinn ergibt“, sagte Cate Blanchett, die dem Charakter Jude Quinn seine androgyne und transparente Präsenz verleiht, „und ob Todd das überhaupt will“.
Bevor man allerdings das große Wort von der Sinnvernichtung in den Raum stellt und das Gleiten der Signifyer zwischen Mythos und Geschichte, zwischen Form und Inhalt, zwischen biografischen Daten und frei erfundenen Meta-Erzählungen beschwört, sollte man sich den Film ein zweites Mal ansehen. Wer sich bereits eingestellt hat auf extreme Zeitraffer-Sequenzen, in denen Weltgeschichte zu einem Bildertaumel in einer Filmsekunde verdichtet wird, wer die zahlreichen Rückblenden und Zukunftsausblicke schon kennt, die permanenten Wechsel in filmischer Ästhetik, Erzählform und Rhythmus, kann es sich erlauben, einen Röntgenblick auf das Geschehen hinter der flickernden und flackernden Oberfläche zu werfen. Auf eine nur geahnte oder geträumte existenzielle Spur, die ein möglicherweise realer Bob Dylan durch den Metatext eines aus kollektiven Erinnerungen, Utopien, Enttäuschungen und Heilsversprechen gewebten Seinsdramas gezogen hat.
Und da fällt das komplexe und in tausend narrative Seitenarme sich verzweigende Licht- und Schattenspektakel auf eine ziemlich simple These zusammen: Ich ist ein anderer, und selbst Dylans Geist noch mehr als eine Person. Der gute Schizo als ektoplasmische Präsenz, die mit ihren magischen Fingerkuppen das Leben der Menschen zart berührt wie ein Schmetterlingsflügel und dann wieder in die unendlichen Weiten der Kontingenz entschwindet. Vielleicht ist man danach ärmer als zuvor, denn man hat den Blütenhauch der Hoffnung gespürt und im trugbildhaften Walten des Gestells eine subtile Anrufung des Authentischen erlebt. Vielleicht aber genießt man den Surplus, der sich als raues Kratzen der Stimme jenseits von Sprache und Kommensurabilität artikuliert und in seinem puren Da-sein Möglichkeitsräume aufschließt.
Um seinen wie eine Schlange sich häutenden Über-Dylan durch eine Serie von sechs Inkarnationen zu deklinieren, greift Todd Haynes auf die hinlänglich bekannten Parerga und Paralipomena, auf real existierende filmische Dokumente, die Songs und die mehr oder minder glaubwürdig überlieferten biografischen Eckdaten zurück. Wobei das Fest für Dylanologen darin besteht, zu vergleichen, ob die vom Regisseur mit Akribie und Gespür für Körnungen, Tonfälle, Gesten und versteckte Anspielungen erstellten Re-Inszenierungen von Szenen aus beispielsweise Don’t Look Back (D. A. Pennebaker) oder The Other Side of the Mirror (Murray Lerner) akkurate Wiedergaben von Originalvorlagen sind oder sich Digressionen, freie Ausschmückungen und mythische Überhöhungen erlauben.
Die Konstruktion einer Differenz zur Bestimmung der Realitätsdichte zwischen scheinbar verbürgtem Faktum und palimpsestartigen Überwucherungen durch Gerüchte, Spekulationen und Projektionen des Imaginären, wird am deutlichsten in jener Szene aus dem Newport-Auftritt von 1965, wo der elektrifizierte Dylan sein Folk-Publikum mit Rocksongs und Dezibel-Attacken verstört. In Lerners Doku sieht man, wie die Sache weitergeht: Dylan verlässt die Bühne, wird aber vom Publikum zurückgerufen. Er stimmt eine heisere Version von Mr. Tambourine Man an und die aggressionsgeladene Szene löst sich in anakreontischem Getändel und heiterem Selbstgenuss auf. I’m Not There dagegen zeigt das scheinbar authentisch-grobkörnige Bild eines enragierten Pete Seeger, der nur mit Mühe davon abgehalten werden kann, das Stromkabel mit einer Axt durchzuhauen. Dieser populäre Mythos überwuchert seit Jahrzehnten das wesentlich unspektakulärere reale Geschehen. Todd Haynes habe sich in diesem Fall für die John Fordsche Strategie „Print the Legend!“ entschieden, schrieb Jim Hoberman in der Village Voice.
Und so funktioniert der ganze Film: Er veranstaltet ein elaboriertes Glasperlenspiel zwischen Mythos und Wirklichkeit, zwischen empirischer Akkuratesse und narrativem Wildwuchs, zwischen Beschleunigung und Stillstand. Er konstruiert ein gewaltiges Lebens-Puzzle, dessen Teile allerdings nicht zusammenpassen, sodass immer ein Überschuss oder ein Mangel entsteht. I’m Not There ist ein Exzess der Binarismen, die sich mal unversöhnlich gegenüberstehen, um dann in einer dialektischen Volte neue Amalgame zu bilden, die, hinter Schleiern aus Täuschungen und Metafiktionen, Anschlussstücke an ein lebbares Anderes aufblitzen lassen.
„Who are you, Mr. Dylan?“, heißt es in Jean-Luc Godards Masculin-Féminin. Die vorläufige Antwort, die Todd Haynes in I’m not there auf diese Frage versucht, wäre: eine Maske hinter der Maske hinter der Maske.