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Alfred Hitchcock – Im Sturzflug auf die Zuschauer

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Alfred Hitchcock, der kugelige Mann, mit dessen Silhouette als Markenzeichen es höchstens  noch Chaplin aufnehmen kann, gilt 25 Jahre nach seinem Tod noch immer als eine der schillerndsten Figuren des populären Kinos. Ob kongenialer Auteur oder schlichter Entertainer, diese Frage ist bei Hitchcock eigentlich unzulässig. „Es gibt keinen Grund, sich unter den zahlreichen ausgezeichneten Kommentaren für oder gegen diejenigen zu entscheiden, die in Hitchcock einen tiefgründigen Denker oder bloß einen großen Unterhalter sehen“, meinte etwa Gilles Deleuze.

Anlässlich der Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums, das Hitchcock ab 1. Dezember zwei Monate lang mit einer Gesamtschau die Ehre erweist, haben wir Autorinnen und Autoren der Zeitschrift gebeten, uns ihre Hitchcock-Lieblingsszene zu schreiben. Als Versuch, dem kollektiven Gedächtnis, in das sich Hitchcock wie kein zweiter Regisseur eingeschrieben hat, ein persönliches entgegenzusetzen – oder wenigstens zur Seite zu stellen. Denn wie schrieb Frieda Grafe einmal: „Hitchcocks Geschichten sind keine Erzählungen alten Stils. Sie treten vieldeutig auf der Stelle … Der Beweis: hinterher hat man größte Mühe, auf die Reihe zu bekommen, was man gesehen hat.“ Was also im Laufe der Jahre diesbezüglich an Kinogeschichte gesehen und in Erinnerung geblieben ist, können Sie in den folgenden, ausgewählten Miniaturen nachlesen.

The Lady Vanishes (GB 1938)

Es gibt da diese Fähigkeit Hitchcocks, die im Übrigen auch Lynch besitzt, jeden noch so billigen Effekt auszuspielen wie ein Ass. Zum Beispiel am Anfang von The Lady Vanishes: Aus der Nähe betrachtet haben wir eine Tricksequenz lumpigster Sorte: Einen Modellzug, der in ein Märklin-Dorf fährt. Gemalte Bergpanoramen, an Schnüren gezogene Autos und haufenweise Puderzucker in der Rolle einer niedergegangenen Lawine. In einem nicht weniger studioesken Alpengasthof regt sich Getümmel. Eingeschneite Urlauber schnattern durcheinander – Deutsch, Italienisch, Upperclass-British und alle möglichen seltsamen Sprachen, die sich die Crew vermutlich unter Alkoholeinfluss und viel Gelächter ausgedacht hat. Mit etwas Abstand betrachtet wird gerade diese wenig elegante Szene zur Liebeserklärung an das alte Europa. Zu einer Liebeserklärung nämlich am Vorabend des Krieges. Unter all dem künstlich verschütteten Schnee und Eis ist Hitchcocks kleines Babel äußerst munter. Man redet, neckt sich, flirtet international. Erst am nächsten Morgen gerät die schöne Vision aus den Augen – das Letzte, was man sieht vom gemeinsamen Ort, ist eine unscharfe Rückprojektion im Fenster des schon fahrenden Zuges. Maya McKechneay

Rebecca (USA 1939)

Eben noch hatte die durch und durch unheimliche Mrs. Danvers versucht, der ihr so verhassten neuen Herrin von Schloss Manderley den Sprung aus dem Fenster als einzigen Ausweg aus einem Kostüm-Fehlgriff zu suggerieren, da naht schon der nächste Spannungsmoment. Unten im Bootshaus erleichtert Maxim De Winter endlich, endlich sein Gewissen und erzählt seiner schüchternen, ihm so liebend ergebenen Ehefrau das Geheimnis ihrer Vorgängerin Rebecca. Und er schildert, wie diese damals ums Leben kam. Beschreibt die letzte, von Abneigung und Hohn erfüllte Begegnung, spricht von Erpressung und Gewalt. Der Blick der Kamera streift über das leere Sofa durch das leere Zimmer, folgt der Bewegung der schönen bösen Frau, die nicht da ist und doch immer anwesend war, und die jetzt plötzlich sehr konkret wird. Präsent in einem imaginären Raum der Vergangenheit, der aus Kamerafahrt und Off-Stimme entsteht. Hindurch geht der Schatten einer Todesdrohung. Stolpert, stürzt, stirbt. Und hinterlässt eine Verheerung, aus der eine neue Liebe sich mühsam wird hervorarbeiten müssen. Alexandra Seitz

Foreign Correspondent (USA 1940)

Ob meine Höhenangst aus Hitchcock-Filmen kommt, oder ob diese Furcht in einer ganzen Reihe von Bildern-Szenen-Sequenzen des Masters of Suspense nur ihren besonders geeigneten Verstärker gefunden hat, ich weiß es nicht. Foreign Correspondent etwa, das sind in meiner Erinnerung viele Treppen ohne Geländer. Vor allem in der Mühle, wo der holländische Politiker Van Meer (Albert Bassermann) gefangen gehalten wird: Stiegen, die furchtbar schmal und waghalsig in die Höhe streben, als wäre man in einem expressionistischen Film. Schreiend unrealistisch, aber trefflich meine Ängstlichkeit bedienend. Joel McCrea, der die Hauptrolle spielt, schwebt immer wieder in Gefahr, abzustürzen oder irgendwo hinab gestoßen zu werden. Stetig muss er, um sich aus den unterschiedlichsten Gefahren zu retten, raus aus dem Fenster. Unweigerlich hoch oben; schmales Gesims unter den Füßen; danach nur noch Abgrund. Einmal balanciert er an einer Regenrinne entlang, vorbei an einer dieser wunderbaren Leuchtreklamen, die den Namen eines HOTEL EUROPE in die städtische Nacht tragen, und als er einen der Lichtstäbe berührt, erlöschen die Buchstaben E und L von HOTEL. Was in der Dunkelheit stehen bleibt, ist dann nur HOT EUROPE. Beiläufig kommt die Atmosphäre der Story – angesiedelt kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – auf einen schönen Punkt. Eine souverän ausbalancierte Operation. Absturzgefahr gebannt. Ralph Eue

Wenn Sie jemand fragt: „Wie heißt der Hitchcock-Thriller mit der großartigen Sequenz, in der jemand von einem Kirchturm stürzt?“, dann lautet die korrekte Antwort selbstverständlich: „Foreign Correspondent!“ Johnny Jones (Joel McCrea), US-Journalist in London auf der Spur eines faschistischen Spionage-rings, fährt mit seinem neuen Bodyguard Mr. Rowley (Edmund Gwenn, gedrungen und gesprächig) durch London. Der nette ältere Herr ist allerdings vom Feind bestellt: Unter dem Vorwand, sie würden verfolgt, lockt er Jones auf den Turm der Westminster Cathedral und zeigt ihm auf der Aussichtsebene dies und das, ständig darauf lauernd, dass die Touristen die beiden für einen Moment allein lassen. Das dauert lang; so lang, dass der Suspense zur Komik ausfranst und Mitleid für den armen Killer aufkommt. Endlich – Rowley hat inzwischen den Ehestreit eines Touristenpaares beschwichtigt und Jones zweimal vom Lift zurück zur Brüstung gelockt – nimmt er hinterrücks Anlauf für den tödlichen Schubs. Die Einstellung weitet sich, holt Luft. Rowley rennt los und – die Konventionen sind selten auf der Seite der Nebenfiguren – fällt selbst in sein Verderben: Die traurigste Szene der schwärzesten Ealing-Komödie, die niemals gedreht wurde. Joachim Schätz

Notorious (USA 1945)

Alles ist im Fluss in diesen letzten Filmminuten; die Starre der Gefühle bricht auf. Die Zuversicht des Märchens erfüllt sich. Devlin (Cary Grant) findet in seine Rolle als Ritter, der die Prinzessin Alicia (Ingrid Bergman) aus dem verwunschenen Schloss befreit. Endlich ist er bereit, ihr seine Liebe zu gestehen. Sie ist benommen vom Gift, das ihr die Schwiegermutter verabreicht hat. Wie in Trance nimmt sie ihre Rettung wahr. Die Kreisfahrten der Kamera sind ganz auf ihre Gesichter konzentriert. Diese intime Nähe hält Hitchcock aufrecht, als sie das Schlafzimmer verlassen und langsam die Freitreppe hinunter gehen. Ihr Ehemann Alex (Claude Rains) erscheint, aber auch bei der Schuss-Gegenschuss-Folge bleibt die Kamera stets in Bewegung. Seine Mutter taucht auf, aber auch sie muss sich dem Gesetz der sanft-entschiedenen Agilität unterwerfen. Nur die Nazi-Spione, die zunächst in einer mulmigen Totale zu sehen sind, bleiben unverrückbar in ihrer Position. Offenheit und Fremdbestimmung kollidieren in diesem Widerspiel von Stasis und Dynamik. Das Gegenläufige wird für einen Augenblick harmonisiert – und Devlin und Alex müssen, um Alicias Willen, kurzzeitig als Komplizen agieren. Es liegt eine große Brutalität darin, wie sie Alex zurücklassen. Das Ende hält eine wehmütige Balance von Erlösung und Verdammnis. Gerhard Midding

Rear Window (USA 1954)

Als „vollkommen filmischen Film“ bezeichnete Hitchcock Rear Window gegenüber Truffaut. In keiner Szene wird dieses Versprechen besser eingelöst als im Nachspiel des ersten Streits zwischen Jeff (James Stewart) und Lisa (Grace Kelly). Während Lisa das vom Restaurantservice gebrachte Essen auftischt, lässt Jeff den Blick über den Hinterhof schweifen. Gegen-über bereitet Miss Lonelyheart ebenfalls ein romantisches Dinner vor, doch niemand wird kommen, um es mit ihr zu teilen. Weiter links hat Miss Torso dagegen gleich drei Männer zu Gast, die um sie buhlen. Das frisch verheiratete Paar ganz links hat immer noch nicht das Rollo vom Schlafzimmer hoch gemacht. Während das Ehepaar Thorwald von gegenüber sich streitet und rechts der einsame Musiker am Klavier seinen Song nicht fertig bekommt. Es ist, als ob der gesamte Hinterhof zur großen Leinwand wird, auf die Jeffs Wünsche und besonders seine Ängste projiziert würden – vor den Fesseln der Ehe, aber auch vor Nebenbuhlern und besonders vor Einsamkeit. Ein innerer Monolog, der in einem Roman Seiten füllen würde, wird in wenigen Einstellungen zum Bild. Kein Wort wird benötigt. Vollkommen filmisches Kino. Sven von Reden

The Man Who Knew Too Much (USA 1955)

Doris Day und James Stewart als amerikanisches Arztehepaar betreten ein Restaurant in Marrakesch; sie werden zu einem niedrigen Tisch geleitet, drum herum breite Sitzbänke mit niedrigen Kissen als Lehnen. Day setzt sich, Stewart steigt über sie drüber, versucht sich anzulehnen, kippt nach hinten, weiß nicht, wohin mit seinen Beinen; sie tauschen die Plätze. Die Kamera ist auf der Höhe von Days Gesicht, das man einen Moment, als Stewart wieder über sie steigt, zwischen seinen gespreizten Beinen sieht. Stewart setzt sich wieder, kippt dabei fast den Tisch um, ein Kellner kommt mit einer Kanne heißen Wassers und einer Schale – was tun? Mit der nachsichtigen Arroganz, die einheimische Gastronomen Touristen gegenüber an den Tag legen, wird Stewart zurechtgewiesen: Man wasche sich die Hände vor dem Essen, man esse nur mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger; schließlich gelingt es Stewart nicht einmal, das Brot zu brechen. Eine Szene, die das ganze Unwohlsein des straighten Amerikaners in einer Fremde, deren Kultur und Sprache er nicht versteht, ausdrückt. Und wie man weiß, nimmt in Marrakesch alles Unheil seinen Anfang: The Man Who Knew Too Much. Daniela Sannwald

North by Northwest (USA 1958)

Hitchcock ist ein Regisseur, bei dem ich nicht in einem versteckten Winkel nach einer Lieblingsszene suchen muss: Er war ein Regisseur, der auch in seinen hoch budgetierten Produktionen keine bequemen Lösungen suchte. North by Northwest ist dafür ein gutes Beispiel, besteht der Film doch aus einer einzigen Kette szenischer Einfälle. Und doch erweist sich ein Glied stärker als alle anderen: Die berühmte „dust cropper scene“, in der Cary Grant von einem Flugzeug durch ein Maisfeld gejagt wird. Was diese – ganz übliche – Zusammenfassung vergisst, ist der Aufbau der Szene, ihre Komposition (in) der Zeit. Es dauert nämlich eine ganze Weile, bis das Flugzeug auftaucht. Hitchcock lässt seine Figur an einer dieser endlosen amerikanischen Landstraßen im Ungewissen warten. Die Leere der Szenerie lädt jede noch so unbedeutende Veränderung mit Bedeutung auf. Alles ist signifikant, wo nichts nach Variation aussieht: Jedes Auto und jede Person, die sich nicht einfach vorwärts bewegt, erregt Verdacht. Typisch, dass dann das Flugzeug im ersten Moment gerade nicht aus der Ordnung der Landschaft fällt. Es muss vielmehr erst durch einen Fremden verdächtigt werden. Umso mehr zielt es dann im Sturzflug auch uns Zuschauer an: uns, die wir nichts dergleichen erwarten würden. Dominik Kamalzadeh

Marnie (USA 1963)

Vielleicht liegt es am minzgrünen Cover der Bücher, vielleicht auch an der Tatsache, dass die Titel nur ganz kurz eingeblendet sind, so dass man sie kaum lesen, geschweige denn abspeichern kann: „Animals of the Seashore“ gleich zwei Mal (dahinter das süffisante Gesicht von Sean Connery), nur ein einziges (und damit betont signifikantes) Mal hingegen das fast schon legendäre Buch zum Film: „Sexual Aberrations of the Criminal Female“. Nicht die seltsam-obskuren Sachbuchtitel selbst haben sich ins Gedächtnis geritzt, sondern das einzigartig verheißungsvolle Gefühl, dass sich hinter diesen minzgrünen Deckeln der eine wahre Schlüssel zu allem, vor allem aber zum großen Rätsel Marnie(s) verbirgt. Naturgemäß ist aber gerade dieses Gefühl abgründig trügerisch, denn hinter jedem Zeichen (ob Farbe, Ding, Geste, Name) steht immer wieder nur der Verdacht auf einen neuen Hin- und Verweis. Einer Kette an Signifikanten ist man ausgeliefert, einer ewigen Verschiebung, einem Labyrinth der indexikalischen Spuren. Auch wenn es gerade in Marnie zu einer ziemlich eindeutigen Auf-Lösung nicht nur der Zugangs-Codes zu den Geldsafes, sondern auch der weiblichen Frigidität kommt (die die Filmwissenschaft nicht müde wird als platte Pseudo-Psychoanalyse des Cameo-und-MacGuffin-Meisters zu entlarven), so ist doch auch hier ein Nabokovscher Ludismus am Werk, ein Andeutungsreigen, der Tippi Hedren nach ihrer Tour de force zurück in die Kindheit letztlich im offensten aller Enden ankommen lässt: im Hafen der Ehe. Wie sieht der Alltag des Traumpaares („You Freud – me Jane“) wohl aus? Gibt es Couch-Szenen? Oder doch eher Bett-Szenen? Und last but not least: Liest Marnie endlich die minzgrünen Bücher? Oder bleibt’s dabei (cool wär’s!): „In case you didn’t recognize it: That was a rejection!Barbara Wurm