Bereits mit seinem zweiten abendfüllenden Spielfilm „Aquarius“ etabliert sich der Brasilianer Kleber Mendonça Filho als großer humanistischer Kino-Autor.
Dem Ozean entsteigt sie fast wie ein Bond-Girl. Ein in die Jahre gekommenes, aber ein emanzipiertes, selbstbewusstes Bond-Girl. Den Abschluss ihrer Morgenroutine bilden ein paar Martial-Arts-Moves. Wer die an Famke Janssens Xenia Onatopp (GoldenEye, 1995) oder Grace Jones‘ May Day (A View to a Kill, 1985) erinnernde Entschlossenheit und Präzision bemerkt, mit der sie diese Bewegungen ausführt, ahnt schon, dass diese Frau sich für einen bevorstehenden Kampf in Schuss hält. Clara ist eine verwitwete, pensionierte Musikkritikerin und verbringt ihre Tage in der beschaulichen Stadtstrand-Atmosphäre der Küstenmetropole Recife im Nordosten Brasiliens. Ihr großzügiges, stilsicher eingerichtetes Apartment ist vollgeräumt mit Schallplatten und Erinnerungsstücken aus ihrem 65-jährigen Leben. Mit Freundinnen beim Ausgehen, Scherzen, Tanzen und Flirten lässt Clara es sich gut gehen, im Kreis ihrer Lieben freut sie sich an den Enkeln. Trotz einiger Narben, die das Leben an ihr hinterlassen hat, könnte alles ganz entspannt sein, stünden da nicht regelmäßig die Leute eines Baukonzerns vor ihrer Tür. In vorgetäuschter Freundlichkeit weisen sie Clara darauf hin, dass sie die letzte noch verbliebene Bewohnerin dieses Hauses sei und sich das nochmals aufgebesserte Angebot des Unternehmens doch bitte zu Herzen nehmen möge. Weil Aquarius aber den Namen des gefühlt hundertjährigen, in Blau gehaltenen „Edifícios“ trägt, weil Clara nicht im Traum daran denkt, ihre Wohnung aufzugeben und weil sie, siehe oben, den Geist einer Kriegerin hat, wird Clara der Verlockung erneut widerstehen. Der Verlockung nämlich, der die restlichen Mieter des Aquarius bereits erlegen sind: eine hohe Auflassungssumme zu kassieren bzw. die Aussicht, nach dem Abriss des keineswegs baufälligen Hauses im stattdessen zu errichtenden Luxuskomplex mit höherem Komfort wieder einzuziehen.
Kritiker und Kreativer
Kleber Mendonça Filho, der 48-jährige Drehbuchautor und Regisseur von Aquarius, ist in Recife aufgewachsen. Die meisten filmischen Arbeiten des vormaligen Filmkritikers spielen hier, von experimentellen kurzen Arbeiten bis zu seinem herausragenden und mehrfach ausgezeichneten Langspielfilmdebüt O Som Ao Redor (Neighbouring Sounds, 2012). Ein Thema, das so alt ist wie das Medium selbst und mit seiner eigenen Doppelrolle zu tun hat, liegt Mendonça Filhos Dokumentarfilm Critico (2008) zugrunde: der Konflikt zwischen den Machern und professionellen Beobachtern von Filmkunstwerken. Im Lauf von acht Jahren gesammelte Stimmen von 70 Kreativen, Kritikern und Cineasten aus Brasilien, Europa und den USA vereinen sich in Critico zu einem Chor gegen die reine Industrialisierung, Kommerzialisierung und Entmenschlichung sowohl der Filmherstellung als auch der Filmbetrachtung. Unter anderem mit schönen Bewegungsstudien aus der Geschichte des Kinos interpunktiert, ist das teils wie aus der Hüfte geschossene Video nicht zuletzt ein Manifest Mendonça Filhos persönlicher Erfahrungen in beiden Funktionen.
Inzwischen hat der humanistische Kritiker sich als humanistischer Filmemacher etabliert. Bereits nach zwei abendfüllenden Spielfilmen lässt sich so etwas wie eine Handschrift ausmachen. Sowohl in O Som ao Redor als auch in Aquarius etabliert Mendonça Filho einen eingegrenzten Ort mit seinen Besonderheiten wie einen eigenen Hauptcharakter, porträtiert in sorgfältig durchdachten, detailfreudigen Einstellungen die dort ansässigen Figuren in ihren familiären und sozialen Verstrickungen und induziert dahinter Fragen von Recht, Moral, ökonomischer Macht, gesellschaftlichem Status und historischer Verantwortung in einem größeren Zusammenhang. Dabei versteht er es, ein zunächst unterschwelliges Gefühl der Bedrohung zu evozieren, aus Konflikten zwischen Figuren, aus Blickführung und Geräuschen, aus überraschenden Momenten und traumgleichen Einschüben Spannung zu erzeugen. Beide Filme zeigen nicht zufällig ein Schild am Strand, das vor Haien warnt. Und beide Filme lösen am Ende nicht ihre Handlungsstränge auf, sondern schließen jeweils mit einem originellen Knalleffekt, welcher den Film im Kopf der Zuseherin und des Zusehers weiter wirken lässt.
Blicke und Töne
„Nachbarliche Geräusche“, so könnte man O Som ao Redor übersetzen. An dem fabelhaften Soundteppich, der sich zwischen Haushaltsgeklapper, Treppenknarzen, dem Surren von Klimaanlagen oder Sicherheitstüren, fernen Sirenen und undefinierbarem Elektro-Wummern wie ein Horrorfilm außerhalb des Bildrahmens aufspannt, hat Kleber Mendonça Filho selbst mitgewoben. Doch mehr noch als um Töne ist es seinem Porträt eines Mikrokosmos von Wohlstandsverwahrlosten um Blicke zu tun: den nachsichtigen Blick eines Patriarchen auf den missratenen Enkel, den dünkelhaften Überwachungsblick von Wohnungseigentümern auf ihren alternden Portier, den flüchtig verliebten Blick eines Wohlbestallten auf seine Eroberung. Den neidischen Blick auf die Nachbarn und ihre Besitztümer. Den kratzbürstigen auf die Schwester, den herrischen oder den klandestin begehrlichen auf das Zimmermädchen. Wir sehen eine genervte Hausfrau, die ihre Kinder in Mandarin unterrichten lässt, aber einen Privatkrieg gegen den Nachbarhund beginnt, die sich zu Trinkwasserkanistern Dope mitliefern lässt und so krampfhaft zu entspannen versucht, dass sie sogar mit ihrer Waschmaschine Sex hat. Wir sehen ein renoviertes Apartment, dessen tragische Geschichte getilgt werden soll, wir sehen den Himmel und die sterile Skyline von Recife und die raue See in der Nacht. Es geht um den verdrängten Blick in eine feudale Unrechtsvergangenheit und um den ängstlichen Blick in eine Zukunft, die von dieser Vergangenheit eingeholt werden könnte. Denn zugleich mit dem Engagement einer privaten Sicherheitsfirma kriecht Paranoia hinter die Fassaden des ehrenwerten Wohnblocks. Wie subtil sie sich aufbaut und wie heißkalt sie sich entlädt, fasziniert nachhaltig. (O Som ao Redor ist im Rahmen der Viennale-Edition auf DVD erschienen).
Herangezoomte Holzkommode
Das Verhältnis von persönlichem Sicherheitsgefühl und diffusem Bedrohungspotenzial bestimmt auch Aquarius. Um Gier, Korruption, Nepotismus und Standesdünkel, die zu den emsigsten Termiten der Demokratie gehören, geht es auch hier. Doch im Unterschied zur losen Episodik von O Som ao Redor, die ein wenig an Robert Altman erinnert, entschied sich Mendonça Filho im Fall von Aquarius für eine klassisch dreiaktige Erzählstruktur. Die Geschichte ist eng um seine Heroine Clara, eine Art aristokratische Linke, herumgebaut. Das spiegelt sich auch in der Soundscape, die zumeist Claras Stimmung spiegelt. Fast alle Lieder, neben der zentralen Ballade „Hoje“ von Taiguara z.B. welche von John Lennon und Queen, hat sie in ihrer eigenen Sammlung. Nur einmal kommt der Sound von außen, als nämlich ganz zufällig in einer verlassenen Nachbarwohnung eine orgiastische Party gefeiert wird. Auch in dieser kritischen Situation weiß Clara sich zu helfen, aber so sehr sie sich gegenüber ihrem Umfeld um Gelassenheit bemüht: Wenn sie am nächsten Tag die ekligen Rückstände des Gelages auf dem Gang entdeckt, ist sie längst von einer gewissen Unruhe erfasst. Sogar ihre drei erwachsenen Kinder, mit denen sie ansonsten ein herzliches Verhältnis pflegt, wollen sie alsbald zum Ausziehen bewegen – vor allem im Hinblick auf den dafür fälligen Scheck. Doch für Clara geht es eben nicht nur um den ökonomischen Gegenwert eines Wohnortes, sondern um die persönliche Geschichte, die sich mit diesem Ort verknüpft. Die alte Holzkommode zum Beispiel, an der die Kamera hängen bleibt oder die wir gar herangezoomt bekommen – den Zoom setzt Mendonça Filho filmgeschichtsbewusst und augenzwinkernd als Mittel der Betonung ein –, sehen wir zum ersten Mal schon zu Beginn des Films in einer schönen Rückblende ins Jahr 1980, als die Militärdiktatur noch nicht überwunden war. Claras Tante Lucia, „das 70-jährige Mädchen“, der diese Kommode damals gehörte, verband damit eine wunderbare erotische Erinnerung. Und die freigeistige, emanzipierte Tante Lucia war für Clara in jungen Jahren die vielleicht wichtigste Vorbildfigur.
Permanente bedrohung
„Bis zu einem gewissen Grad erinnert Aquarius an einen Belagerungsfilm“, sagt Kleber Mendonça Filho, „nur dass es hier keine Schießereien, keine Pfeile und Bögen, keine Molotov-Cocktails gibt, zumindest nicht im buchstäblichen Sinn. Aber das Gebäude und Claras Apartment als der intimste Teil dieser Umgebung sind permanent bedroht.“ Ebenso souverän, wie Clara den erwähnten familiären Konflikt lösen wird, so hoffen wir, wird sie sich als Bewohnerin des Aquarius behaupten können. Denn eines steht in den Arbeiten dieses Filmemachers und also auch in diesem sensiblen Porträt einer in Würde alternden Frau (Sônia Braga, vielleicht in der Rolle ihres Lebens) außer Frage: Mendonça Filhos Sympathie gilt Menschen, die Haltung zeigen und sich Geschichte im Bewusstsein halten; nicht aber jenen, die Geschichte ausradieren oder wegsprengen oder auf Kosten anderer profitieren wollen. „Ich thematisiere Dinge gern ohne sie direkt anzusprechen“, sagte Mendonça Filho in einem ORF.at-Interview zur Viennale-Premiere von Aquarius. „Ich denke dabei immer an zwei Leute, die sich in einer Bar unterhalten und miteinander ins Bett wollen. Sie reden zu keinem Zeitpunkt darüber, aber es ist klar, dass sie es tun werden. Das spiegelt mein Konstrukt eines politischen Films.“ Nicht nur in einem Land wie Brasilien, das seit ein paar Jahren einen enormen Modernisierungsprozess durchläuft und sich dabei um die Voraussetzungen sozialer Gerechtigkeit nicht mehr viel zu scheren scheint, ist es nötig, auf gesellschaftliche, kulturelle und intellektuelle Wurzeln zu achten: Auch das vermittelt Aquarius auf hintergründige Weise.