Mit „Abendland“ verweist Nikolaus Geyrhalter auf das, was Europa heute ist, und was es nicht mehr sein wird. Der Filmemacher im Gespräch über seine assoziative Reise anhand eines historischen Begriffs.
Abendland ist nicht nur ein Film über Europa bei Nacht. In zwanzig Episoden, Miniaturen gleich, untersucht Nikolaus Geyrhalter in essayistischer Form, was am Beginn des 21. Jahrhunderts vom historischen Begriff des Okzidents übrig geblieben ist. Das gegenwärtige Europa als assoziative Reise: von der Abschottung durch meterhohe Zäune an der südlichen Außengrenze zur obsessiven Überwachung Londons; vom Johlen der Menschen im „Herzen“ Europas am Oktoberfest in München zum Sprachengewirr einer Sitzung im EU-Parlament; von anonymen Hilferufen bei der Telefonseelsorge bis zu den lautstarken Demonstrationen gegen den Castor-Transport. Dazwischen Krankenhäuser, Flughäfen, Altersheime und Arbeiter, die den Eurofighter – das Kampfflugzeug, das Europa im Namen trägt – zusammenbauen. Über diese Momentaufnahmen wird Abendland zu einer beeindruckenden Bestandsaufnahme eines politischen, religiösen und gesellschaftlichen Umbruchs.
„Abendland“ bezieht sich sowohl auf den Umstand, dass der Film ausschließlich in der Nacht entstanden ist, als auch auf die alte Bezeichnung für Europa. Ist der Film der Versuch, diesen ideologisch und historisch aufgeladenen Bildern neue entgegenzusetzen?
Nikolaus Geyrhalter: In gewisser Weise ist der Film eine sehr persönliche Bestandsaufnahme des Abendlands geworden. Mit dem Begriff wurde immer auch das Selbstverständnis einer überlegenen Kulturform assoziiert, und diesen Gedanken greift auch der Film auf: Wie sieht unser Leben und unser Alltag eigentlich tatsächlich aus, von denen wir glauben, sie beschützen zu müssen und niemanden daran teilhaben lassen zu dürfen?
Das heißt, dass der diffuse Begriff mit konkreten Schauplätzen konfrontiert wird, die man nicht mehr als Teil des Abendlands wahrnehmen würde?
Nikolaus Geyrhalter: Ja, aber auch nicht wahrnehmen will. Menschen, die den Begriff in einem politischen Sinn verwenden, tun dies ja üblicherweise, um Grenzen festzumachen und an etwas festzuhalten, das es längst nicht mehr gibt und vielleicht auch nie gegeben hat. Die haben eine sehr unwirkliche Vorstellung von diesem heutigen Abendland und setzen sich da auf eine Idee drauf, die so gar nicht mehr existiert. Denn diese Idee ist längst vorbei.
Wie kam es zur Auswahl der verschiedenen Schauplätze?
Nikolaus Geyrhalter: Die erste Idee war, einen Film über Nicht-Orte in Europa zu drehen. Doch damit allein war es nicht möglich, adäquat über Europa zu erzählen. Also haben wir gesagt: Nennen wir den Film Abendland und drehen wir, um das Wort doppelt zu deuten und gleichzeitig einen nachvollziehbaren roten Faden zu schaffen, wirklich nur in der Dunkelheit. Als simple Regel, nur um die Komplexität des Films zunächst einmal zu tarnen. Ein Film über Europa in der Nacht. Mit dieser reduzierten Information würde ich das Publikum auch am liebsten mit dem Film allein lassen. Dann gibt es genug zu entdecken und zu spüren. Wenn ich jetzt sagen würde: Das ist ein Film über ein vergehendes Europa und sein gestörtes Verhältnis zu seinen ehemaligen Kolonien usw. – da ginge ja niemand mehr ins Kino. Es ist eine sehr subjektive Reise durch mein Europa, eine These, eine Befürchtung. Die Dreharbeiten haben meinen Kulturpessimismus diesbezüglich bestätigt: Dieses Europa kann man nicht mehr anders sehen, ohne sich selbst zu belügen.
Kann man das Abendland also noch finden, wenn man sich explizit danach auf die Suche begibt, oder sind das ausschließlich Restbestände, die in einer bloßen Idee von Europa weiter existieren?
Nikolaus Geyrhalter: Die Restbestände sind Überbleibsel eines verblassenden Hochkulturdenkens und eines ehemaligen Reichtums, von all dem, was wir uns auf Kosten des Morgenlandes geschaffen haben. Aber dieses Abendland bricht zusammen und wird in fünfzig Jahren in dieser Form nicht mehr existieren. Das ist überall spürbar und offensichtlich, wenn man genau hinschaut. Das Gleichgewicht der Welt beginnt sich anders einzupendeln: Die Länder, die wir immer als Kolonien und später als Entwicklungsländer abgetan haben, werden eine Entwicklung machen, mit der sich auch die globalen Verhältnisse umkehren und mit der wir nicht mehr mitkommen. Wir sind satt und träge geworden. Und sobald wir in Europa sehen, dass es eng werden wird, fällt uns nichts anderes ein, als die Grenzen dicht zu machen. Die ganze Welt wächst zusammen, und wir igeln uns ein. Das ist eine ziemlich billige, unambitionierte Politik, die unsere Kinder ausbaden werden müssen.
Ist es dieses Gefühl des Einbunkerns, das den Film dann zum meterhohen Zaun an die EU-Außengrenze führt?
Nikolaus Geyrhalter: Natürlich ist die Vorauswahl der Szenen a priori ein Statement. Ich nenne Abendland auch gar nicht gerne einen Dokumentar-, sondern viel lieber einen Essayfilm. Der Film funktioniert vordergründig dadurch, dass er so tut, als ob er ein Europa bei Nacht schildern würde – ohne aber natürlich den Anspruch zu erheben, eine objektive Auswahl oder Repräsentanz zu treffen. Gerade durch die manchmal unerwartete Auswahl der Szenen versuchen wir, den Zuschauer „mitnehmen“ zu können, auch wenn er vielleicht etwas anderes erwartet.
Die Schauplätze werden durch Routineabläufe und wiederkehrende Tätigkeiten zusammengehalten, wodurch die Mikrokosmen wieder ein großes Ganzes bilden.
Nikolaus Geyrhalter: Das ist das Schwierige und der Moment, an dem Wolfgang Widerhofer ins Spiel kommt: den Film so zu schneiden, dass er sich entwickeln kann, dass man zwischen den Zeilen lesen kann. Das macht den eigentlichen Film erst aus. Die Kontextualisierung der Szenen in Bögen, die sich oft erst viel später schließen. Dadurch wird Abendland zu einem komplexen, konkreten Ort, zum Mikrokosmos. Auch wenn die Schauplätze über Europa verteilt sind, ist es ein zusammenhängender Raum, eine Idee. Genauso wie Unser täglich Brot für mich immer ein Raum war, nämlich jener der europäischen Nahrungsmittelproduktion, in dem Ländergrenzen irrelevant geworden sind. Das trifft auch für Abendland zu: das Konzept Europa als ein zusammengeschmolzener Ort.
Ist Abendland dadurch nicht auch der Versuch, etwas zu zeigen, was man eigentlich gar nicht zeigen kann?
Nikolaus Geyrhalter: Er zeigt das, was im Allgemeinen nicht für wert befunden wird, gezeigt zu werden. Abendland ist im Grunde eine Sammlung von Banalitäten, die erst in ihrer Zusammenstellung zu „arbeiten“ beginnen. Es ist ein Hinschauen auf die vielen kleinen Ränder, die eigentlich jeder kennt.
Sind diese thematischen Linien – wie etwa die mediale Überwachung oder die mechanisierten Abläufe bei der Altenpflege und auf der Säuglingsstation – wesentliches Charakteristikum der einzelnen Orte, oder sind sie eher der Nachtzeit geschuldet?
Nikolaus Geyrhalter: In der Nacht sind die routinierten Abläufe stärker spürbar, hier wird die Nacht zum Spiegel für unser Leben. In der Nacht ist alles konzentrierter und zugleich reduzierter. Alles reduziert sich aufs Wesentliche. In der Nacht liegt schon sehr viel Wahrheit.
Bei der Darstellung der Menschen fällt auf, dass sie entweder überwacht werden wie in London oder dass sie anonym bleiben wie in der Episode über die Help-Hotlines. Beim Castor-Transport rufen sie aber: „Wir sind das Volk“. Müssen die Menschen sich erst wieder bemerkbar machen, um als Volk wahrgenommen zu werden?
Nikolaus Geyrhalter: Man muss sich gar nicht bemerkbar machen, weil man ohnehin ständig bemerkt wird, nur weiß man es gar nicht. Beim Castor-Transport ist diese Art des Protests in gewisser Weise schon wieder ein Luxus, wenn man sieht, wie die Demonstranten beinahe rituell von den Schienen getragen werden – ein riesengroßes Theater, wir spielen Demokratie und wissen, der Zug wird sein Ziel auf jeden Fall erreichen. Die Phrase „Wir sind das Volk“ verhallt – und genauso steht sie im Raum und im Film.
Jede Episode öffnet einen Raum, der zunächst für Orientierungslosigkeit sorgt. Oft ergibt sich erst danach ein kohärentes Raum-Zeitgefühl.
Nikolaus Geyrhalter: Manche Schauplätze sind von Anfang an klar erkennbar, wie etwa der Petersplatz. Bei anderen Orten ist es egal, wo sie tatsächlich sind, weil sie überall sein könnten. Wo das Krankenhaus steht, ist irrelevant, da geht es nicht um den realen Ort. Und selbst der reale Petersplatz mit dem Papst hat etwas sehr Irreales.
Wie wichtig war diese Episode für die religiöse Bedeutung des Begriffs Abendland?
Nikolaus Geyrhalter: Es war interessant, sich den klerikalen Machtapparat anzuschauen. Erkennbar wird vor allem die Bedeutung der Öffentlichkeitsarbeit und der Inszenierung. Die Kirche gibt ihre Orientierungslosigkeit zwar zu, aber die fehlenden Antworten sind das, was in dieser Episode übrig bleibt. Hilflosigkeit vor einer sehr beeindruckenden Kulisse.
Was entsprechend den mechanischen Abläufen in Kranken-häusern und Flughäfen eine Form von ideologischem Leer-lauf ist.
Nikolaus Geyrhalter: Absolut. Ich habe ohnehin das Gefühl, dass unser Leben viele Leerläufe hat. Innerhalb dessen, was vorgegeben ist, bleibt relativ wenig übrig. Deshalb mag ich auch die letzte Episode bei dem Rave sehr gerne. Der Rave ist der Inbegriff dessen. Die Musik reduziert sich auf den Rhythmus, und jeder schaut sinnentleert in die Kamera. Trotzdem macht es Spaß, und man kann sich der Energie kaum entziehen. Das sind wir. Nach all dem ist das Europa.
Zugleich taucht im Rave eine Textzeile auf, die als Leitthema den Film begleiten könnte: „It’s a complex situation“. Es bietet sich an, mit diesem einen Satz die Situation Europas auf den Punkt zu bringen – was aber wieder banal wäre.
Nikolaus Geyrhalter: Es ist komplex, aber der Film an sich ist ja mehr eine Fragestellung als eine Antwort. Das sind meine Arbeiten generell, und auch bei Abendland geht es nicht darum, besser Bescheid zu wissen, nachdem man den Film gesehen hat. Das Einzige, was ich möchte, ist, Fragen zu stellen und zum Nachdenken anzuregen. Wenn man sich auf diese Reise eingelassen hat, hat man danach ohnehin sein eigenes Bild.