Mike Leigh über seinen Film Another Year, Intuition, Charakterdarsteller, die Sixtinische Kapelle und Harvey Weinstein
Man kann sich kaum vorstellen, dass es auch bei Ihrem neuen Film kein herkömmliches Drehbuch gegeben hat, so perfekt funktionieren die Dialoge und der strukturelle Aufbau. Können Sie Ihre filmische Methode näher erläutern?
Mike Leigh: Es gibt niemals ein vorab geschriebenes Drehbuch. Wir erreichen die Präzision dessen, was vor der Kamera geschieht, durch den Prozess der ausführlichen Probearbeit, der normalerweise rund ein halbes Jahr dauert. In jedem meiner 19 Filme gab es wichtige Dinge im fertigen Film, von denen ich zu Beginn überhaupt keine Ahnung hatte. Denn man entdeckt den Film, indem man ihn macht. Bei anderen Kunstformen wie der Malerei, der Bildhauerei, dem Schreiben eines Romans, Gedichts oder der Komposition von Musik funktioniert es ähnlich. Nur bei Filmen wird normalerweise alles bis ins kleinste vorher geplant. Ich hingegen arbeite auf eine altmodische Art, beinahe wie in der Stummfilmära. Das funktioniert aber nur mit hochintelligenten, wandlungsfähigen Charakterdarstellern, die nicht nur sich selber spielen können, sondern reale Menschen darstellen können, die kreativ sind, die recherchieren und, vielleicht am wichtigsten, im Charakter improvisieren können. Beim ganzen Prozess von den ersten Proben bis zum Ende der Dreharbeiten wissen die Schauspieler immer nur das, was ihre Figuren auch wissen. Sie haben keine Informationen über die anderen Charaktere, außer sie erhalten sie in Interaktionen. So kann ich mit jedem Schauspieler einzeln sehr gut arbeiten, um einen Charakter zu erschaffen. Dann lasse ich die Charaktere aufeinander los, und Beziehungen bilden sich. Wir erschaffen eine ganze Welt, eine Geschichte über viele Jahre für die Charaktere, bis wir zu dem Punkt kommen, an dem wir den Film machen können. Szene für Szene, Sequenz für Sequenz improvisieren wir in den Locations, und dann dekonstruiere ich die Ergebnisse der Probenarbeit. Es ist natürlich nicht so, dass überhaupt nichts vorher geplant wird. Ich schreibe knapp vor Drehbeginn eine sehr rudimentäre Struktur für den Film, die natürlich auch praktische Vorteile für den Set Designer oder den Kameramann bietet. Aber diese Struktur verändert sich laufend, und es entstehen immer mehr Fragezeichen auf dem Papier. Das wichtigste ist, dass der Prozess organisch, spontan und lebendig ist. Es geht darum, das Medium Film in seiner ureigenen Sprache zu benutzen, damit es nicht ein toter industrieller Prozess wird. Vielleicht bin ich ja der einzige im Filmbereich, der so arbeitet. Wenn es andere gibt, dann würde ich ihn – oder noch lieber sie – gerne kennen lernen.
Filmen Sie die Probenarbeit eigentlich?
Mike Leigh: Nein, auf keinen Fall. Das wäre ein großer Fehler. Sobald ich damit anfange, unterbreche ich den kreativen Prozess und erschaffe ein unfertiges Artefakt. Die Qualität des Dialogs ist mir sehr wichtig, sie ist geradezu essenziell, aber ich kann nur dann eine Szene schreiben – wenn man dieses Wort verwenden will – wenn ich sie in der Location vor mir sehe. Denn das Zusammenspiel von Worten, Handlungen, Bildern, dem Raum, dem Subtext, Motivationen, Gefühlen, psychologischen Voraussetzungen, Tageszeit, Wetter etc. ergibt erst ein stimmiges Ganzes für mich.
Aber womit fangen Sie an? Viele Regisseure oder Autoren haben als erstes eine Geschichte oder einen bestimmten Charakter im Kopf. Sie gehen wohl eher von thematischen Ideen aus?
Mike Leigh: So etwas wie eine einzelne erste Idee gibt es nicht. Es geht auch nicht so sehr um Ideen, sondern eher um Gefühle. Happy-Go-Lucky begann mit einem Gefühl, entgegen meinem Image etwas Positives machen zu wollen. Andererseits wollte ich einen Film mit Sally Hawkins, mit der ich schon zusammengearbeitet hatte, als zentralem Charakter drehen. Durch meinen Instinkt, der mit den Gefühlen verbunden ist, wusste ich, dass wir etwas sehr Energetisches, Komisches, aber auch Substanzielles schaffen könnten. Im Unterschied zum Vorsatz, dass das ein marxistisch-leninistischer Film wird, der erklärt, wie das Proletariat endlich anfangen muss, sich zu wehren, um das kapitalistische System zu zerstören. Meine Filme sind alle sehr persönliche Filme, und ich kehre immer wieder zu ähnlichen Themenbereichen zurück, die mir am Herzen liegen: Familie, Beziehungen, Einsamkeit, Arbeit, Sex.
Eine „Idee“ ist vielleicht das falsche Wort, mehr ein Impuls für Another Year war, dass ich nach einem Film, wo es hauptsächlich um Leute in den Dreißigern ging, ein Werk über die Perspektive von Leuten in meinem Alter, Ende sechzig, machen wollte. Das ist auch auf einem bestimmten Level ein Thema des Films. Das Vergehen von Zeit in einem fortgeschrittenen Alter, die Hoffnungen und Enttäuschungen in diesem Lebensabschnitt. Aber am Ende ist Filmemachen etwas sehr Praxisorientiertes. Schon wenn ich einen bestimmten Schauspieler besetze, ist dieser Akt ein wichtiger Teil des fertigen Films, auch wenn ich noch nicht weiß, wie der Charakter sein wird, den er spielt. Die Entscheidung für Jim Broadbent, David Bradley und Peter Wight war verbunden mit Bildern von mir selbst und von Freunden, die in meinem Kopf herumschwirrten. Oft weiß ich auch sehr lange nicht, wie der Film ausgehen wird. Wenn man sich zum Beispiel das Ende von Another Year anschaut: Die letzte Szene, die nur aus einer Einstellung besteht, in der alle rund um den Tisch sitzen. Ich könnte diese Sequenz nicht in einem Drehbuch beschreiben. Sie existiert nur während der Dreharbeiten in ihrer kinematografischen Ausprägung. Die Entscheidung für diesen Schluss geschah sehr schnell und intuitiv. In dem Moment, als ich zu Dick Pope, dem Kameramann, sagte, dass die Auflösung für diese Szene eine fließende Bewegung rund um den Tisch sein sollte, war er sehr aufgeregt, denn wir wussten, dass das funktionieren würde, nicht nur, weil es visuell anders war als alles vorher im Film. Die Entscheidung kam auch aus einem Gespür für die emotionale Dynamik in den Figuren in Anbetracht der Spannung zwischen der Zufriedenheit des Ehepaares, dem neuen Glück des Sohnes und der Einsamkeit von Mary.
Genau diese Szene wirkt aber wie lange vorher brillant ausgedacht, es ist schwer zu glauben, dass sie zwar am Ende eines langen Prozesses, aber doch erst vor Ihren Augen entstand, dass Sie sie sozusagen vor Ort erfunden haben.
Mike Leigh: All artists make it up as they go along. Man kann auf dem Boden der Sixtinischen Kapelle liegen und hinaufschauend denken: Das ist sehr gut ausgedacht. Natürlich gab es einen Plan. Aber der Plan ist nicht das Ding an sich, das Ergebnis, das Gemälde. In einem bestimmten Augenblick hatte Michelangelo den Pinsel in der Hand, und genau dann ist es passiert. Wenn er das Bild am nächsten Mittwoch vor dem Mittagessen gemalt hätte, wäre es ein anderes Werk geworden.
Aber wenigstens im Schneideraum kann man von Intentionen, von Planung sprechen?
Mike Leigh: Am Ende sprechen wir vom klassischen Filmemachen, von dramaturgischen Konstruktionen. Man erkennt oft erst dort, dass manche Szenen repetitiv sind. Die Struktur ändert sich meistens noch einmal. Wenn man den Film dreht, ist man zu sehr mittendrin. Man muss einen Schritt zurück machen und das Material mit einigem Abstand sehen. Es ist eine klassische Wahrheit, dass Filme erst im Schneideraum wirklich entstehen.
Haben Sie je bei einem Ihrer Filme, vielleicht Jahre danach, Entscheidungen im Schneideraum bereut?
Mike Leigh: Nicht unbedingt im Schneideraum. Ein doch recht bekannter Fehler unterlief mir ausgerechnet bei Topsy-Turvy, einem der am besten recherchierten Filme der Filmgeschichte. Aber in einer Szene bezieht sich einer der Protagonisten auf Ibsen und erwähnt Oslo, obwohl die Stadt zu der Zeit noch anders hieß. Obwohl wir es eigentlich wussten, ist uns dieser Fehler, auf den uns ein norwegischer Journalist nach der Premiere in Venedig hingewiesen hat, durch das Netz geschlüpft. Und jedes Mal wenn ich dieses Drei-Stunden-Epos sehe, sticht dieses winzige Detail heraus.
Aber was die Anordnung der Szenen betrifft, bereue ich nichts. Der enorme Vorteil an meiner Art, Filme zu machen ist, dass ich zu meinen Financiers sagen kann: Gebt uns das Geld, wir können euch nicht beschreiben, worum es gehen wird, wir werden auch nicht darüber diskutieren. Bitte mischt euch nicht ein und besteht nicht darauf, dass wir Johnny Depp engagieren. Lasst uns einfach in Ruhe arbeiten. Und wenn man seine Ideen nicht rechtfertigen muss wie allgemein üblich, bleibt es privat und fließend. Ich kann die Kämpfe mit mir selbst und den Schauspielern austragen. Ich schätze diese große Freiheit zu experimentieren, um zu einer eigenen Form zu finden im Vergleich zu einer vorgefertigten Agenda, an der man sich abarbeitet. Viele Filmemacher hassen ihre Filme, weil andere sie verstümmelt und zerstört haben, die Harvey Weinsteins dieser Welt. Ich habe da mehr Glück. Ich bezahle den Preis für diese Freiheit, und der heißt: niedrige Budgets. Bei meiner Art zu arbeiten bekommt man es am Ende aber auch so hin, wie es eben zu der Zeit sein sollte. Natürlich könnte ich mir einen Film von vor 20 Jahren mit meiner heutigen Erfahrung anschauen und sagen, vielleicht sind einige Szenen überflüssig, aber das ist normal, dass man sich weiterentwickelt und einem frühere Werke nicht mehr so nahe sind. Vielleicht reagieren die Leute positiv auf Another Year, weil er komplexer und profunder ist, einfach als Resultat der vielen Erfahrungen, die ich – schon beinahe im Rentenalter – als Regisseur und als Mensch gemacht habe.