Und der diesjährige Cannes-Gewinner ist: Sean Bakers „Anora“, ein Film, der bezaubert und dem Kino einen Publikumsliebling beschert.
Mit Red Rocket setzte Sean Baker 2021 im Wettbewerb von Cannes ein Zeichen. Sein düster-witziges, schonungslos menschliches Porträt eines abgehalfterten Pornostars, der in seine texanische Heimat zurückkehrt, um dort sein spätes Glück zu suchen, wirkte auf den ersten Blick mächtiger, gewollter, in gewisser Weise dicker aufgetragen als seine bisherigen Werke. Daran hatte Simon Rex in der Hauptrolle keinen unwesentlichen Anteil. Der Größenwahn seiner Figur war so stark, dass sein Sturz in den Abgrund umso schmerzlicher erschien.
Anora folgt diesem Trend, die Dinge zu beschleunigen, aufzutürmen und trotzdem verliert Baker auch hier sein ultimatives Ziel nicht aus dem Auge, nämlich immer das Menschliche im Absurden zu suchen, worauf er sich so gut versteht. Sein neues Drama ist eine turbulente, publikumswirksame Achterbahnfahrt über eine junge Stripperin in New York und einen ihr zu Füßen liegenden russischen Oligarchen-Sohn.
Kein Wunder, denn Anora (Mikey Madison), die lieber Ani genannt wird, ist verdammt gut in ihrem Job – strahlend, selbstbeherrscht und schlagfertig. Nicht nur durchschaut sie ihre Kunden sofort, sondern versteht es brillant, ihnen das Gefühl zu geben, in ihrer Gesellschaft perfekt aufgehoben zu sein. Zudem spricht sie fließend Russisch, was sie für Ivan aka Wanja (Mark Eidelstein) im Nachtclub zur perfekten Wahl macht. Der 21-jährige ist ein VIP-Kunde, ein reicher Schnösel, der seine Tage in der elterlichen Villa in Brighton Beach mit endlosen Partys und Videospielen vertrödelt. Dazwischen hat er ausgiebigen Sex in Windeseile, bald nur noch mit Ani, für den er gerne bar bezahlt. Vom ersten Tanz an ist er von der jungen Frau verzaubert und wird entsprechend schnell übermütig. Es dauert nicht lange, bis ihre Abmachung von einer gemeinsamen Nacht in seinem Haus bis hin zu einem einwöchigen All-Inclusive-Deal reicht. Ihre gemeinsame Zeit gipfelt in einer spontanen Reise nach Las Vegas und dort kommt es, wie es kommen muss: Als sie nach New York zurückkehren, sind sie nicht mehr Kunde und Escort, sondern Ehemann und Ehefrau – sehr zum Leidwesen von Wanjas Eltern.
Ohne zu viel verraten zu wollen: Anora ist großes Kino, ein Glücksfall, wie man so schön sagt. Baker hat eine überdrehte und zugleich bestürzend menschliche Pretty-Woman-Fantasie im Stil einer Screwball-Komödie gezaubert, die von einer chaotischen Energie zu ihrem dramatischen Kern getrieben wird.
Die Jury unter dem diesjährigen Vorsitz der US-amerikanischen Regisseurin Greta Gerwig zeichnete Anoramit der Goldenen Palme aus – ein wohlverdienter Gewinn. In ihrer Begründung beschrieb Gerwig den Film als ein Werk „das uns das Herz brach und dabei nie die Wahrheit aus den Augen verlor“. Anschließend widmete Baker den Preis „allen Sex-Arbeiterinnen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“
Ein weiterer Preisträger soll hier zudem nicht unerwähnt bleiben: Der iranische Regisseur Mohammed Rasoulof wurde in Cannes mit einer Spezial-Palme ausgezeichnet. Rasoulof war kurz vor Beginn des Festivals aus seiner Heimat geflüchtet, wo er mehrfach zu Haftstrafen und Hausarrest verurteilt worden. Im April wurde ihm erneut der Prozess gemacht. Die Folge: Weitere acht Jahre Gefängnis mit Auspeitschungen, dazu eine Geldbuße und die Beschlagnahmung seines Eigentums. Sein Film Die Saat des heiligen Feigenbaums, der den diesjährigen Wettbewerb beschlossen hatte, erzählt von den Protesten im Iran nach dem Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini.
Die französische Regisseurin Coralie Fargeat erhielt am Ende den Preis für das beste Drehbuch für ihren Film The Substance, der unter den Kritikern lange als Favorit gehandelt wurde. Aber das Body-Horror-Spektakel war dann wohl doch etwas zu kontrovers für die Jury. Mit Anora haben sie sich auf einen Film geeinigt, der in jedem Fall ein möglichst breites Publikum anspricht.