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Auf den Hund gekommen

| Roman Scheiber |

Augenattacken, Hundehorden, zufällige Zusammenhänge im Rückblick: Eine Passage durch die hochkarätige Selektion des 67. Festival de Cannes.

Wer lange nicht hier war, findet vieles nahezu unverändert. Das stargierige Publikum. Die mit riesigen Blockbuster-Transparenten verhängten Hotels. Der zur Primetime verstopfte Boulevard, wo tausend Leute einander drängeln, nur damit alle paar Minuten eine Limousine ungehindert passieren kann. Schon frühmorgens aufgestylte Models, den ganzen Tag über eitle Gockel, pfeifende Verkehrspolizisten, Ticketsucher, gehetzte Journalisten, strunzdumme Fragen bei Pressekonferenzen, unterkühlte Kinos, überteuerte Bistros – jedes Klischee wird nach wie vor brav bedient. Zeitdiebe sind die ständigen Taschenkontrollen an den Eingängen zum Palais. Und das Einlassreglement ist auch nicht lockerer geworden: Kaum ein vernünftiger Platz in der 19-Uhr-Pressevorführung auch für Akkreditierte der mittleren Stufe, wenn man nicht gewillt ist, sich eine Stunde lang anzustellen. Kaum ein Reinkommen für Kritiker in eine Marktvorführung, wenn man einen Film in der Pressevorführung versäumt hat (z.B. weil man dort nicht reingekommen ist). Der Ärger darüber lässt sich immerhin mit einem Ristretto in der Kaffee-Sponsor-Lounge herunterspülen, aber auch auf den muss man oft warten.

Davon abgesehen war die 67. offizielle Selektion des Festivals ein Vergnügen für Cinephile. Es gilt immer noch: Zu kaum einer anderen Gelegenheit im Festivalcircuit gibt es so viele gute Filme am Stück zu sehen. Werke von David Cronenberg, Mike Leigh (zurecht mit den Schauspielpalmen für Julianne Moore bzw. Timothy Spall bedacht) oder den Dardennes (Marion Cotillard wäre auch in Frage gekommen) zum Beispiel sind auch dann sehenswert, wenn sie nicht zu den allerbesten in der Filmografie ihrer Meister zählen. In gleich fünf gelungenen Filmen, die Preise erhielten, stehen männliche Familienoberhäupter mit gewissen emotionalen Schwächen – mehr oder weniger – im Mittelpunkt: Neben dem Hauptgewinner Kis Uykusu (Winter Sleep) des türkischen Cannes-Lieblings Nuri Bilge Ceylan sind das Le meraviglie (The Wonders) von der aus Umbrien stammenden Alice Rohrwacher, Leighs Mr. Turner (obwohl der goldige Brummbär Timothy Spall irgendwie besser nach Berlin gepasst hätte), sowie die mitunter spaßigen, tragikomischen Beiträge Turist des Schweden Ruben Östlund (der auch in den Wettbewerb gepasst hätte) und Leviathan von Andrej Zvyagintsev. Zu den ausgezeichneten Filmen (siehe die Blogeinträge gestern und vorgestern), die fast alle ihren Preis auch verdient haben, hätte man gut und gern noch ein paar mehr prämieren können. Jener Film, der neben Olivier Assayas’ Clouds of Sils Maria (mit einer gereiften Kristen Stewart und einer ebenfalls palmenwürdigen Juliette Binoche) in der Liste der Preisträgerfilme am ehesten fehlt, ist Naomi Kawases Futatsume no mado (Still the Water): eine wunderschöne Studie der Lebenszyklen und Gezeiten, die einem, hat man sich ihr erst einmal hingegeben, die Tränen in die Augen zu treiben vermag.

Sex ohne Liebe

Rohes Liebesspiel gehört mittlerweile zum Standard des Kinos, das hat sich auch in Cannes wieder gezeigt. Mr. Turner grunzt bei diversen Gelegenheiten animalisch, aber besonders passt es zur Szene, wenn er seine – wenngleich willige – Haushälterin zur puren Instant-Triebabfuhr gebraucht. So wie Mike Leigh macht sich auch David Cronenberg einen gewissen Jux aus der flüchtigen sexuellen Begegnung: Robert Pattinson besteigt in Maps to the Stars Julianne Moore („You like my holes?“), was er schon mit Juliette Binoche in Cosmopolis gemacht hat – diesmal in einer nicht ganz so stretchigen Limousine. In André Téchinés auf einem wahren Fall basierenden L‘homme qu‘on aimait trop (außer Konkurrenz, mit dem verdrehten englischen Titel In the Name of My Daughter) hat der Titelheld Sex mit einer jungen hübschen Millionenerbin. Sie liebt ihn, er sie nicht, was er ihr auch sagt. In der ersten Sexszene sitzt sie auf ihm, die beiden haben gerade zusammen die Mutter aus dem Familienunternehmen gedrängt; in einer weiteren drückt er sie an einen Baum, nachdem er die Kontrolle über ihr Vermögen übernommen hat.

Hagen, Moujik & Co

Sie spielten eine große, mitunter gar überdimensionale Rolle in der diesjährigen Selektion: die sogenannten besten Freunde des Menschen. In David Cronenbergs Maps to the Stars wird ein Hund von einem 13-jährigen TV-Star versehentlich erschossen. In David Michods Dystopie The Rover folgt die Robert-Pattinson-Figur dem Guy-Pearce-Charakter wie ein verlorener Hund, der Anschluss sucht. Gegen Ende von Saint Laurent, Bertrand Bonellos leider nur an der Oberfläche glänzendem Biopic, herzt der gealterte YSL, passend besetzt mit Helmut Berger, eine französische Bulldogge. Das Besondere an dieser: Es handelt sich um bereits die vierte Ausgabe von „Moujik“, denn wir befinden uns in der Schlusskurve des Lebens der Modediva, die hier zum x-ten Mal ihren Erfolgsreliquienschrein begutachtet, nachdem sie sich den Zeitungsbericht über den größten Triumph ihrer Karriere hat vorlesen lassen. Einer von Moujiks gleichnamigen Vorgängern starb übrigens an einer Überdosis.

In Amour Fou wiederum (dem einzigen österreichischen Beitrag) ist neben anderen Hunden ein wunderschöner Weimaraner in die streng stilisierte Tableaux-Gestaltung integriert, sein Fell glänzt silberbraun. Von der leisen Enttäuschung Jessica Hausners, mit ihrem neuen Film wieder nicht im Wettbewerb, sondern in der Nebenreihe „Un Certain Regard“ vertreten zu sein, war auf der Bühne des Salle Debussy nichts zu spüren. Dort hatte am nächsten Tag der Star von White God seinen Auftritt und schien sich an der Seite seiner Trainerin vor dem Premierenpublikum mittelwohl zu fühlen: Body aus Arizona, eine Mischung aus Labrador, Schäfer und Shar-Pei, der gemeinsam mit Bruder Luke die Hauptrolle des Hagen in Kornél Mundruczós Drama-goes-Fantasy mit dem ungarischen Originaltitel Fehér Isten übernommen hatte. Nicht nur ist White God einer der eindrucksvollsten und schrankenlosesten Filme, die je mit einer Masse von Hunden (rund 250 insgesamt) inszeniert wurden; Mundruczós Werk kann man auch als eindringliche Metapher auf ein autoritäres Regime lesen und auf eine dadurch verrohende Gesellschaft, die sich im revolutionsreifen Stadium befindet. Wohl eher für Letzteres gewann White Dog auch den Hauptpreis von „Un Certain Regard“ (dessen freilich auch Jessica Hausner oder Lisandro Alonso, siehe unten, würdig gewesen wären).

Konkurrenzloser Hund

Jean-Luc Godard war nicht an der Croisette erschienen, sonst hätte der 83-Jährige vielleicht seinen entzückenden schwarz-fuchsrot-weißen Mischling aus Adieu au Langage mitgenommen. Die verspielt-angriffige 3D-Videokollage fühlte sich wegen ihrer für den Altmeister zuletzt typischen Essayform im Wettbewerb konkurrenzlos deplatziert an (umso mehr überrascht der mit Xavier Dolan, 25, für Mommy geteilte Jurypreis). Godards Hund darf hier u.a. am Genfer See spazieren, im Fluss schwimmen, sich im Schnee wälzen und bellen im Bad des zumeist nackten Paares, dessen Kommunikationsverlust Godard als Vorwand dient, sich über die degoutante Aushöhlung der modernen Demokratie, den Verlust politisch-kulturell-philosophischer Bildung und das Diktat des technischen Fortschritts zu beschweren. Die vielleicht gewitzteste Szene dieses bewusst als grelle Überreizung der Sehnerven angelegten Provokationsfilms ist die verschwommene Sequenz, bei der man jeweils ein Auge zukneifen muss, um entweder die Frau oder den Mann zu sehen. Einäugige Stereoskopie sozusagen.

Ja, und dann gibt es den riesigen grauen Wolfshund in Jauja. Plötzlich taucht er auf, um den von Viggo Mortensen gespielten dänischen Kolonialoffizier, der in den rauen, aber farbsatt fotografierten Weiten Patagoniens seine mit einem feschen Jungchargen durchgebrannte Tochter sucht, in eine überraschende Dimension zu führen.

Formatexperimente

Lisandro Alonsos Beitrag war – zusammen mit Amour Fou – einer der ästhetisch anspruchsvollsten und formal schlüssigsten von „Un Certain Regard“. Beide Filme stellen in statischen Bildkompositionen (Jauja im einstigen Standardformat 4:3) eine lange vergangene Zeit nach, deren Echo nichtsdestoweniger bis in die Gegenwart vernehmbar ist. In Hausners Fall erinnert die „verrückte Liebe“, nämlich die frei fabulierte Vorstellung von einseitig bedungener Liebe als Hingabe an die eigene Todessehnsucht beim Dichter Heinrich von Kleist, durchaus an egoistische Liebeskonzepte von heute („Ich liebe dich, wenn ich dich brauchen kann“). In Jauja findet eine Episode der Kolonialisierung über eine geisterhafte, spirituelle Transmission ihren Widerhall im gegenwärtigen Wohlstand der damaligen Eroberer. Der Titel bezeichnet einen legendären Ort, der jedem Ankömmling Reichtum verspricht. Alonsos Bildtotalen sind an den Ecken abgerundet, was die Anmutung verstärkt, hier in ein privates Fotoalbum der reichen Kolonial-Erben von heute zu schauen.

Ein weiteres Werk im 4:3-Format, anders jedoch als Jauja im improvisierten Digicam-Stil, war der Eröffnungsfilm der Nebenreihe „Semaine de la critique“: FLA, der zweite Film des autodidakten Franzosen Djinn Carrénard, lässt einen Rapper mit Hörsturz, seine unvorsichtig von ihm geschwängerte Freundin und deren Schwester auf Hafturlaub in einer konfliktschwangeren Liebestriangel erzittern. Das Titelakronym steht für „faire l‘amour“, wobei Liebe machen hier nicht nur den sexuellen Akt meint. Als häufig dialograsender, von Dauerstreit überhitzter Beziehungsfilm ist Fla dem Mutter-Sohn-Drama Mommy nicht unverwandt; von der schauspielerischen Intensität und der popmusikalisch rhythmisierten Montage beim frankokanadischen Jungstar Xavier Dolan ist er allerdings weit entfernt. Und statt 20 Minuten mehr als die ohnehin überlangen 140 bei Dolan hätten es 20 Minuten weniger auch getan. An zwei Stellen (die zweite zählt zu den überwältigendsten, opernhaftesten Kinomomenten des Festivals) entfesselt Mommy seine quadratische Diegese mit einem Format-Trick – ansonsten fühlt man sich in diesen Film regelrecht eingekastelt. Wer Mommy dereinst durchgehend auf dem Minibildschirm eines iPhones durchsteht (dazu das Stakkato des immer wieder gewöhnungsbedürftigen frankokanadischen Original-Akzents ins Ohr gestöpselt, versteht sich) sollte als Belohnung eine Einladung zur nächsten Dolan-Premiere an die Croisette erhalten.