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Schwedische Stummfilmschule

Schwedische Stummfilmschule

Die Natur der Dinge

| Gerhard Midding |
Eine groß angelegte Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum widmet sich dem hierzulande so gut wie unbekannten schwedischen Stummfilmkino.

Den heutigen Zuschauern, deren Sinne durch die Alles-ist-möglich-Virtuosität des Digitalzeitalters doch etwas blasiert geworden sind, mag es schwerfallen, nachzuvollziehen, welch rasante Fortschritte das Kino in seinen Anfangsjahren machte. Im Takt mit den technischen Innovationen wuchsen die Ansprüche der Zuschauer an das neue Medium mindestens ebenso schnell.

Das naive Staunen machte bald der Ungeduld Platz. Von dem Moment an, wo sich die Kamera bewegen konnte, durfte sich die neue Kunst nicht mehr in den Kulissen der alten aufhalten: Die flachen Bühnenhintergründe des frühen Erzählkinos mussten abgelöst werden durch plastischere Szenerien, die der Forderung nach Glaubwürdigkeit genüge taten. Es ist staunenswert, welch komplexe erzählerische Zuständigkeiten das schwedische Stummfilmkino schon in den 1910er Jahren der Landschaft und der Witterung anvertrauten. Die Natur ist in den Filmen von Victor Sjöström und Mauritz Stiller Schicksal; bang vertrauen die Regisseure ihre Figuren deren Urteilsspruch an.

Die Natur ist nicht nur ein Fluchtpunkt aus der Intoleranz, der Enge des schwedischen Puritanismus. Auch in ihr sind die Charaktere seinen Geboten unterworfen, ringen mit den eigenen Instinkten. Die Weite der Landschaften birgt ein Versprechen von Reinigung und Erlösung. Das Ambiente ist hier mehr als ein bloßer Schauwert, der als Spiegel der Leidenschaften fungiert. Das Zurücklegen einer Wegstrecke in widriger Umgebung gerät zur Möglichkeit, die Wahrheit über sich selbst zu erfahren.

Das verfemte Liebespaar in Sjöströms Berg-Ejvind und seine Frau (1918) findet in den Bergen Zuflucht in einer strengen Idylle, einem säkularen Paradies. Die Kamera entdeckt uns eine vielgestaltige Lebenssphäre. Die Totalen gewähren atemraubende Ausblicke in die Tiefe und Weite der Landschaften. Flussläufe weisen in die Ferne, schüren eine Sehnsucht nach Freiheit. Die Szenerie ist eher majestätisch als erhaben. Die Bildkompositionen setzen sie stets in enge Beziehung zu den Figuren, erkunden sie als Terrain der Prüfung und Bewährung: Der schwedische Stummfilm hat dem Kino die Seelenlandschaften erschlossen.

Schweden macht Schule

Es war eine jener seltenen, kostbaren Epochen, in denen sich die Umstände verschworen und die richtigen Talente zusammenfanden, damit eine eher kleine Kinematografie auf einmal Weltgeltung errang. Als neutrales Land konnte Schweden während des Ersten Weltkriegs seine Produktionen freizügiger exportieren, als es der deutschen, französischen, italienischen und später auch der amerikanischen Konkurrenz möglich war.

Der visionäre Produzent Charles Magnusson hatte bereits einige Jahre zuvor die Weichen gestellt, als er die Bühnendarsteller und -regisseure Sjöström und Stiller engagierte. Ihre Filme konnten an eine vitale literarische Tradition anknüpfen – Henrik Ibsen und vor allem Selma Lagerlöf waren wichtige Stofflieferanten – und setzten gleichzeitig technische und erzählerische Standards. Das vergleichsweise verhaltene Spiel und der bruchlose Übergang von Studiodekors zu Außenszenen wurden allerseits gerühmt. Die Mehrfachbelichtungen in Sjöströms Der Fuhrmann des Todes (1921) waren der eindrucksvolle Beleg einer ungekannten visuellen Phantasie. Eine zentrale gestalterische Kraft ist der Kameramann Julius Jaenzon, der einzigartig empfindsam war für die je eigenen Lichtstimmungen der Landschaften und Interieurs. Vertikale Linien begrenzen immer wieder den Bildraum in seinen Innenszenen, oft drängen sich Requisiten und architektonische Barrieren zwischen die Figuren, zumal zwischen Liebespaare, deren Glück fraglich ist.

Das schwedische Filmwunder löste in dem knappen Jahrzehnt zwischen 1914 und 1923 nicht nur Bewunderung bei Zeitgenossen wie F. W. Murnau aus; auch in der Filmgeschichte hat es nachhaltige Spuren hinterlassen. Kaum vorstellbar, dass Fritz Lang bei Die Nibelungen und Sergej Eisenstein bei Iwan der Schreckliche nicht die Choreografie der Schlussszene von Stillers Herrn Arnes Schatz (1919) in Erinnerung hatten. Ernst Lubitsch hat Stillers Gesellschaftssatiren, allen voran Erotikon (1920), als Inspiration für den Komödienstil zitiert, den er später in Hollywood verfeinerte. Julien Duvivier hat ein Remake von Der Fuhrmann des Todes gedreht, Aki Kaurismäki eines von Stillers Johan (1920). Und Ingmar Bergman pries Sjöström stets als sein wichtigstes Vorbild.

Ungleiche Brüder

Die Retrospektive des Filmmuseums öffnet den Blick auf diese Epoche über die beiden dominierenden Regisseure hinaus – etwa auf Georg af Klercker, der als Meister des atmosphärischen Erzählens zu entdecken wäre. Aber es beweist dennoch kuratorische Redlichkeit, dass Sjöström und Stiller im Zentrum der Filmreihe stehen. Georges Sadoul stellt in seiner Geschichte der Filmkunst die „schwerfällige Kraft“ und „Männlichkeit“ von Sjöström dem „empfindsamen, raffinierten, fast femininen“ Stil seines Freundes Stiller gegenüber. Gleichviel, ob der französische Historiker um Stillers Homosexualität wusste – der Vergleich zwischen dem begehrlichen männlichen Blick in Berg-Ejvind und seine Frau und dem weiblichen in Johan bestätigt sein Diktum.

Victor Sjöström ist das bukolischere Erzähltemperament der beiden. Während bei ihm eine intuitive Nähe zu Landschaft und Natur herrscht, ist die Erzählhaltung des anderen die einer überwundenen Distanz. Der Blick des einen ist mystisch, erfüllt Gestein und Flora mit innerem Leben, der des anderen begreift die Natur als lyrische Eskapade. Mauritz Stiller hatte sich zunächst als Regisseur mondäner Komödien um nonchalante Frauen und verlegene Männer einen Namen gemacht. Die Künste spielen eine kardinale Rolle in seinem Werk. Thomas Graals bester Film (1917) ist einer der ersten Filme, die das eigene Medium reflektieren. Die Drehbücher, die sein Titelheld schreibt, erinnern übrigens an die Melodramen Sjöströms.

Das Fremdsein ist eine zentrale Erfahrung in Stillers Filmen. In Hollywood, das ihn und seinen Kollegen bald anwarb, ist er, im Gegensatz zu Sjöström, nie recht heimisch geworden. Sjöströms The Wind belegt, wie sehr er dort seinem Talent treu bleiben konnte, die menschlichen Dramen tief in ihrer Umgebung zu verwurzeln. Stiller, der eher als Anhängsel denn als Mentor seiner Entdeckung Greta Garbo nach Amerika kam, hat dort immerhin ein Meisterwerk gedreht: Hotel Imperial mit Pola Negri, auch dies eine Geschichte um das Gefühl des Fremdseins im eigenen Land. Schade, dass der Film in der ansonsten vorzüglichen Auswahl fehlt.