Filme, die man nicht oft genug sehen kann: Eine Retrospektive im Filmmuseum würdigt Akira Kurosawa.
Akira Kurosawa, einer der großen Regisseure, wurde 1910 in Tokyo geboren. Er wuchs also in einer Zeit auf, in der der Film selbst zum ersten Mal zur vollen Reife gelangte. Sein älterer Bruder liebte glücklicherweise den Film und arbeitete in einem Lichtspieltheater. Deshalb konnte der junge Kurosawa umsonst ins Kino gehen, und während dieser Zeit sah er viele Filme, die seinen eigenen Stil beeinflussten. Kurosawa selbst wollte jedoch während dieser Zeit Künstler werden – lieber Maler als Regisseur. Erst als er merkte, dass er damit sein Brot nicht verdienen konnte, ging er zum Film. Dennoch fuhr er fort, sich seine malerische Begabung zunutze zu machen. Er machte ausführliche Skizzen all der Szenen, die er im Film darstellen wollte, und für seine späten Filme Kagemusha und Ran malte er voll ausgearbeitete Bilder, die als Anleitungen für die realen Szenen dienten.
1936 hatte er sich auf eine Annonce in der Zeitung beworben und wurde so zum Regieassistenten in den alten P. C. L.- Studios. Hier arbeitete und studierte er und führte 1943 bei seinem ersten eigenen Spielfilm Sanshiro Sugata Regie. Der 33-jährige Regisseur zeigte in diesem brillanten Filmdebüt bereits voll sein persönliches Profil, von dem später die ganze Welt sprechen sollte.
Alle Filme von Kurosawa (in gleicher Weise wie die Filme anderer großer Zeitgenossen: Robert Bresson, Luis Buñuel, Ingmar Bergman, die ebenfalls gleichbleibende Themen durchgehend veranschaulichen) behandeln dasselbe Thema. In einfachster Ausdrucksweise und jeglicher Philosophie entblößt, beinhalten seine Filme Enthüllungen über den menschlichen Charakter. Einer der Gründe dafür, dass er so viele Filme über die Ungewissheit oder Unberechenbarkeit – entweder direkt in Die Bösen schlafen gut (Warui yatsu hodo yoku nemuru, 1960), Zwischen Himmel und Hölle (Tengoku to jigoku, 1963) oder indirekt in Rashomon (1950) und Die sieben Samurai (Shichinin no samurai, 1954) – gedreht hat, liegt darin, dass die Geschichten über das Unberechenbare ebenso wie die Detektivgeschichten von Enthüllung handeln. Kurosawa nimmt das „Verbrechen“ (das nicht verwirklichte Leben oder das Problem des Wählens zwischen zwei schlechten Dingen) und arbeitet eine „Lösung“ heraus, die zumeist in der Hauptfigur liegt, und der Charakter, der am Ende sichtbar wird, ist sein eigener.
Sugata entdeckt seine menschliche Reife, seine Humanität. Ebenso der Doktor in Der trunkene Engel (Yoidore tenshi, 1948) oder der Maler in Skandal (Shubun, 1950), und viele andere der Hauptfiguren Kurosawas. Dies ist auch die Lektion, die Sanjuro Tsubaki den Stadtbewohnern in Yojimbo (1961) erteilt und der Samurai-Junge in Sanjuro (1962). Oder umgekehrt ist dies die Lektion, die die dem Untergang geweihte Hauptfigur Kurosawas – z. B. Washizu in Das Schloss im Spinnwebwald (Kumonosu jo, 1957) – zu lernen versäumt. Kurosawa ist auf diese Weise ein Humanist – für ihn ist das Menschliche das Zentrale. Ob er selbst fast sentimental optimistisch ist (der ausgesetzte Säugling in Rashomon) oder tief pessimistisch in Ran, immer ist es die menschliche Anteilnahme, die ihn motiviert.
Ein Humanist zu sein, heißt, ein Individualist zu sein, und das sind zwei Dinge, die man für gewöhnlich nicht mit Japan verbindet. In Wahrheit jedoch sind die Japaner genauso individuell und genauso menschlich wie jedes andere Volk auch, aber dem Bild, das das „offizielle“ Japan uns vermittelt, fehlen offenkundig diese Eigenschaften. Es ist dieses offizielle Bild Japans, das Kurosawa in seinen Filmen kategorisch zurückweist.
Wie die meisten anderen guten japanischen Regisseure in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Kurosawa das Glück, in derselben Zeit zu seiner Vollendung zu finden, in der der japanische Film immer größere Freiheit erlangte. In gewisser Weise „wurde er groß“ mit dem japanischen Film. Solche Belange wie individueller Charakter, individuelle Moral und Ethik sind unbestreitbar Belange der Nachkriegszeit in Japan, zumindest was ihr Erscheinen im Film anbelangt.
Der Schluss der Sieben Samurai z. B. wäre zu keiner anderen Zeit in der modernen japanischen Geschichte als gerade 1954 denkbar gewesen, also in der Nachkriegszeit. Man kann daher sagen, dass Kurosawa mit seinen Filmen den japanischen Film bestimmt hat. Sein Interesse, so sehr dasjenige seiner Zeit, schuf den liberalen, suchenden, humanistischen Ton so vieler japanischer Filme.
Man kann auch sagen, dass Kurosawa ein Philosoph ist, der mit dem Film arbeitet und der bezeugt, dass es inmitten dieser Welt allein das Menschliche ist, was am meisten zählt. Samurai und Räuber mögen als ein und derselbe enthüllt werden, aber da sind stets die Dorfbewohner, die, nachdem die großen Taten vollbracht wurden, den neuen Reis voller Hoffnung und Vertrauen anbauen. Der Mensch muss kämpfen, um inmitten dieser hoffnungslosen Welt die Hoffnung zu bewahren, und in diesem Kampf sind alle Menschen Brüder. Dies ist die zentrale These der Filme Kurosawas, von denen die meisten die Entwicklung von der Verzweiflung zur Hoffnung aufzeigen, und das ist einer der Gründe, weshalb seine Filme der ganzen Welt etwas zu sagen haben. Durch eine un- übertroffene Filmtechnik („Japans größter Regisseur, der Welt größter Cutter“, sagt sein Stab) zeigt Kurosawa die Kraft und Schönheit des individuellen Menschen, zeigt uns die Verwirklichung dieser Individualität und die Schöpfung des Selbst. Akira Kurosawa ist einer der großartigsten Filmregisseure überhaupt, nicht nur durch seine künstlerische Potenz, sondem auch durch sein Mitleiden als Mensch.
Donald Richie, die westliche Autorität auf dem Gebiet des japanischen Films, hat viel über Kurosawa geschrieben. Dieser Text stammt aus dem Begleitheft zur Retrospektive im Japanischen Kulturinstitut in Köln im Jahr 1988. Übersetzung: Franziska Ehmcke