„Alive!“ erzählt von der Blutrache in Albanien, interessiert sich aber für etwas ganz Anderes. Ein Film, dessen Bilder das sabotierte ökonomische Fortkommen eines Landes betrauern.
Freunde, die einem im richtigen Moment eine Waffe bringen … Sind das gute oder doch die falschen Haberer? Student Koli (Nik Xhelilaj als hochattraktiv ausgeleuchteter George-Michael-Verschnitt) nimmt das Geschenk an, das ihm mitten im partyfreundlichen Studentenmilieu Tiranas die Abgesandten des Hinterlandes überreichen. So holt das Thema der Blutrache, das im Drehbuch von Artan Minarolli die längste Zeit des Films wohl absichtsvoll an den Rand gedrängt wird, noch einmal Schwung, um sich wenig später in einem fast beiläufig erzählten Vor-Finale zu entladen. Minarolli macht indes Momente wie diese zum Sinnbild dafür, dass in Albanien etwas schiefläuft. Eine kulturelle Schieflage, die das ökonomische Fortkommen hemmt und die Individuen einer hoffnungsfrohen Aufbaugeneration zerstört, das ist der Nukleus der Story. Der Tod kommt dann zwar trotzdem, aber ganz anders, jedenfalls auf eine Ästhetik und Stoßrichtung des Films prägende Weise, aber dazu später.
Für eine Geschichte, die mit Begriffen wie Blutrache operiert, kommt die Produktion mit der kleinstmöglichen Menge roter Farbbeutel aus. Selbst wenn man Koli als moderne Version des Nationalhelden Skanderbeg sehen würde, der schon vor Jahrhunderten versucht haben soll, das Land zu einen und die Bubenidee von der sühnenden Blutrache auszutreiben, scheint das Thema Vendetta in dieser Geschichte nicht die größte Katastrophe zu sein. Dass hoffnungsfrohe Entrepreneur-Typen wie Koli ihr Potenzial nicht abrufen und damit den Staat nicht weiter vorantreiben können – hinter dieser Idee scheint in Alive! weit mehr Emotionalität zu stecken als in der Darstellung überkommener Strukturen. Der Film strebt – wie schon der Titel eine trotzige Absage an den Tod ist – hin zu einem gewissen Zukunftsoptimismus. So fragt man sich auch, ob es der ökonomische Wandel oder schlicht die Koproduktionsstruktur ist, die den filmischen Avatar Albaniens derart aufpoliert hat. So aufgeräumt wie in diesem Werk zeigte sich der kleine Balkanstaat noch nie. Sicherlich, die Auto-Waschanlage im Dorf ist von Wellblech gesäumt. Aber da stehen auch bunte Sonnenschirme wie Urlaubsangebote, und das Dorf selbst, in dem sich der junge Koli vor der Rache eines gegnerischen Familienclans versteckt, trägt seine Armut in recht cleanen Bildern zur Schau. Der Schmutz, der für die Authentizitätsweihen des Elends sonst vor den Kameras zusammengetragen wird, fehlt hier irgendwie. Dafür haben viele einen Plan, es in ihrem Leben oder einfach nach dem gelobten Tirana zu schaffen. Agonie sieht jedenfalls anders aus.
Gegensätze
Dass auch ein Film über Blutrache mit harmlosen Bildern beginnen darf, mit Disco-Szenen und unter Jugendlichen, die einander freundlich necken, ist durchaus in Ordnung. Es ist bekannt, dass Unheil sich immer hintergründig aufbaut. Zudem sollte auch hinsichtlich des Plots etwas vorhanden sein, das zu verlieren sich lohnt. Alive! baut sich aber anders als die Vendetta-Filme, in denen sich süditalienische Familien nicht ohne Pathos dezimieren, auf. Minarollis Film ist das Kunststück, sich des Topos der Blutrache zu bedienen, ohne aber von diesem zu erzählen. Das geht so: Die Geschichte treibt Koli aus seinem Studentenumfeld in das heimatliche Bergdorf zurück, wo nach dem plötzlichen Tod des Vaters nun eine alte Blutschuld auf ihn umgewälzt wird. Schon die Fähre über einen felsgesäumten Stausee und später der gerissene Seilzug, den Koli und sein Freund als Jugendliche einmal zum Spiel über einen Bach gespannt hatten, signalisieren kulturelle Übertritte nicht zum Positiven. Tatsächlich lässt sich mit der in Tirana erworbenen Ratio mit dem gegnerischen Familienbund schlecht verhandeln. Als aber alle dramaturgischen Wegweiser auf Soziografie justiert sind, schlägt das Drehbuch eine andere Richtung ein. Das Dorf näher der Zivilisation Tiranas, in dem sich Koli „versteckt“, wartet aber mit einer völlig anderen Tonart auf. Im Stil von Kusturica- und Paskaljevic-Filmen (mit Humor, aber ohne dessen Schwärze) wird hier ironischer Mehrwert aus sozialer Heterogenität und der Diskrepanz aus verkündeter Aufbruchstimmung und ökonomischer Stagnation gewonnen. Ein in grotesken Perspektiven gefilmter Erdhügel wird von unterschiedlichsten Menschen erklommen, weil es nur dort Handy-Empfang gibt. So baut Minarolli drei quasi-kulturelle Entwicklungsstufen zur Genesung: vom vorgestrigen Bergdorf zur indifferenten Provinz hin zum globalen Dorf namens Tirana. Wer zurückschaut, ergo zurückgeht wie Koli, läuft Gefahr, sich zu infizieren. So scheint auch die Stadt bei Kolis Rückkehr ihre bösen Scherze mit ihm zu treiben. Selbst die Straßenkehrer am Nebentisch eines Lokals prosten einander „auf ein langes Leben“ ihrer Kinder zu. Dass junge Leben wie das Kolis verschwendet werden, hat aber größere Ursachen. Der stagnierende Krimi und die netten Settings werden schlüssig, als der Protagonist am Ende den Anschluss an die Realität zu bewerkstelligen hat. Er steigt als Flüchtling auf eine Fähre Richtung Italien, diese kentert. Der Film, im Kontext der Migration, von hinten aufgerollt, macht plötzlich deutlich, was hier versucht wurde: aus dem alltäglichen Leben eines Menschen zu erzählen, den das Phänomen der Migrationsbewegung stärker zum Protagonisten dieser Erzählung als der kulturell und filmisch überwuzelte Topos der Blutrache geformt hat.
Alive! funktioniert insofern auch anders als jene albanischen Produktionen der letzten zehn Jahre, in denen sich Folklore, Clans und Chaos zu einer dramaturgischen Formel auswegloser Rückständigkeit verbinden; daneben noch ein bisschen den Geist jener Zeit des Bunkersozialismus reproduzieren, weil sie gleichermaßen mit dem „Charme“ von dessen Bildern spekulieren. Europäische Gelder leisten Aufbauarbeit, wenn Figuren wie aus Italo-Filmen der Siebziger Jahre auf Gypsytum treffen. Das Delektieren an kulturellen Zuschreibungen wird möglich, indem man sie ins filmische Fach verschiebt. Die Themen werden damit zu nützlichen Aporien einer eigenen Realität: Zwangsheirat (Der Albaner 2010; DE/AL; mit André Hennicke; Regie: Johannes Naber), Bandenkriege und zahnlose Medienkritik (Magic Eye 2006; DE/AL; Regie: Kujtim Çashku); Gypsy-Folklore (Mao ce dun 2007; AL; Regie: Besnik Bisha); die Wirren der fast verpassten Revolution (East, West, East: The Final Sprint 2009; IT/AL; Regie: Gjergj Xhuvani); Familiengewalt und Flucht (Eduart 2006; GR/DE/AL; schon hier mit André Hennicke, dessen Type auf Balkan gepachtet scheint); Kommunismus, Untertanentum und persönliche Rache (Slogans 2001; FR/AL; Regie: Gjergj Xhuvani); Alltagswirren und Fluchtaspirationen (Tirana viti zero – Tirana im Jahre Null 2002; FR/AL; Regie: Fatmir Koçi).
Paskaljevics Honeymoons
Kleiner Exkurs: Eine der Produktionen, die es auf die Festivals der Welt geschafft und Albanien nicht als Pott, der sich nach Belieben mit lohnenden Ideen füllen lässt, versteht, ist Goran Paskaljevics jüngste Arbeit, die tiefschwarze Komödie Honeymoons (2009). Die Wege zweier Paare aus Belgrad und den Bergen Albaniens überkreuzen sich hier in einem durch Chauvinismus und Ressentiments aufmunitionierten Raum, in dem Paskaljevic wie gewohnt den Blick der Zuseher nicht im Strudel der Geschehnisse zu zerstreuen versucht, sondern eine Trauer über seine Bilder legt, die sich aus dem Abwesenden, aus verlorenen Werten speist. Auch wenn hier wahlweise (Wodka-)Flaschen oder Nasen zerschlagen werden, Feste gefeiert und schäbige Interieurs dramaturgisch ausgiebig gewürdigt werden, kommt Paskaljevic seine Meisterschaft nicht abhanden, Tableaus mit brüchigen Oberflächen zu zeichnen, aus deren Rissen und Löchern sich das Wissen um eine andere Welt bahnt. So bleibt auch in Honeymoons den Akteuren die unfreiwillige Wahl der Migration nicht erspart. Nur wirft der Filmemacher den Leuten noch einen letzten Blick über das Meer nach, um das Imago des „Westens“ (ähnlich wie in einigen jüngsten rumänischen Produktionen) zu zerschlagen. Nach Paskaljevics beinharter Serbischer Trilogie The Powder Keg, Midwinter Night’s Dream und The Optimists stellt er in dieser ersten serbisch-albanischen Produktion noch einmal die Frage nach den Möglichkeiten, als junger Mensch sein Leben zu gestalten. Im Gespräch zeichnet der Filmemacher ein deutlich positiveres Bild, als es Filme nahe legen. Vor allem die nationalistischen Töne, die sich in Serbien exemplarisch am Kosovo (dem historischen Gründungsmythos Amselfeld) festmachen, fand Paskaljevic während seiner Arbeitsbesuche nicht vor. Ein Sir, der sagt: „Ich habe mit meiner Crew einige Zeit in Albanien verbracht, wir haben alle unsere Vorurteile verloren. Wir erhielten ein völlig anderes Bild des Landes, das die gleichen Bedürfnisse hat wie wir auch. Ein Land in dramatischer Veränderung, so wie alle ehemals sozialistischen Länder. Die Verquickung von Kriminalität, Wirtschaft und Politik nach der Liberalisierung gibt es heute in all diesen Gesellschaften, leider. Während die Leute zunehmend ärmer werden, tummeln sich darunter die Millionäre.“ Wie tröstet man sich in Honeymoons gerne: „Never mind.“ Aber das ist selbstverständlich nicht ernst gemeint.