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Roads Sebastian Schipper

Roads

Ab durch die Mitte

| Pamela Jahn |
Nach dem One-Take-Filmwunder „Victoria“ schickt Sebastian Schipper seine Protagonisten in „Roads“ auf eine chaotische Reise quer durch Europa – und trifft dabei mitten ins Herz der aktuellen Flüchtlingskrise. Ein Gespräch über Freundschaften, Extrem-Erfahrungen und Filme, die einen umhauen.

Gyllen (Fionn Whitehead) will weg. Jetzt. Sofort. Weg aus Marokko. Weg von seiner Familie. Weg in die Freiheit. Gerade achtzehn geworden, hat er genug von Schule, Pflichten und Widerständen, will die Richtung ändern und nach Frankreich aufbrechen, um seinen leiblichen Vater zu besuchen, von dem er sich das nötige Verständnis für seine akute Sehnsucht nach Ungebundenheit und Leben verspricht, welches seiner Mutter abgeht. Doch das alte Wohnmobil, das den jungen Engländer aus dem Wüstenland zurück nach Europa bringen soll, macht plötzlich nicht mehr mit, und von den Freunden zu Hause in London, die eventuell mit einer Ferndiagnose weiterhelfen könnten, geht keiner ans Telefon. Also bleibt Gyllen nichts anderes übrig, als abzuwarten und anderweitig auf Hilfe zu hoffen. Bis plötzlich der junge Kongolese William (Stéphane Bak) vor ihm auftaucht, der seinerseits auf dem Weg nach Calais ist, um dort seinen Bruder zu finden. Mit zwei Handgriffen bringt der den Camper wieder in Fahrt, und so bietet Gyllen ihm an, die Reise nach Frankreich gemeinsam zu bestreiten – eine Einladung, die der mittellose William schlecht abschlagen kann.

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Die Geschichte, die Sebastian Schipper in Roads erzählt, klingt weder neu noch radikal. Und schon gar nicht einzigartig. Das waren die Begriffe, mit denen sein voriges Werk Victoria vor vier Jahren nur so überhäuft wurde. Der Wahnsinn, den Film in einer Einstellung zu drehen, sitzt dem ursprünglich aus Hannover stammenden Regisseur bis heute in den Knochen. Nicht unangenehm wohlgemerkt, aber resistent. Und die Frage, was nach so einem Ausnahmefall im deutschen Kino nun kommen soll, hat Schipper für sich mit einem so bewegten wie bewegenden Drama beantwortet, das in seinem Wesen mitunter eine noch größere Herausforderung darstellte. Denn Roads ist mehr als eine spannend erzählte Freundschaftsgeschichte im Rausch jugendlicher Leichtlebigkeit. Es ist der Versuch, auf der Leinwand ins Leben einzutauchen, mitten hinein in eine Welt, die mit ihren Problemen längst nicht mehr fertig wird.

 


Sebastian Schipper im Interview

Herr Schipper, in Ihrem Regiedebüt „Absolute Giganten“ heißt es: „Freundschaften sind wie Sehnsüchte, toll, groß, absolut gigantisch, und wenn sie dich erstmal gepackt haben, dann lassen sie dich nicht mehr los, manchmal nie mehr.“ Liegt darin auch das Geheimnis Ihrer Kunst? Dass es um Freundschaften geht, sowohl vor als auch hinter der Kamera?
Sebastian Schipper: Ich glaube, Freundschaften sind so eine Markierung oder ein Symptom für eine Sache, um die es mir eigentlich geht, nämlich den Wahnsinn und den Zauber, im Leben unterwegs zu sein. Freundschaften sind ganz besondere Beziehungen, weil sie viel unberechenbarer sind als alle anderen Formen von Nähe, denen wir im Laufe unseres Lebens begegnen. Aber eigentlich geht es mir um das, was darunter oder darüber oder drum herum liegt, und zwar in das Leben hineinzugehen. So richtig, meine ich. Und dafür stehen für mich Freundschaften. Denn die Auseinandersetzungen, die ich in einer Liebesbeziehung habe oder mit meinen Arbeitskollegen, die sind doch alle mehr oder weniger absehbar. Die Themen sind quasi im Voraus abgesteckt. Bei Freundschaften ist das anders. Da ist alles viel überraschender und unbestimmter, auch wenn sie zu Ende gehen und dann doch noch nicht zu Ende sind. Oder wenn man denkt, das geht jetzt für immer, und plötzlich hat man sich nichts mehr zu sagen. Und das steht für mich symptomatisch dafür, was passiert, wenn man sich dem Leben hingibt.

 

Was hat Sie konkret an dieser Freundschaftsgeschichte begeistert?
Sebastian Schipper: Dass sie relativ unwahrscheinlich ist, dass sie relativ wahrscheinlich ist. Dass sie ambivalent ist und eindeutig. Dass sie irgendwie eine große Behauptung ist und trotzdem absolut wahr. Ich erzähle gern mit einer bestimmten Form von Melancholie, das ist für mich musikalisch, stimmig, so wie ich glaube, dass es Musik ohne Melancholie gar nicht geben kann. Und dieser Grundgedanke ist für mich in der Musik von Geschichten ebenso enthalten. Im Film geht es ja immer um Schmerzen und Probleme – ohne Schmerzen gäbe es gar keine Geschichte. Aber die Dunkelheit und die Ernsthaftigkeit des Themas, das den Hintergrund von Roads bildet, nämlich Migration und die aktuelle Flüchtlingssituation, das ist auf jeden Fall das Schwerste und Komplizierteste und Überwältigendste und auch Beängstigendste, dem ich mich bislang zugewandt habe.

 

Hatten Sie den Film von vornherein als länderübergreifendes Roadmovie im Kopf?
Sebastian Schipper: Ja, für uns war es entscheidend, dass er in unserer Welt spielt. Ich habe den Eindruck, dass Kino immer mehr so einen Eskapismus zelebriert. Ganz viele Geschichten spielen in der Zukunft, in utopischen oder meist dystopischen Welten, oder in der goldenen Vergangenheit. Und ich verstehe auch, warum das so ist. Das ist für mich auch keine Markierung von Qualität. Es ist einfach so. Aber ich finde, Kino ist auch ein Ort, wo wir unserer Welt direkt begegnen sollten. Natürlich nicht so wie in den Tagesthemen oder im Politikteil der Zeitung, sondern ein Ort, an dem wir die Welt auch in all ihrer Poesie, ihrer Verblüffung und ihrer Vielschichtigkeit sehen können. Trotzdem ist es im Prinzip immer etwas ganz Einfaches, das im Kern der Geschichte steht. Und dann gibt’s viele Gedanken, die man dazu haben kann, wie Autoklauen und durch Europa Fahren zum Beispiel. Nur haben mein Ko-Autor Oliver Ziegenbalg und ich dann schnell gemerkt, dass die Geschichte im Hier und Jetzt spielen muss, in dieser Welt. Allerdings ist diese Welt, in der wir leben, seit einiger Zeit schon relativ überfordert. Sich dem zu stellen, das war der Plan.

 

Das Drehbuch zu „Victoria“ umfasste gerade einmal zwölf Seiten. Wie viel Freiheit haben Sie sich diesmal erlaubt?
Sebastian Schipper: Was die Dialoge angeht: wenig. Eigentlich haben wir ganz klassisch gedreht.

 

Hatten Sie konkret das Bedürfnis, nach „Victoria“ wieder einen Gang runterzuschalten und zu den Grundlagen des Filmemachens zurückzukehren?
Sebastian Schipper: Was die Technik des Filmemachens angeht, kann man nach Victoria nur einen Gang runterschalten, sonst wäre man verrückt oder würde es schnell werden. Außerdem finde ich das Filmemachen im klassischen Sinn ja auch toll. Und ich hatte keine Lust, wieder mit der Kamera hinter den Schauspielern herzulaufen – obwohl Victoria natürlich viel mehr ist als das. Aber ich habe für mich gemerkt, das war’s jetzt erst mal, was diese Art Wahnsinn angeht. Viel wichtiger war für mich bei Roads die Herausforderung, ein so ernstes, schweres Thema hinzukriegen. Ich wollte keinen Quasi-Dokumentarfilm machen, das hätte ich anmaßend gefunden. Aber für mich war auch ganz viel Angst damit verbunden, sich dem Thema Flüchtlingskrise zu stellen. Bei einem Banküberfall in Berlin ist das was anderes. Ich bin immer noch, und das meine ich nur halb im Scherz, in gewisser Weise kreativ traumatisiert von dem Erlebnis, Victoria zu drehen. Das war eine so unfassbare Überforderung, ein solcher atemloser Kontrollverlust für mich als Filmemacher, dass ich mich auch heute noch erschrecke, wenn ich über den Film rede. Aber ich weiß auch, dass nur etwas Interessantes entsteht, wenn man sich dem Risiko aussetzt. Und die Herausforderung von Roads lag eben nicht in der technischen Umsetzung, sondern in der Materie, was für mich noch überwältigender war, als einen Film in einer Einstellung zu drehen. Ich hatte nicht gedacht, dass das an Überforderung noch zu toppen wäre. Aber Roads ist für mich eindeutig auf Augenhöhe damit: einen Film zu machen, der nicht klar als Problemfilm markiert ist, bei dem man als Regisseur in hundert Fußfallen treten kann.

 

Bei „Victoria“  ging es Ihnen nach eigenen Aussagen darum, der blanken Angst ins Auge sehen, einmal radikal zu sein. Geht das nicht auch zweimal?
Sebastian Schipper: Klar, das geht immer. Mir ging es damals aber ganz konkret um diesen Begriff „radikal“, der extrem überbeansprucht wird. Spontan, radikal, unberechenbar, diese ganzen Mega-Begriffe, die immer jongliert werden. Ich hatte das Gefühl, die würden nur noch als hohle Marketing-Slogans vorkommen, und dachte mir, wir müssen diese Begriffe irgendwie zurückklauen. Wir müssen die mal beim Wort nehmen. Was heißt das denn eigentlich, Punk? Was heißt das eigentlich wirklich? Das war der Grundgedanke von Victoria.

 

Von welchem Rhythmus oder Bauchgefühl haben Sie sich diesmal leiten lassen?
Sebastian Schipper: Wir wussten, wir wollten ganz breit anfangen, auch auf die Gefahr hin, dass man im ersten Moment vielleicht gar nicht genau weiß, was für einen Film man da schaut. Mit dem Achtzehn-Jahre-alt-Sein verbinde ich, dass man in seiner eigenen Blase ist, in seinem eigenen Universum. Dass man Träume hat und gewissermaßen in denen lebt. Nur kommt es dann irgendwann zur Begegnung mit der Realität. Genau das ist ja im Grunde auch das Tolle am Reisen. Und es ist die Reise, die der Film eingeht, in der am Anfang alles offen ist und die Handlung erst langsam immer geschlossener wird und schließlich an einem bestimmten Punkt ankommt.

 

Wie muss man sich den jungen Sebastian Schipper mit achtzehn vorstellen?
Sebastian Schipper: Ich denke, dass ich auf eine Art recht viel mit Gyllen gemein hatte. Ich glaube, ich war eine relative Nervensäge. Ich hatte unheimlich viel Energie, es musste immer irgendwas passieren. Damals hatte ich auch noch nicht den Traum, Filmemacher zu werden. Ich wollte einfach, dass die Zeit, die man mit Freunden verbringt, zu einem echten Erlebnis wird. So wie man es im Kino sieht. Obwohl ich selbst, wie gesagt, in dem Alter noch gar nicht so ein richtiger Kinogänger war. Ich habe mir Filme angeschaut, aber ganz wahllos. Die Faszination kam erst ein, zwei Jahre später, als ich von Jim Jarmusch Stranger Than Paradise und Down By Law zu sehen bekam und plötzlich dachte, was ist das denn, das ist ja unglaublich. Diese Filme überforderten mich total. Aber mit achtzehn dachte ich einfach noch, wenn wir schon zusammenkommen, dann soll es aber bitte auch ein phänomenaler Abend werden. Das war genug.

 

Gibt es einschneidende Urlaubserlebnisse aus dieser Zeit?
Sebastian Schipper: Ich bin mal mit meinem damaligen Kumpel in den Urlaub gefahren. Wir wollten eigentlich Interrail fahren. Dann stand aber auf der Straße für 150 Mark so ein alter Lada. In Oldenburg, wo ich damals noch zur Schule ging, gab es zu der Zeit noch so ein gerütteltes Maß an DKP-Lehrern, und ich glaube, die hatten aus Überzeugung diesen alten Lada, den sie für billiges Geld verscherbelten, da haben wir halt zugeschlagen. Zum einen war’s günstiger als die Interrail-Tickets, aber ich war natürlich auch der Überzeugung, es würde viel mehr Spaß machen, mit dem Auto hinzufahren, wo wir wollen. Das Problem war nur, dass ich noch gar keinen Führerschein hatte. Weil ich ein erfahrenerer Fahrer als mein Kumpel war, saß ich trotzdem die meiste Zeit hinterm Steuer. Und ich weiß noch, dass er seinen Eltern davon nie was erzählt hat.

 

Sie sind während der Dreharbeiten erst spät an die realen Schauplätze der europäischen Flüchtlingskrise gereist, wie etwa nach Calais. Hat das die Dynamik des Films noch einmal verändert?
Sebastian Schipper: Also, wir sind natürlich in der Vorbereitung des Films, lange vor den Dreharbeiten, nach Calais gefahren. Aber ich hatte tatsächlich extremen Respekt davor. Damals war der Ort ja noch ganz viel in den Medien, das Schicksal, die menschliche Tragödie, die sich da abspielt. Und ich hatte ein bisschen Scheu vor der Auseinandersetzung damit. Auch weil ich daran glaube, dass eine Geschichte nur eine Geschichte ist, wenn sie auch von Hoffnung erzählt. Ich finde es falsch und ein bisschen selbstverliebt, am Ende zu sagen: ja, und dann waren alle tot. Das ist nicht fair und auch nicht wahr. Also stellte sich die Frage, wie schaffe ich es, ein guter Erzähler zu sein und mich trotzdem der Erfahrung in Calais zu stellen. Und das wirklich Erstaunliche bei all der Verzweiflung, die dort herrscht, das sind die Helfer aus ganz Europa, die nach Calais kommen, um da zu kochen, um Spenden zu verteilen. Die selbst teilweise unter sehr schlechten Bedingungen da hausen, aber hart arbeiten und ihre Zeit, ihre Energie und ihre Kraft opfern, um sich für die Flüchtlinge einzusetzen.

 

Ihre beiden Hauptdarsteller Fionn Whitehead und Stéphane Bak bilden ein starkes Team. Bekommt man als Regisseur, der wie Sie selbst auch Schauspieler ist, schneller ein Gefühl dafür, wer das Zeug zu echter Leinwandpräsenz hat?
Sebastian Schipper: Ich hoffe. Ich weiß noch, bei Victoria wurde ich gefragt: „Woher wussten Sie denn, dass die das können?“ Weil die Dialoge dabei natürlich sehr improvisiert waren. Und ich glaube ganz ehrlich, das ist eine Frage der Begabung, einer Spielbegabung. Ich vermute, das unterscheidet sich gar nicht so wahnsinnig viel davon, wie wir als Kinder schnell herausgefunden haben, mit wem es Spaß macht zu spielen. Mit manchen Kindern konnte man einfach gut spielen, weil die einem nicht gesagt haben: „Das ist aber mein Lego!“ Sondern weil der Spieldrang das Hauptmerkmal war. So geht’s mir auch mit tollen Schauspielern. Ich schaue einfach, ob sie Lust haben, zu spielen, einen anzugucken, ob man sich etwas zu sagen hat, ob die mit mir funktionieren. Das ist für mich das Wichtigste: Spielkameraden zu finden.

 

Verändert Ihre eigene Erfahrung als Schauspieler die Arbeit am Set?
Sebastian Schipper: Ich glaube, es verändert sie insofern, als ich nicht wirklich an Streit glaube oder, genauer gesagt, an Angst. Ich sehe meine Hauptaufgabe als Regisseur darin, einen Raum zu schaffen, in dem es eine Freiheit gibt und in dem Fehler verzeihbar sind. Dafür machen wir Film. Drehen wir’s eben noch mal! Im Film geht es um Risiko. Bitte Risiko miteinander eingehen! Und diese Einstellung hat sicher auch etwas mit meiner eigenen Erfahrung als Schauspieler zu tun.

 

Für Ihr Regiedebüt „Absolute Giganten“ erhielten Sie 1999 den Deutschen Filmpreis in Silber. Wie haben Sie das damals empfunden?
Sebastian Schipper: Absolute Giganten war im Kino ein absoluter Flop. Der Film hatte damals knapp über hunderttausend Zuschauer. Heute würde man sagen, ist doch super, aber damals war diese Zahl nichts. Mein wunderbarer Produzent Tom Tykwer hatte gerade einen Sommer vorher Lola rennt gemacht, und eine Woche nach unserem Kinostart kam Sonnenallee in die Kinos. Das war der Hammerfilm des Herbstes. Und ganz ehrlich, zehn Tage später hat kein Mensch mehr über Absolute Giganten geredet. Doch auf einmal waren wir für den Deutschen Filmpreis nominiert. Und dann haben wir sogar eine Auszeichnung erhalten. Aber das heißt nicht, dass ich plötzlich dachte, Wahnsinn, ich bin der Größte,
sondern ich hatte zu Weihnachten nach den Dreharbeiten eine richtige Depression. Mit anderen Worten: Der Erfolg von Absolute Giganten kam in sehr homöopathischen Dosierungen.

 

Was bedeutet es für Sie persönlich, unterwegs zu sein, im Film wie im eigenen Leben?
Sebastian Schipper: Dass man offen ist für das Ereignishafte. Denn das Ereignis ist ja das, was man nicht voraussieht. Wie wir alle aus Urlaubserfahrungen wissen, ob jung oder alt, ist die Katastrophe im Nachhinein oftmals die beste Story, das beste Erlebnis, wenn man wieder zuhause ist. Der Tag, als man das Schiff verpasst hat, als das Auto stecken geblieben ist, als man kein Geld mehr hatte, das war oder führte eigentlich zur tollsten Erfahrung. Und mit dem Älterwerden entwickelt man natürlich immer mehr Mechanismen, dass einem so etwas nicht mehr passiert. Und das ist auch vollkommen in Ordnung. Aber Unterwegssein heißt für mich, diese Ereignisse zuzulassen. Auch wenn ich selbst genervt bin und ausflippe in dem Moment. Aber es geht darum, dass genau in dem Augenblick das Leben passiert. Und das sollte man auf keinen Fall verpassen.