Santiago Mitres Gerichtsdrama rekonstruiert den ersten großen Prozess, der in Argentinien nach dem Ende der Diktatur der Militärjunta gegen die Befehlshaber geführt wurde. Im Interview spricht der Schauspieler Ricardo Darín über seine Rolle als Staatsanwalt Julio Strassera, die Zeit vor dem Prozess und warum er heute ein Angebot aus Hollywood nicht mehr unbedingt ausschlagen würde.
Ricardo Darín bittet um Entschuldigung. Es ginge ihm gerade nicht so gut. Eine Erkältung lässt seine ohnehin tiefe Stimme an diesem verregneten Oktobermorgen noch ein bisschen rauer und strenger klingen. Aber die müden Augen, die der 65-jährige Ausnahmeschauspieler im Gespräch immer wieder eng zusammenkneift, um Kraft zu sammeln, laden sich blitzschnell auf, sobald er über Julio Strassera spricht: „Ich glaube, er war ein unbestechlicher, ein zutiefst ehrlicher Mann“, sagt er über den berühmten Staatsanwalt, der 1985 den wegweisenden Gerichtsprozess gegen die Mitglieder der argentinischen Militärjunta (1976-83) leitete. „Ganz klar, am Anfang ist sein Selbstwertgefühl völlig erschüttert. Denn die Diktatur hat es ihm unmöglich gemacht hat, seine Pflicht gegenüber dem Gesetz auszuüben. Und deshalb sieht er sich zunächst auch nicht in der Lage, diesen Prozess ins Rollen zu bringen. Erst als er Rückenwind von Luis Moreno Ocampo und den anderen jüngeren Anwälten bekommt, hat er das Gefühl, eine echte Chance zu haben, diese titanische Aufgabe zu bewältigen.“
Realer Charakter
Die Aufgabe, von der hier die Rede ist, steht im Zentrum von Santiago Mitres Gerichtsdrama Argentina, 1985. Recht nah an den wahren Ereignissen erzählt der spanische Regisseur darin die Geschichte der Staatsanwälte Strassera und Ocampo, die es als erste wagten, sich mit den Verbrechen zu beschäftigen, gegen die so bekannten wie gefürchteten Täter zu ermitteln und sie strafrechtlich zu verfolgen. Unbeeindruckt vom immer noch beträchtlichen Einfluss der ehemaligen Unterdrücker in ihrer zerbrechlichen neuen Demokratie, ließen sie sich Mitte der achtziger Jahre unterstützt von einem jungen Anwaltsteam auf einen äußerst spannenden rechtlichen Kampf ein, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die enorme Kraft, die der Film sowohl aus den historischen Fakten als auch dem überzeugenden Spiel seiner bis in die Nebenrollen hervorragenden Darstellern schöpft, machen die Amazon-Produktion zu einem dynamischen und äußerst unterhaltsam in Szene gesetzten Zeitbild der jüngeren Geschichte Argentiniens.
Dem Schauspieler, der in seinem Land längst eine Institution ist, scheint es in seiner Arbeit überhaupt oft um die Zustände, das Wohl und Leid in seiner Heimat zu gehen. Seine Rolle in dem Ganovenfilm Nine Queens (Nueve Reinas, 2000), der während der Wirtschaftskrise spielt, machte ihn erstmals auch international bekannt. Bereits 2009 spielte er in Juan José Campanellas In Ihren Augen (El secreto de sus ojos) einen ehemaligen Justizbeamten, der sich bei der Wiederaufarbeitung an einem alten Fall in die Zeit der Diktatur zurückversetzt sieht. Aber sein Auftritt als Strassera stellte ihn diesmal jedoch vor die besondere Herausforderung, eine Person aus dem wahren Leben zu spielen. Dagegen hatte er sich zuvor stets erfolgreich gewehrt. Was ihn schließlich dazu bewog, über seinen eigenen Schatten zu springen, erklärt er damit, dass die Geschichte insgesamt um Einiges wichtiger und bedeutsamer gewesen sei als eine bestimmte Figur. „Es war ein so gewaltiges, monumentales Ereignis für die Demokratie“, bekräftigt er, „dass das Spielen einer echten Persönlichkeit für mich in dem Moment zur Nebensache wurde.“ Darüber hinaus war Strassera ein extrem faszinierender, weil kantiger Mann, der in einer Kleinstadt in der Mitte des Landes aufgewachsen war und nicht nur Weitblick hatte, sondern auch einen beißenden Sinn für Humor. „Ich bin bisher immer gut gefahren, eher den Leuten zu vertrauen, die aus der Provinz stammen“, sagt Darín. „Ich denke, dass sie eine andere Perspektive auf die Dinge haben als die Menschen in den größeren Städten. Und obwohl Strassera auf den ersten Blick wie jemand erscheinen mag, der mürrisch ist und sich nicht sonderlich für seine Mitmenschen interessiert, glaube ich nicht, dass das auf ihn zutrifft.“
Kongeniale Zusammenarbeit
Persönlich kennenlernen konnte der Schauspieler den Strafverteidiger allerdings nicht, weil Strassera bereits 2015 verstarb, lange bevor Santiago Mitre zum ersten Mal mit der Idee zu Film auf Darín zukam. Bereits 2017 hatten sie gemeinsam den Polit-Psycho-Thriller The Summit (La cordillera) gedreht, in dem Darín den fiktiven argentinischen Präsidenten Hernán Blanco verkörpert, der sich während eines Gipfeltreffens in den Anden vor imposanter Bergkulisse seinen inneren Dämonen stellen muss. Und die Zusammenarbeit lief so gut, dass Mitre danach sofort ein neues Projekt für sich und Darín suchte, bis er bei ihm mit dem Junta-Prozess auf Interesse stieß. Doch wie erinnert der Schauspieler selbst die Zeit damals? „Ich weiß noch, dass es anfangs viel Skepsis gab, ob es wirklich zu einem Prozess kommen würde, weil die junge Demokratie zwar begrüßt wurde, es aber gleichzeitig viele wirtschaftliche Probleme gab. Niemand glaubte wirklich daran, dass die Regierung die politische Kraft haben würde, um mit dem Junta-Prozess fortzufahren. Doch mit Fortschreiten der Verhandlung schlug dieses anfängliche Misstrauen immer mehr in Begeisterung um, weil die Menschen miterleben konnten, was vor sich ging.“
Neun hochrangige Militärs wurden wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt, und Mitres Film zeigt die Ignoranz und hochmütige Verweigerung der ehemaligen Führungskräfte, die Autorität des Zivilgerichts anzuerkennen. Peter Lanzani behauptet sich derweil im und vor dem Gerichtssaal als Strasseras junger Stellvertreter Ocampo, der persönliche und familiäre Verbindungen zur herrschenden Klasse Argentiniens hatte, während Darín mit Verve und großer Leidenschaft den abgebrühten alten Hasen spielt, der nebenbei seinen Sohn darauf ansetzt, die eigene Tochter auszuspionieren, um auf diese Weise etwas über ihr Liebesleben herauszufinden.
Am Ende fragt man sich einmal mehr, ob der Schauspieler, der sich bisher stets bewusst aus Hollywood fernhielt, tatsächlich für immer dem heimischen Kino treu bleibt, oder nicht doch auch noch andere, größere Ambitionen hat. „Mit der Zeit verhärten sich einige Positionen“, weiß er darauf diplomatisch zu antworten, „und andere weichen über die Jahre auf. Mir geht es wirklich immer zuallererst um die Geschichte, manchmal sogar mehr als um die Figur, die ich spielen soll, oder um irgendeinen bestimmten Regisseur. Ich weiß, mir hängt dieser seltsame schlechte Ruf an, Anti-Hollywood zu sein. Dabei habe ich gar nichts gegen die amerikanische Studio-Filmindustrie. Ich bin mit den Filmen groß geworden, die dort entstanden sind. Aber ich denke, im Allgemeinen gibt es zwei Kategorien: Entweder man träumt sein Leben lang davon, Hollywood-Angebote zu bekommen, oder man wird davon zerrissen. Ich passe da nicht rein. Ich will einfach nur gute Rollen spielen. Und wenn irgendwann das richtige Angebot aus Los Angeles kommt, sage ich dazu nicht nein.“