J.C. Chandor trat vor vier Jahren mit seinem fulminanten Finanzkrisenthriller Margin Call schlagartig ins Licht der Öffentlichkeit. Bereits nach seinem zweiten Film, dem beeindruckenden Alleinsegler-Drama „All is Lost“ (2013) war klar, dass sich hier ein außergewöhnliches Talent entwickelt. Das bestätigt insbesondere sein neues Werk, der Anti-Gangster-Film „A Most Violent Year“.
Bescheidenheit ist des Meisters Tugend. Dennoch klingt es etwas merkwürdig, wenn J.C. Chandor im Interview mit „Empire“ gesteht: „Mittlerweile habe ich das Gefühl, ich weiß ein bisschen besser, was ich da eigentlich mache.“ Für einen, der es geschafft hat, sich mit nur zwei Filmen in die oberste Liga der spannendsten Regisseure zu spielen, die das US-amerikanische Kino derzeit zu bieten hat, versteht er es zumindest verdammt gut, den Ball flach zu halten. Zugegeben, der ganz große Erfolg an den Kinokassen blieb dem 41-jährigen aus New Jersey, der sein Talent vor seinem Kinodebüt mit Margin Call (2011) in erster Linie in Werbefilme und Fernsehdokumentationen investierte, bisher verwehrt. Aber auch das hat bei ihm Methode: „Wie ich an meine Arbeit herangehe, ist entscheidend für mich und das, was dabei herauskommt. Die Frage ist doch, inwieweit bin ich als Filmemacher bereit, mir selbst und meinen Prinzipien untreu zu werden, um meine Geschichten zu erzählen. Ein Blick auf meine Filme verrät da im Grunde recht schnell, was für ein Typ ich bin.“
Mit anderen Worten: Genau dieser Typ hat mit bislang nur drei Spielfilmen ein eigenständiges, in sich stimmiges Werk geschaffen, das sich durch thematische Kohärenz und einen persönlichen Stil auszeichnet, den man mindestens als kühn und klug, wenn nicht gar als genial bezeichnen kann. Seine Filme bewegen sich in unterschiedlichen Genres, ihr gemeinsamer Kern ist die Auseinandersetzung mit räumlichen oder psychischen Krisen, die es zu überwinden gilt. Bereits in seinem Regiedebüt Margin Call fand Chandor zu seinem großen Thema und legte zugleich eine Meisterschaft an den Tag, die ihn durchaus für den großen Publikumserfolg hätte prädestinieren können. Zumal er mit seinem widerspenstigen Drehbuch, dessen Handlung sich über einen Tag in den ersten Wochen nach dem großen Crash in einer Investmentbank erstreckt, obendrein auch eine nicht weniger hochklassige Besetzung um Kevin Spacey und Jeremy Irons für sein gewagtes Unterfangen gewinnen konnte. Tatsächlich liegt Chandors Brillanz vor allem in der perfekten Kombination aus cleverem Casting, präziser Figurenzeichnungen sowie einer eigentümlichen Mischung aus Stilisierung und Dokumentation sozialer Umfelder, die seine filmische Handschrift ausmachen.
Charakterstudie
Konsequent entgegen der Erwartungen, es handele sich bei A Most Violent Year um ein geradliniges Gangsterdrama à la Godfather, hat Chandor mit seinem dritten Film nun eine komplexe Charakterstudie über einen sauberen Unternehmer im korrupten Heizöltransport-Geschäft und den unruhigen Geist in den USA Anfang der achtziger Jahre abgeliefert. Genauer gesagt, geht es um das Unternehmergespann Abel und Anna Morales, exzellent gespielt von Oscar Isaacs und Jessica Chastain, die ihre Existenz aufs Spiel setzen, um neue Ziele zu erreichen. Er, ein kolumbianischer Einwanderer, der sich in New York ein Unternehmen als Heizöllieferant aufgebaut hat. Sie, die für die Firma die Buchhaltung macht – gewissermaßen – und die sich zudem um die drei Töchter, die Ausstattung des neuen Eigenheims und das Wohl ihres Mannes kümmert. Zusammen haben es die beiden innerhalb von wenigen Jahren schon recht weit gebracht, jetzt soll ihnen ein neues Areal am East River die Vormachtstellung im Geschäft sichern. Die Sache hat nur einen Haken: Die siebenhunderttausend Dollar Anzahlung sind nur der Tropfen auf dem heißen Stein. Im Laufe eines Monats muss Abel die Summe um eineinhalb Millionen Aufstocken, sonst platzt der Deal und Abel verliert, was er sich mit Mühe aufgebaut hat: das Image eines konsequenten, aber zivilisierten Geschäftsmannes sowie die Basis für sein Dasein in dem Land, in das er gekommen ist, um den großen amerikanischen Traum vom „Selfmade Man“ zu leben, ohne sich jedoch der Kriminalität oder den schmierigen Praktiken hinzugeben, die um ihn herum regieren. Was einfacher gesagt ist, als getan, zumal die Tankwagen seiner Firma in letzter Zeit immer häufiger brutal überfallen werden, was seine Fahrer verunsichert und gegen Abels hartnäckige moralische Prinzipien zum Selbstschutz zwingt. Als obendrein eine Betrugsanklage ins Haus flattert, die Abels Kreditwürdigkeit in Gefahr bringt, nimmt seine verführerisch kühl kalkulierende Gattin Anna die Sache auf ihre Weise in die Hand. Und man sei gewarnt: „You’re not going to like it, when I get involved,“ sagt sie im Tonfall der abgebrühten Gangstertochter, die sie in Herz und Blut ist.
Große Vorbilder
Chandor erzählt die Geschichte über weite Strecken wie eine komplizierte Liebesgeschichte, die auf vordergründige Gewalt verzichtet. Doch es ist weniger die Liebesgeschichte des gewieften Ehepaars, das auf eine existenzielle Probe gestellt wird, als die zwischen dem Regisseur und seinen großen Helden im amerikanischen Genrekino von Coppola bis Scorsese. Aber wer jetzt davon ausgeht, dass standardisierte Eckdaten wie New York plus moralische Verworfenheit und die Komplexität des Scheiterns automatisch nach einem Abklatsch von Sidney Lumets besten Arbeiten schreien, hat die Rechnung ohne Chandor gemacht. Zwar sind seine Vorbilder gut zu erkennen, manchmal vielleicht zu gut, doch Chandor erzeugt ein eigenes Flair, dass in seiner formalen Gekonntheit eher an Kubrick angelehnt scheint, jedoch verschrobener und eigenwilliger in seiner Ausführung daher kommt, selbst in den Momenten, in denen sich die Geschichte tief im Dickicht seiner Alltagsverdammten verstrickt. Irritierende Offenheit und Ambivalenz, ein schwer auszulotendes Unbehagen zeichnen den Film aus, und das im besten Sinne des Wortes.
Mit A Most Violent Year geht Chandor damit seinem Erstlingswerk in gewisser Weise nicht nur chronologisch einen Schritt voraus. Bereits im Jahre 1981 ist Amerika ein Land, das seine Konflikte zwar eher mit Gewalt als mit spekulativen Hedgefonds und Ratingagenturen löst, ihre Folgen jedoch längst nicht mehr ermessen kann. Und auch Abel ist ein Held, der ähnlich wie Kevin Spaceys taumelnder Investmentbanker in Margin Call zwischen Größenwahn und Selbstzweifeln schwankt. Ein Außenseiter, dessen Verweigerung gegenüber dem System die Krisen der Gesellschaft spiegelt. Mit langen, starren Einstellungen, Tonbrüchen und einer oft hoffnungslos anmutenden Farbpalette in Beige- und Grautönen, die sich im Zusammenspiel mit Alex Eberts unheilvollem, von tiefen Barockklängen inspiriertem Score nahtlos ergänzen, begibt sich Chandor in die Wahrnehmung seines moralversessenen Protagonisten und begleitet ihn auf seiner Gratwanderung zwischen Macht und Machtlosigkeit, Gewalt und Korruption, Erfolg und Untergang. Und mit Oscar Isaacs, der bereits in Inside Llewyn Davis und The Two Faces of January bewiesen hat, dass er sich bestens für Figuren eignet, die so attraktiv sind wie gefährlich, hat er obendrein einen Darsteller gefunden, der Abels Bedenken und Gewissensbisse ebenso zu vermitteln versteht wie seinen Ehrgeiz, und der es immer gerade noch schafft, nicht in die Moralapostelschiene abzurutschen. Abels Beharren, nicht von seinen Grundsätzen, wie erstrebenswert sie auch sein mögen, abzuweichen, selbst wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht, ließe sich andernfalls allzu leicht als Arroganz und Ignoranz gegenüber der Folgen für andere missverstehen. In der letzten Szene des Films, kurz nachdem sich sein gebeutelter Truckfahrer Julian (Elyes Gabel) aus Verzweiflung vor seinen Augen erschießt, weiß Abel es nicht besser, als sich und seinen Verbündeten selbstgefällig seinen Glauben an den rechten Weg zu bestätigen, während er gleichzeitig eifrig dabei ist, mit einem Taschentuch das Loch zu stopfen, das Julians Todesschuss in einem seiner Öltanks hinterlassen hat.
Tatsächlich gibt es genügend Beweise dafür, dass auch Abels Weste nicht so rein ist, wie er es immer wieder gerne vorgibt. Denn als ihm Anna, die mit dem Überlebensinstinkt einer Patin über die Jahre vorsorglich Geld aus der Firma abgezweigt hat, anbietet, mit der Summe die nötigen Löcher zu stopfen, um den Grundstückkauf abzuschließen, kann Abel dem Angebot letztlich nicht widerstehen. Nachts sind eben doch alle Katzen grau und so kommt es, dass am Ende sogar der hartgesottene Staatsanwalt gewillt ist, ein Auge zuzudrücken, wenn Abel in seiner neuen Machtposition im Ölhandel, dessen politische Ambitionen unterstützt. Der einzige, der seiner Sache treu bleibt, ist Chandor selbst, der sich mit einer bemerkenswerten Kontrolle in Sachen Tempo, Atmosphäre, Darstellerführung (beeindruckend ist auch Albert Brooks als Abels doppelzüngiger Anwalt) und Konsequenz in seiner Vision zu einem Regisseur mit geradezu ungeheuerlichem Potential entwickelt hat, dessen Markenzeichen in dem Blick liegt, mit dem er das Rätsel Mensch betrachtet. Einmal sagt Abel zu seinen jungen Lehrlingen im Verkauf: „You will never do anything as hard as staring someone in the eye and telling them the truth.“ Chandor scheint genau das zu seinem Leitspruch gemacht zu haben.