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Harun Farocki
Harun Farocki. Foto: Österreichisches Filmmuseum

Harun Farocki

Die Arbeit des Autors

| Jörg Becker |
Harun Farocki (1944–2014), bekannt als Filmemacher und Videokünstler, hat als Autor begonnen, der er immer geblieben ist, über fünfzig Jahre lang. Die ersten drei Bände aus einer groß angelegten Edition seiner Schriften sind erschienen, mit deren Herausgabe sein schriftstellerisches, kritisches, essayistisches Erbe gesichert wird.

Mir sind Personen bekannt, die in Farockis Autobiografie-Fragment „Zehn, zwanzig, dreißig, vierzig“ zuerst das Register aufgeschlagen haben auf der Suche nach ihrem Namen und, weil sie sich nicht finden konnten, das Buch, wenngleich uneingestanden, enttäuscht beiseite gelegt haben. Das hätte man sich denken können. Der Bekanntenkreis von Harun Farocki war groß, und zahlreich das Erscheinen zu den Voraufführungen seiner Filme für Beteiligte und Freunde. Da kann man nicht jeden auftreten lassen. Doch zwischen den Zeilen, den Absätzen, den Dekaden steckt außerordentlich viel Handlung, und dann ist die Veröffentlichung der Schriften ja auch auf Fortsetzung angelegt.

Ganz großes Kino
Viele von Harun Farockis Texten sind Reflexionen zum Kino, Beispiele unbändiger Ideenproduktion, sein Schreiben ist von seinem filmischen Werk nicht zu trennen. Eine Ausnahme bilden die Arbeiten zu einer Autobiografie, die er seit 2004 in Abständen wiederaufgriff, ein Text, der unbeendet blieb und von der nur der engste Kreis überhaupt gewusst hat. Angeordnet ist er nach Lebensjahrzehnten, ausgehend von den „runden“ Geburtstagen, abbrechend nach vier Dekaden.

Gerade das scheinbar Unfertige an manchen Stellen, die Absätze zwischen erinnerungsintensiven Betrachtungen, die Bögen und Sprünge in der Erzählfolge des eigenen Lebens, aus präzisen Szenenbildern, pointierten Menscheneindrücken, dem Blick fürs Detail und dem genauen Wiederempfinden eines Gefühls, am intensivsten wohl aus der Kindheit – alles das verleitet dazu, auf „das Filmische“ zu kommen, die unerfindlichen Schnitte in der Assoziationsweise des Erinnerns, über deren tiefes Eintauchen und Ausentwickeln das einmal Erlebte in Bildern fixiert ist. Als „Lebenserinnerungen, die in eine éducation sentimentale der deutschen Nachkriegsgeschichte und der Geschichte Westberlins eingewoben sind“ hat Marius Babias im Vorwort dieses autobiografische Fragment bezeichnet; kurz: „Ganz großes Kino“.

Nachtspaziergänge
Eingangs beschreibt Harun Farocki seinen Vater, einen indischen Arzt, als launenhaften Tyrannen, einen Patriarchen, „der stets wie von der Kanzel predigte“, und vor dem man sich fürchten musste, während die Mutter zu den Kinder „von Gleich zu Gleich“ sprach, bisweilen wie in einer Verschwörung – „Manchmal sogar mit gesenkter Stimme, obwohl er gar nicht im Haus war und das Tuckern seines Zweitakters seine Rückkehr stets so deutlich anzeigte, wie das Glöckchen am Hals der Katze die Mäuse warnt.“ Man liest vom bürgerlichen Leben an der Rheinallee in Bad Godesberg, von der Jesuitenschule und den Lehrern mit Bildungsideal, die ihn gern geschlagen haben, Kindheitserfahrungen als erste grundlegende Sozialstudien, etwa am Beispiel von Klassenkameraden und deren Herkunft, an subtilen Indizien aufgefasst – „Andere Schüler verstanden es, die Lehrer sozial zu entwaffnen. Der Lehrer sprach sie streng an, aber sie wussten so zu antworten, dass es klang, als würde hier über die Höhe eines Trinkgeldes an den Hauslehrer verhandelt.“ – Von Verwandten hatte der kleine Harun ein Spielzeugauto nach Indonesien geschickt bekommen – die Familie lebte im Nachkrieg für ein paar Jahre in den Tropen –, mit dem er nach Deutschland zurückkehrte, und in der haptisch wirkenden Genauigkeit, wie er es beschreibt, bekommt man den Eindruck, er habe es vor sich, in allen Einzelheiten, und steuere es noch einmal über den Parkettfußboden des Wohnzimmers – „ein wunderbares Ding“. – „Straßenklugheit“ muss er sich in der Bundesrepublik erst aneignen, in Hamburg-Langenhorn, wohin die Familie umgezogen war, bricht er immer wieder auf zu heimlichen Nachspaziergängen mit Schulfreunden, mit Genuss an dieser eigenen Vorstellungswelt im Gegensatz zur geläufigen Welt, die sich in ihren Tagesabläufen selbst bestätigt. Er erinnert sich an die Tagträumereien des Häuseranschauens, noch in „begriffsloser In-Augenscheinnahme“ des Heranwachsenden, wendet aber ein: „Ich war von all dem Häuseranschauen nicht klüger geworden – Sartre sagte einmal, er habe Tausende von Filmen angeschaut und sei dabei nicht klüger geworden.“

Westberlin
Wenige Tage nach seinem 16. Geburtstag läuft er erstmals von zuhause weg. Als er mit 18 nach Berlin verschwindet, wird auf Betreiben der Eltern polizeilich nach ihm gesucht. „Ganz Westberlin war damals [1962] eine Armutsgegend.“ Farocki erinnert sich an zahllose Jobs, angefangen mit der Ullstein-Druckerei, der Kindl-Brauerei in Neukölln, Kohlenschleppen etc., Tagelöhnerei, vermittelt von Sklavenhändlern in Hinterzimmern. Aber auch im Café Steinplatz, Hardenbergstraße, damals laut Farocki ein „Stützpunkt der Gammlerbewegung“, werden, vorwiegend an Studenten, unter der Hand Jobs vermittelt. Orte wie dieser seien das „Gegengift“ gewesen „zu jenem idiotischen Leben“, auf das man ihn verpflichten wollte. „Im Steinplatz habe ich meinen ersten Situationisten kennengelernt.“ Das Vorhaben, Schriftsteller zu werden, lässt sich nur allzu schwer erarbeiten, weil sich zeigt, dass die Überlebensarbeit zu aufwendig ist. „Ich war ein Schulversager“, bekennt er im Zusammenhang seiner Zeit am Abendgymnasium, auf dem er das Abitur nachholt. Daneben hat er bereits einen etwas geregelteren Job beim Aufbau und als Wochenendkellner des „Big Apple“, der wohl ersten Diskothek Westberlins; hier und im „Eden Saloon“ betreibt er Milieustudien und erkundet tribalistische Verhaltensregeln, studiert die spezifischen Merkmale und Riten der Cliquen, in denen er verkehrt. Als er eine Aufführung des Theaterensembles Living Theatre sieht – „The Brig“ –, ein Stück, das gänzlich undramatisch das Reglement im Tagesablauf eines US-Militärgefängnisses nachspielt, findet er darin Brecht und Pop-Art vereint, was ihn zu einem Stück über das „Big Apple“ inspiriert, und hier ist bereits ein Interesse angelegt, das sein Augenmerk als Filmemacher lenken wird: „Mich begeisterte, dass es hier nichts weiter gab als die kondensierte Wiedergabe eines Vorgangs.“

In Paris lebt Farocki mit einem Pflastermaler unter Clochards, mit einer Straßenmalerin geht er in Westdeutschland „auf Tournee“, und 1963 gelingt es ihm bereits, seinen ersten Rundfunktext zu verkaufen, weil ein Redakteur von Radio Bremen bemerkt, dass er „eine Prosa“ schreiben kann. In Berlin beginnen die Arbeiten als freier Autor im Kulturbetrieb mit der Beobachtung des Pförtners am Hauptportal der Sendeanstalt (Sender Freies Berlin/SFB, heute: Rundfunk Berlin Brandenburg/RBB), um herauszufinden, nach welchen Gesetzen es möglich ist, ohne Haus- bzw. Besucherausweis das „Haus des Rundfunks“ an der Berlin-Charlottenburger Masurenallee zu betreten. Die angewandte Intelligenz, sich einen Zugang zu einer Kulturinstitution zu verschaffen, ist mindestens so wichtig wie die, welche der Qualität des „Kulturellen Wortes“ (Hörfunkabteilung) zukommt, das man ihr liefert, diese materialistische Lehre lässt sich daraus ableiten; überdies bleibt diese Intelligenz von jener nicht unberührt. Gegen die Entmutigungen des Kulturbetriebes scheint Farocki frühzeitig Immunkräfte entwickelt zu haben, viele bewunderten diese Eigenschaft, einen besonders initiativen kämpferischen Elan, der, gerade die Eröffnung von Produktionsmöglichkeiten betreffend, von ihm ausging.

Poesie der Orte
Von großem Reiz ist die topografische Genauigkeit, mit der Farocki seine Orte und Wege, Straßennamen und „Stützpunkte“ seines Lebens im Westberlin der Mauerzeit benennt und nachzeichnet. Die Poesie der Orte und ihrer Geschichte scheinen in Farockis Autobiografie dem Verhältnis verwandt, das der Romanautor Patrick Modiano zum Schauplatz Paris besitzt. Der Teich mit dem trüben Wasser (am Volkspark Wilmersdorf), neben dem er die Schulpausen während der Abendschule verbringt, sieht man vor sich, auch das U- und S-Bahnnetz, deren Haltestellen der Freund einmal am Anhalter Bahnhof beim nächtlichen Warten auf den Zug auswendig gelernt hatte. Später wird Farocki das Stadtbild mitgestalten, wenn auch nur über das eigene Guerilla-Marketing, einer „Sprühdosen-Kampagne“, zunächst für den Film Zwischen zwei Kriegen (1977), fünf Jahre darauf für Etwas wird sichtbar. Im Stadtbild wirken die an belebten Verkehrswegen hingesprühten Titel wie ein politischer Aufruf. Die Dosen setzt er bei der Steuererklärung ab.

Aus Recherchegründen führt Farocki in den Siebzigern Gespräche mit Altkommunisten, die die NS-Zeit überlebt hatten und die nach dem KPD-Verbot in der BRD gewissermaßen im Untergrund lebten. Dann bekennt er sich aber auch zu einem „Tagtraum“ während eines längeren New-York-Aufenthalts 1973, bei dem er Einblick in die dortige Werbefilmproduktion erhält – dem Traum davon, er könne in dieser Branche Filme machen. In Berlin ist es die historische Ebene der Weimarer Republik, die ihn an der Stadt interessiert und an der er ansetzt. Als er das Fußballspielen wieder aufnimmt, ist das Vereinsleben bei der Neuköllner Tasmania 73 – der „Prominentenelf“ allerdings, in der er anfangs mit Wolfgang Neuß in einer Mannschaft spielt – der einzige Kontakt außerhalb der Polit-Bohème, in der er sich sonst bewegt („Tasmania war meine Feldforschung, und ich studierte dort den Arbeiter der Metropolen“). Seine Vorliebe für Altbauten der Vorkriegszeit können die Mitspieler nicht verstehen, sie bevorzugen allesamt den Neubau, der für sie Wohlstand und Komfort signalisiert. Gegen Ende von Farockis autobiografischen Aufzeichnungen überwiegen Kinderszenen, detailreiche, aufmerksame Betrachtungen aus den ersten Jahren mit seinen Zwillingstöchtern Anna und Lara, und die selbstbestimmte Sphäre dieser Eigeninitiativ-Kinderläden, direkte Abkömmlinge der 68er-Bewegung, führt auf einmal vor Augen, wie stark innerhalb weniger Jahre das Politische das private, familiäre Leben, in dem Kinder aufwachsen, verändert hat.

„Wir müssen Bausteine produzieren“
„Was getan werden soll // Wir wollen eine Einrichtung schaffen, die zu Anfang einfach ein Büro zur Anleitung und Koordination einiger Dokumentarfilmarbeiten ist. / In letzter Konsequenz eine (die) nationale Bilderbibliothek. / Herstellend Material zur Untersuchung der Gegenwart, zukünftig der Vergangenheit. / Diese Einrichtung soll sammeln, das heisst sicherstellen, was es gibt und produzieren, das heisst initiieren, was es noch nicht gibt. (…)“

Ende 1975 in die elektrische Schreibmaschine getippt hatte Harun Farocki diesen Aufruf zum Zusammenschluss von Arbeitenden, emphatisch einsetzend aus dem kämpferischen „Wir“ heraus, getragen vom handlungsinitiativen Pathos aus Lenins Programmschrift „Was tun?“ (1902), das bereits aus Jean-Luc Godards Manifest „Que faire“ (1970) widerhallte. Mit diesem seinerzeit unveröffentlichten, aber kursierenden Text endet Band 3 der Schriftenausgabe unter dem Titel „Meine Nächte mit der Linken“, in dem, soweit bekannt, alle zwischen 1964 und 1975 verstreut publizierten Texte von Farocki versammelt sind, entstanden zwischen seinem 20. und 32. Lebensjahr.

Die Idee eines Dokumentationszentrums, das zur filmischen Kooperation beiträgt, war dazu angelegt, Projekte zu verbinden, im Sinne von Farockis „Verbundsystem“ aus Recherchen und Vorarbeiten – in den siebziger Jahren etwa zum Thema Bergbau und Stahlindustrie sowie deren Energieverbund, Basis der Allianz zwischen deutscher Großindustrie und aufkommendem Faschismus –, die zu seinem Film Zwischen zwei Kriegen (1978) führten. Er habe die Denkfigur des „Verbundsystems“ auf die eigene Arbeitsweise bezogen, firmenähnlich, mit der Strategie, Arbeiten zu verbinden, so dass möglichst wenig Energie verloren geht. („Notwendige Abwechslung und Vielfalt“, „Filmkritik“,Nr. 224, August 1975) So finden sich in der „Filmkritik“ auch Besprechungen geschichtswissenschaftlicher Literatur – etwa „Aus dem Leben eines Buches“ über George W. Hallgarten: „Imperialismus vor 1914. Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem ersten Weltkrieg“ („Filmkritik“, Nr. 227, Nov. 1975), ein höchst umfangreiches Werk, das vermutlich im Verbund jenes Filmprojekts ein Material darstellte.

Eine bekannte Welt
Aus jener Idee eines Zusammenschlusses hat sich keine Einrichtung begründet; es ist eine Denkmöglichkeit geblieben, unzumutbaren Verhältnissen für eine verantwortliche Bilderarbeit eine „Selbstorganisation von Kritik und Wissen“ seitens der vielen Bildproduzenten-Kleinunternehmer entgegenzustellen. „Was man Dokumentation nennt, das zeigt die Welt so, als wäre sie bekannt, was dann dazu führt, dass man nach ein paar Jahren schon nicht mehr erfahren kann, wie sie ausgesehen hat. Es müssen aber Bilder gemacht werden, mit denen schon jetzt die fremde Welt entdeckt wird und die Gegenwart Geschichte wird. Wir müssen Bausteine produzieren. Zuerst müssen wir entwickeln, wie man diese Bausteine gewinnt und dann müssen wir zusammensetzen und auseinandernehmen.“ (Farocki) Wenngleich vierzig Jahre später bestimmte Standards der Bildbearbeitung gegeben sind, ist Farockis Grundlagenkritik am vorherrschenden Begriff des Dokumentarischen, es zeige die Welt, „als wäre sie bekannt“, die Basis dafür, ein verfremdendes Geschichtlichmachen der Gegenwart zu fordern. Bewahrende wie projektive Bilderarbeit sollten in forschender Kollektivität zusammenkommen. Bilderarchive und künstlerische Forschung: die Ideen dieses frühen Arbeitspapiers scheinen in nahezu alle Phasen von Farockis Werk enthalten: von der Bilderlehre, die er seit den frühen 70ern betrieb, der Idee visueller Alphabetisierung, über welche man Bilder lesen und komponieren könne, als besäßen sie eine Syntax und Grammatik, die gelernt werden sollten, die „Telekritik“, Untersuchung der üblichen Feature-Bebilderung aus dem Fernsehen, über den ‚Bilderschatz‘, dem Konzept einer Enzyklopädie filmischer Ausdrücke, seit den 90ern, bis zu jener behutsamen Bilder-Pädagogik, die im „Nebeneinander“ (siehe die mumok-Publikation von 2007 zu den Installationen Auge/Maschine I-III [2000-2003] und Vergleich über ein Drittes [2007]) ausgewählte, analoge Filmszenen vorführt. Die Entdeckung einer fremden Welt, das Auffinden einer verfremdeten Gegenwart schließlich eint so gut wie all seine dokumentarischen Arbeiten.

Aus Interesse an den Dingen
Die seit Ende 2017 bisher erschienenen Bände von Farockis „Schriften“ sollen seine umfangreiche Textproduktion zwischen 1964 und 2014 so vollständig wie möglich zugänglich machen. Dabei dürften Farockis auktoriale Anfänge im Feuilleton, die frühen Beiträge für das „Spandauer Volksblatt“, einem Blatt mit einem linken, gegen den Antikommunismus der Springer-Presse gerichteten Profil, und die unter Pseudonym – Franz Putz – publizierten Artikel in der „Zeit“ selbst für Eingeweihte neu sein.

Während der knapp fünf Jahrzehnte seiner Zeit als Filmemacher und Videokünstler hat Harun Farocki kontinuierlich geschrieben – Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Hörfunkskripte in erstaunlichem Ausmaß. Die meisten Texte verfasst der Autor als Rezipient, lesend und lernend, in Auseinandersetzung. Sein Interesse an den Dingen habe die Darstellung geleitet. Aneignung und Verarbeitung von Wissen aus prüfender Haltung heraus, die sich in Textform, akustisch und vor allem audiovisuell zeigte und auf diesen verschiedenen Spuren überkreuzte, einander zuarbeitete, sich aus Subsistenznotwendigkeit des unter prekären Bedingungen tätigen „freien Mitarbeiter“ heraus mehrfach auswertete.

Operative Sprache / Bilder
Dass die Feuilletonleiterin dem zwanzigjährigen Farocki, der im „Spandauer Volksblatt“ etwas unterbringen wollte, mit dem Vorschlag, doch etwas über ein Müllhalde zu schreiben, abwimmeln wollte und daraufhin einen poetischen Artikel erhielt – „Glanz und Elend auf vier Rädern“ –, der auch von Sergej Tretjakows „Biographie des Dings“ inspiriert war, das beschäme sie bis heute, sagte sie dem Herausgeber Volker Pantenburg (siehe sein Nachwort „Die Arbeit der Autorschaft“). Farocki geht zu jener Zeit regelmäßig in die „Filmbühne am Steinplatz“, doch Film und Kino spielt zunächst in seinen Zeitungstexten keine Rolle. Anlass zum Schreiben war etwa die Marketing-Idee des Suhrkamp-Verlags, seine neu gestartete Edition mit einem Regenbogen-Umschlagdesign auszustatten. Farocki befasst sich mit der Redaktionspraxis der Springer-Zeitungen: „Manipulierte Wahrheiten“, schreibt über die „Jugendweihe“ in der DDR als eine säkularisierte rite de passage, dann rezensiert er auch schon ein Buch, das ihn Jahrzehnte lang begleiten wird: Roland Barthes‘ „Mythen des Alltags“ (1963 erschienene Teilübersetzung der „Mythologies“ bei Suhrkamp); daraus überträgt er die Idee einer „operativen Sprache“, die ganz im Vollzug der Arbeit aufgeht und sich nicht darüber erhöht, auf Bilder. Im Kontext der Frage nach einer „neuen Kunst“ mit der Studentenbewegung, kurz danach „APO“ und im Nachhinein „1968“ genannt, erwähnt Farocki in seinem „Fragment einer Autobiografie“ eine Vorführung: „Als im August 1968 die Cinétracts in Berlin gezeigt wurden, waren Christian (d.i. Christian Semler, 1938-2013, damals guter Freund Farockis, 1968 im Vorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS, ab 1970 Mitbegründer der KPD-Aufbauorganisation/A.O.; J.B.) und ich ebenso enttäuscht wie das gesamte Publikum, das johlte und schrie. Die Cinétracts waren zwei bis vier Minuten lange stumme Kurzfilme zum Pariser Mai und meist aus unbewegten Bildern. (…) Möglicherweise waren wir enttäuschte Schlachtenbummler. Wir erlebten mit den Cinétracts zum ersten Mal, dass aus unserer Bewegung Filmkunst gemacht wurde. Wir ahnten, dass diese Filme darauf zielten, in Kinematheken und Museen gezeigt zu werden, wenn vom Pariser Mai nichts mehr übrig war. So solidarisch sie auch waren, sie waren nicht Teil der Bewegung – in der Terminologie von Barthes: Sie sprachen nicht die Bewegung, sie sprachen von der Bewegung. (Schriften, Band I, S. 143/144)

Diese Übertragung der Idee der operativen Sprache auf Bilder hat Konsequenzen für Farockis eigene Arbeiten der Zukunft, insbesondere für Beobachtungsfilme ohne jeden metasprachlichen Kommentar: spätestens seit Ein Bild (1983), der die Produktion eines Centerfolds des „Playboy“ verfolgt, über Rollenspiele, Bewerbungsübungen, Training für den Lebensalltag (Leben-BRD, 1990), Kredit-Verhandlungen um Venture Capital (Nicht ohne Risiko, 2004), dem Betrieb einer Beratungsfirma bis zur Vorführung von „Virtual Iraq“, einer Schauplatz-Simulation zur Behandlung traumatisierter Soldaten, auf einer US-Militärbasis (Ernste Spiele III: Immersion, 2009).

Harun Farockis Konzept der „operativen Bilder“/opératoires, findet sich besonders ausgeführt in der Auge/Maschine-Reihe (2000-2003), die aus distanzierter Neugier gegenüber Automatisierungsverfahren entstand. Im Zentrum des Films stehen die Bilder des Golfkriegs, die 1991 weltweit Aufsehen erregten. In den Aufnahmen von Projektilen im Zielanflug waren Bombe und Berichterstatter identisch. Gleichzeitig waren die fotografierten und die computer-simulierten Bilder nicht unterscheidbar. Mit dem Verlust des „authentischen Bildes“ wurde auch die historische Zeugenschaft des Auges aufgehoben. Es heißt, im Golfkrieg seien nicht neue Waffen zum Einsatz gekommen, sondern eine neue Bilderpolitik. Hier seien die Grundlagen einer elektronischen Kriegsführung geschaffen worden. „Der dritte Teil des Auge / Maschine-Zyklus soll die Materialien um den Begriff des operativen Bildes organisieren. Das sind Bilder, die einen Prozess nicht wiedergeben, die vielmehr Teil eines Prozesses sind. Schon die Cruise Missiles der achtziger Jahre hatten das Bild einer realen Landschaft gespeichert und nahmen beim Überflug ein aktuelles Bild auf, die Software verglich die beiden Bilder.“ (Farocki)

Lernprozesse aus Kritik
Von einer Reise nach Venezuela und Kolumbien bringt er Material mit für Radio-Features und „Zeit“-Artikel. In einer so genannten „Technologiekampagne“ versucht er die Zielgruppe der Ingenieure zu agitieren, und Passagen wie die folgende, aus dem Film Nicht löschbares Feuer (1969), werden einem nicht so schnell in Vergessenheit geraten: „Ein Darsteller sagt: Ich bin Arbeiter und arbeite in einer Staubsaugerfabrik. Meine Frau könnte einen Staubsauger gut gebrauchen. Darum nehme ich jeden Tag ein Einzelteil mit. Zu Hause will ich den Staubsauger zusammensetzen. Aber wie ich es auch mache, es wird immer eine Maschinenpistole draus. (…)“. Es ist der Film um die Produktion von Napalm (Dow Chemical) und dessen Einsatz in Nordvietnam, an dessen Schluss der Autor eine brennende Zigarette auf seinem Handrücken ausdrückt. – Aufgrund des Texts „Die Agitation verwissenschaftlichen und die Wissenschaft politisieren“ erhält Farocki eine Kolumne in der Zeitschrift „film“; mit Diagrammen, Tabellen und Schaubildern machen seine Texte die Verfahren von Agitation und Didaktik evident. Eine „Filmkunde“ bzw. „Sprache der Bilder“ wird 1970 geschrieben und gedreht. Ab Januar 1974 steht Farockis Name im Impressum der Zeitschrift Filmkritik – hier sei ein charakteristischer Farocki-Text aus der (späteren) Rubrik „Die Filmkritik geht ins Kino“ wiedergegeben, aus jenem Ressort, dem er bis zum Ende des Blattes sehr vieles, unverkennbar, beisteuern wird; als Maxime galt es, eine Filmkritik zu schreiben, um eine Idee zu produzieren (so steht es in einem von Farocki konzipierten Faltblatt, 1979). Charakteristisch sein scharfer Blick fürs zeitsymptomatische Detail, die Entlarvung einer Ideologie hinter modischen Zeichen und Jargons, die Betrachtung eines Films als Baustein für eine Ethnologie gegenwärtiger Verhältnisse aus verfremdendem zeitlichen Abstand:

Der lange Abschied – Entzauberung und reinstes Kino
Der Tod kennt keine Wiederkehr (The Long Goodbye) / Die Proletenfrauen lassen sich Frisuren machen, die man gesondert vom Kopf betrachten kann, Frisuren wie eine Mütze. Die betuchten Frauen rümpfen darüber die Nase und geben sich Mühe, Ausdruck des Gesichts mit dem der Frisur abzustimmen. Über beide können die Mädchen, die studieren dürfen, nur lachen. Sie tragen die Haare offen, als Haare. Die Ideologie des Materialen, Nessel vor den Fenstern, ungebeizte Türplatten für den Schreibtisch, Stahlregale für die Bücher. Nina von Pallandt trägt dazu luftige Kreationen aus dem India-Shop, im isländisch-nepalesischen Bauern-Look. Die Frisur hat in ihre Persönlichkeitsrechte nur soweit eingegriffen, daß er ihr auf der Höhe der Ohren etwa zwei Schnudeln mit der Brennschere gemacht hat. Was haben denn Mittelstandsfreaks in einer Geschichte von Chandler zu suchen? Außerdem rutschen offene Haare beim Spielen doch immer ins Gesicht, und Nina hat immer einen Finger frei, sie wieder hochzustreichen, damit man wieder das Gesicht sehen kann von der Frau, die mit dem Mann was gehabt hat, der das Buch geschrieben hat, das als die Memoiren dieses Milliardärs ausgegeben wurde.“ („Filmkritik“, Nr. 204, Dezember 1973)

[Exkurs: eine gefundene Fortsetzung:] Im Jahr 1986 nimmt Christian Petzold, damals noch Student an der Freien Universität Berlin, als Gast an einem Seminar bei Harun Farocki in der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin/DFFB teil. Man sieht den Film The Long Goodbye (USA 1973) von Robert Altman nach dem Roman von Raymond Chandler. „Ein Mann und eine Frau. Er ist Detektiv. Sie ist die Frau eines Schriftstellers, schön und blond. „Eine Blondine, wegen der ein Bischof sein Kirchenfenster eingetreten hätte“, übersetzt Hanns Wollschläger. Der Detektiv hat der Frau ihren Mann zurückgebracht, der ausgebrannt und erschöpft in einer Entzugsklinik dahinvegetiert. Die Frau bedankt sich beim Detektiv. Sie stoßen an, es ist Nacht, die Frau flirtet ein wenig. Draußen die Brandung des Pacific, es ist Nacht. Wir sehen die beiden jetzt von draußen, vom Meer her, durch die große Fensterscheibe. Und in der Reflektion in der Scheibe sehen wir das Meer, die Schaumkronen, die weißen Bänder der Brandungswellen. (…) Wir sahen Szene für Szene, Einstellung für Einstellung. Dann gingen wir wieder ins Kino und sahen den Film als Ganzes. Die oben beschriebene Szene hatte es Harun angetan. / Während der Detektiv und die schöne Auftraggeberin mit ihrem Drink im Salon stehen, sehen wir in der Fensterscheibe reflektiert das Meer. Und jetzt auch den Schriftsteller, mit Stock und Hund auf das Meer zuwanken. / Auf dem Schneidetisch erkannten wir, dass die Reflektion in der Fensterscheibe gar keine war, sondern ein Maskenbild. Wie in einem Splitscreen war es hinzugefügt. Ein Aufwand, den Altman betrieben hat. Er hätte parallel schneiden können: Die beiden im Salon, flirtend, trinkend. Der verzweifelt ausgebrannte Schriftsteller, allein, verlassen, auf dem Weg in seinen Tod. Aber er hat diese Parallele in einer Einstellung vergleichzeitigt. Harun schaute sich diese Einstellung immer wieder an. Er sagte dann, dass er glaubte, dass dieser Aufwand, den Altman da betrieben hat, ein Tribut an den Roman von Raymond Chandler ist. Denn dort würde sicherlich die Gleichzeitigkeit von Eros, die Flirtenden und Tod, der Suizid des Schriftstellers, beschrieben. (…) / Nach der Mittagspause kam Harun mit dem Roman zurück in den Seminarraum. Im Roman gibt es die Flirt- und Drink-Szene. Den Eros. Und es gibt den Selbstmord des Schriftstellers. Den Tod. Aber der Schriftsteller erschießt sich im Nebenraum. Sie hören den Schuss, unterbrechen den Flirt. Finden den Toten. / Kein Meer. Keine Fensterscheibe. Und Nacht war es auch nicht. / In der Literatur gibt es keine Gleichzeitigkeit. Es gibt Wörter dafür, ‚während‘, ‚im selben Moment‘. Aber die Gleichzeitigkeit ist nicht möglich. Der literarischste Moment des Films, der uns wie eine Verfilmung, eine Übersetzung vorkam, war reinstes Kino. / Das hat Harun gefallen. / Dieses erste Seminar, als Gasthörer, in dem Filme zerlegt, analysiert wurden. Besprochen, mit Texten flankiert, überreflektiert, entzaubert. Am Ende saßen wir im Kino und alles war reicher und verzauberter als je zuvor.“ (Christian Petzold: „Langer Abschied“. In: „Filmfunken. 50 Jahre Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin, dffb, 2017). – Farockis Sechs-Kanal-Installation mit dem Titel Fressen und Fliegen (2008), in der Szenen aus 38 Spielfilmen um das Motiv des männlichen Selbstmörders versammelt sind, enthält jene Szene aus The Long Goodbye, mit der Spiegelung, die keine ist.

Medienkritik
Anfangs prägt Farocki Filmkritik-Ausgaben mit Texten, in denen es um Arbeiten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geht, später kann er ganze Hefte zu eigenen Filmen konzipieren, Zwischen zwei Kriegen (11/1979) und Etwas wird sichtbar (1/1982), darin Recherchen und Auswertungen eingehen. Die „Telekritik“-Folgen im Westdeutschen Rundfunk – die ganzen 1970er Jahre über Farockis Anlaufstelle, ein Sender, der mit der Gründung einer Abteilung „Medienkritik“ sich selbst zu kritisieren vorgenommen hatte – sind darauf angelegt, „den eigenen Betrieb zu agitieren“ und liefern scharfe Einwände gegen die Phrasenhaftigkeit des Feature-Formats („Drückebergerei vor der Wirklichkeit“): „Feature bezeichnet eine bestimmte Art, Bild- und Ton-Informationen zu verwursten; mit einem Minimum an Informationstiefe ein Sujet zu vermarkten; mit einem Schwall von Halbheiten lieblos aufgenommene Bilder zuzudecken. (…)“ Dieser Lernprozess aus Kritik sollte in seine zukünftigen Produktionen weiterwirken; noch in einem 2013/2014 geführten Dialog mit Christa Blümlinger, „Ein ABC zum Essay-Film“ (2017 erschienen in der Schriftenreihe des Harun Farocki Instituts HaFI), erklärt er: „In einer Fernsehsendung mit dem Titel Der Ärger mit den Bildern stellte ich in etwa dar, dass in dokumentarischen Beiträgen im Fernsehen Bild und Ton in einem gänzlich unproduktiven Verhältnis stehen. (Der Ton ist der Herr, das Bild ist der Knecht. Dieses Verhältnis ist bestenfalls umkehrbar.) Ich habe damit nicht erreicht, dass die Fernseharbeiter ihre Direktoren absetzten. Ich habe aber etwas zu lernen begonnen: Wie lässt sich ein Film strukturieren, der nicht von einer Erzählung bestimmt wird? So kam ich etwa auf Ordnungen, die auf Vertov und Ruttmann zurückgehen, auf deren Querschnittfilme. Die beiden nahmen einen (fiktiven) Tag, fragten: Wie wachen die Menschen auf, wie begeben sie sich zur Arbeit und so fort. In Leben – BRD ordnete ich Szenen aus Rollenspielen, von der Geburt bis zum Tod. Ich kam auf das direct cinema, auf Dokumentarfilme, die Ereignisse aufgreifen, die sich wie ein Storyfilm wiedergeben lassen. Und um die Macht des Kommentars zu untergraben, suchte ich nach rhythmischen und kompositorischen Bild-Ordnungen.“

Ende 1970 antwortet Farocki auf eine Umfrage bei den ersten Jahrgängen – 1966/1967 – der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, er verdiene sein Geld u.a. mit Seminaren und Vorträgen – „Im Augenblick stelle ich einen Überblick über die Lehr- und Wissenschaftsfilm-Arbeit in der BRD zusammen. Mit Hartmut Bitomsky bereite ich eine Reihe populärwissenschaftlicher Filme vor. Ich lese in der Hauptsache Bücher über Sprache und Filmsprache. / Ich leide an dem allgemeinen Defizit bürgerlicher Bildung, künstlerischer und wissenschaftlicher. Ich bin Deutschlands schönster Rentner. / Ich gehe nachmittags mit meinen Kindern spazieren. / Bitte kommt und leistet mir dabei Gesellschaft.“

Close Reading – Dialoge
In den neunziger Jahren befasste sich Farocki, im Austausch mit Kaja Silverman, während seines Aufenthalts an der US-amerikanischen Westküste mit Godard. Allein im Titel – „Von Godard sprechen“ – klingen Nähe und Vertrautheit mit dem Werk an. In ihrem Nachwort zur Neuausgabe – „Harun Farockis California Years“ – bezeichnet Doreen Mende das Buch als „ein imaginäres Gespräch in nichtlinearer, das sich nicht allein im Schreiben, Umschreiben und Überschreiben formuliert“. Im selben Jahr wie die Originalausgabe „Speaking about Godard“ (New York University Press), 1998, wurde die deutsche Fassung im Verlag Vorwerk 8 in Berlin veröffentlicht, und diese Neuausgabe als integraler Teil der Harun-Farocki-Schriften-Edition ist eine außerordentlich verdienstvolle, eine exzellente Unternehmung. Zu lesen ist das Ergebnis eines „close reading“, ein Verfahren, das Farocki als Lehrmethode immer angewandt hatte, entstanden aus einer chronologischen Sichtung, die zu acht Dialogen über einzelne Filme führte (zwischen Vivre sa vie, 1962, und Nouvelle Vague, 1990). Die Dialoge lesen Theorie aus den Bildern heraus und tragen Theorie in sie ein. Einstellungsgenau werden einzelne Szenen erzählt, man spürt die unterschiedlichen Herkünfte der Beteiligten im Gespräch zwischen Filmtheoretikerin als und Filmemacher, deren Arbeit dialogisch verbunden ist durch das Kino, das ihre Sprachformen verknüpft. „Silverman und Farocki waren in den 1990er Jahren Arbeitskollegen, Liebespaar und, soweit es die geografische Situation zuließ, auch Lebensgefährten“, so Doreen Mende. „Von Godard sprechen ist deshalb auch das Sprechen eines Paares über Paare. Das Buch ist ein Resultat von Liebe, Wertschätzung und Leidenschaft. Etwa dreißig Jahre nachdem Farocki mit Kommilitonen die Deutsche Film- und Fernsehakademie besetzt und in ‚Dsiga Wertow Akademie‘ umbenannt hatte (…), führt Farocki im Gespräch eine filmpolitische Freundschaft mit Godard fort. Den Gesprächen mag Farocki auch die befreiende Wirkung innegewohnt haben, sich von der Wahlverwandtschaft mit Godard abzulösen.“