Minutenlanges Klatschen ist in diesem Jahr in Venedig zum Publikumssport geworden.
Standing Ovations gehören zu einer Festival-Premiere wie der Abspann zum Film. Egal wie gut oder schlecht das gezeigte Werk tatsächlich ist, es wird erst einmal applaudiert. Alle Anwesenden erheben sich, man klatscht, zeigt Respekt. Das kann ein paar Minuten lang so gehen oder auch länger. Und wenn es für den gefeierten Film richtig gut läuft, ist die ausschweifende Huldigung den Branchenblättern am nächsten Tag sogar eine Schlagzeile wert.
Als Pedro Almodóvars Euthanasie-Drama The Room Next Door am Montagabend in Venedig uraufgeführt wurde, bejubelte das Publikum den Films stolze 17 Minuten lang. Es war der bisher längste Beifall, den Premierengäste auf dem diesjährigen Festival miterleben durften – oder mussten. Je nachdem, wie man selbst dem ersten englischsprachigen Werk des Regisseurs gegenüberstand.
17 Minuten, das ist fast ein Sechstel der Laufzeit des Films insgesamt. Aber so darf man die Sache nicht sehen. Auch darf man nicht glauben, dass Standing Ovations ein Maß für Qualität sind. Denn dann hätte der amerikanische Regisseur Brady Corbet mit seinem ambitionierten und ebenfalls begeistert aufgenommenen Jahrhundertwende-Epos The Brutalist den Rekordapplaus verdient. Der Film schaffte es bei der Premiere am Abend zuvor jedoch „nur“ auf 13 Minuten, obwohl das auch schon eine kleine Sensation war. Auf Platz drei der Standing Ovations-Rangliste liegt bisher die William-S.-Burroughs-Verfilmung Queer des Italieners Luca Guadagnino, die 11 Minuten lang beklatscht wurde, wenn auch nicht zurecht.
Diese zweistelligen Applaus-Zahlen lassen die Reaktionen auf zum Teil viel spannendere Festivalbeiträge wie etwa Halina Reijns Babygirl im Vergleich dazu ziemlich blass erscheinen. Dabei ist der Film in Wirklichkeit einer der stärksten im diesjährigen Wettbewerb. Mit der twistreichen Geschichte um eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die in einer Affäre mit einem Praktikanten ihren tiefsten sexuellen Bedürfnissen nachgibt, wagt sich Nicole Kidman einmal mehr und vielleicht weiter denn je aus ihrer Komfortzone heraus. Unter der Regie der niederländischen Regisseurin, die sich zuvor mit der Horrorkomödie Bodies Bodies Bodies einen Namen gemacht hat, wird daraus ein provokanter Erotik-Thriller, der nur im finalen Akt zu wenig Vertrauen in die eigene Stärke aufweist.
Tatsächlich treten bei diesem Festival trotz des enormen Hollywood-Aufgebots jedoch vor allem die Filme in den Vordergrund, die leise bejubelt werden, wie etwa Luis Ortegas Kill the Jockey oder Walter Salles‘ I’m Still Here. Beide Filme hätten bei der Preisverleihung am morgigen Abend eine Auszeichnung verdient. Die besten Chancen hat vielleicht die brasilianische Schauspielerin Fernanda Torres, die in letzterem die Hauptrolle spielt. Salles‘ emphatisches Drama erzählt die Geschichte einer liberalen Mittelklassefamilie, die in Rio de Janeiro zu Beginn der siebziger Jahre ein scheinbar sorgenfreies Leben führt. Doch Brasilien steht unter Militärherrschaft und schon bald stellt die Verhaftung des Vaters seine Ehefrau Eunice (Torres) vor die schwere Aufgabe, den Haushalt allein zu bewältigen und gleichzeitig um die Rückkehr ihres Mannes zu kämpfen, koste es, was es wolle.
Man würde Torres einen Löwen gönnen, auch wenn die Frauenrollen in diesem Festivaljahrgang durch die Bank Eindruck hinterlassen. Neben der bereits erwähnten Nicole Kidman hat auch Angelina Jolie gute Chancen, die in dem Maria-Callas-Biopic des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín als Operndiva auftritt. Maria zeigt diesmal jedoch keine Geschichte einer Emanzipation, wie sie etwa Natalie Portman in Larraíns Jackie-Kennedy-Film verkörperte, oder Kristen Stewart als Prinzessin Diana in Spencer. Vielmehr rollt der Regisseur Callas‘ Leben diesmal von hinten auf. Der Film spielt zu einem Großteil in der Pariser Wohnung, in der die Opernsängerin am 16. September 1977 starb. Vor die Tür geht die Diva in den letzten Tagen vor ihrem Tod nur noch selten, etwa wenn ihr die Anerkennung nicht genügt, die sie von ihrem Hauspersonal erfährt. Und auch der Film bleibt insgesamt auf Abstand zu seiner Hauptfigur, was zu einer seltsam unterkühlten Seherfahrung führt.
Die Gemüter erhitzte dagegen in diesen Tagen ein anderer Film. Am Mittwoch stand die Premiere der Joker-Fortsetzung von Todd Phillips auf dem Programm. Fünf Jahre nach dem Gewinn des Goldenen Löwen kehrt der Regisseur zu den Filmfestspielen zurück. Diesmal lässt er Joaquin Phoenix in der Rolle des unberechenbaren Batman-Widersachers an der Seite von Lady Gaga als Harley Quinn singen und tanzen. Joker: Folie à Deux ist ein Musical-Thriller-Drama der besonderen Art – und nicht für jeden Geschmack.
Wer am Samstagabend den Golden Löwen erhalten wird, ist in diesem Jahr die große Frage. Brady Corbets Monumentalfilm The Brutalist hat vielleicht die besten Chancen. Adrien Brody spielt in dem dreieinhalbstündigen Drama einen ungarischen Juden und Bauhaus-Abgänger, der das KZ überlebt hat und sich in Philadelphia buchstäblich ein neues Leben aufbaut. Parallelen zu epischen Klassikern wie There Will Be Blood sind in der DNA des Films angelegt. Und Corbet hätte für seine Raffinesse und Kompromisslosigkeit in der Inszenierung mehr als nur 13 Minuten Applaus verdient.