Magisch-sinnliches Beziehungs- und Gesellschaftsporträt
Mumbai vor Sonnenaufgang: In der langen dokumentarisch anmutenden ersten Einstellung sieht man Menschen, die auf den noch dunklen Straßen der Stadt bereits eifrig in Bewegung sind, Autos und Mopeds rollen schleppend dahin, Marktstände werden aufgebaut, Gemüse sortiert, Lastwägen be- und entladen. Von den über 17 Millionen Einwohnern sind viele hierhergezogen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Einsamkeit, Instabilität und Vergänglichkeit mischen sich mit Hoffnungen, Sehnsüchten und Zukunftsvisionen. Im Vergleich zu vielen anderen Orten im Land ist es hier auch für Frauen einfacher, Arbeit zu finden. Trotz der finanziellen Unabhängigkeit haben ihre Familien jedoch nach wie vor einen starken Einfluss auf sie.
Der erste Langspielfilm der indischen Filmemacherin Payal Kapadia widmet sich dem Leben und Schicksal dreier solcher Frauen: Die Krankenschwester Prabha hat von ihrem in Deutschland lebenden Ehemann seit einem Jahr nichts mehr gehört. Die Ungewissheit und der Schmerz halten sie in der Vergangenheit gefangen und erlauben ihr nicht, auf die Avancen des schüchternen Arztes Dr. Manoj einzugehen. Ihre junge Kollegin und Mitbewohnerin Anu ist indes damit beschäftigt, die Beziehung mit ihrem muslimischen Freund vor der strikten hinduistischen Familie geheim zu halten. Die gemeinsame Freundin Parvaty ist verwitwet und kämpft gegen einen Bauunternehmer, der sie aus der langjährigen Wohnung delogieren möchte.
Die Charaktere und Handlungsmotive der drei Frauen sind unterschiedlich, ihre grundlegenden Werte und Wünsche verbinden sie jedoch: Sowohl Prabha als auch Anu und Parvaty sehnen sich nach Sicherheit, Liebe und Geborgenheit; danach, sich fallen lassen zu können und aufgefangen zu werden. Sie sind stark – nicht unbedingt, weil sie es sein wollen, sondern weil ihnen keine andere Wahl bleibt. Umso schöner ist es, mitzuverfolgen, wie zwischen den drei Frauen ein immer stärker spürbarer Zusammenhalt entsteht, der ihnen letztlich zu mehr Freiheit und Selbstwirksamkeit verhilft.
Kameramann Ranabir Das fängt die subtilen inneren und äußeren Bewegungen der Charaktere in ruhigen, sinnlichen Bildern ein, umhüllt von den tanzenden Lichtern der Stadt und vom prasselnden Regen. Es ist eine spezielle Art der Intimität, die dadurch entsteht. Emotionen entfalten sich in den Zwischenräumen von Licht und Schatten und lassen die kleinen entscheidenden Momente wahrnehmen, die sonst nur allzu leicht in der Hektik des Alltags verloren gehen. All We Imagine as Light wurde bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.