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Cow

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Auf die Kuh gekommen

| Pamela Jahn |
Die britische Regisseurin Andrea Arnold ist vier Jahre lang einer Kuh namens Luma gefolgt und hat ihre Beobachtungen kommentarlos in dem Film „Cow“ aufgezeichnet. Eine nüchterne Dokumentation ist dabei trotzdem nicht entstanden. „Cow“ ist so real wie das Leben und ein empathischer Versuch, in das Bewusstsein von Tieren einzudringen. Ein Gespräch über Naturverbundenheit, Kuh-Casting und darüber, warum auch Tiere auf Popmusik stehen.

Ms. Arnold wie kommt man dazu, eine Milchkuh zu porträtieren?
Andrea Arnold: Cow ist das Ergebnis eines langwierigen Projekts, es ist eine Herzensangelegenheit. Ich hatte die Idee dazu schon vor zirka sieben Jahren. Und dann liefen sowohl die Vorbereitungen als auch die Dreharbeiten lange Zeit im Hintergrund. Es ist schon interessant, weil ich sonst ganz anders arbeite. Ein derartiges Langzeitprojekt war komplett neu für mich.

Was hat Sie dann dazu bewogen?
Ich möchte, ehrlich gesagt, nicht zu viel erklären, weil die Zuschauer jeder für sich ihre ganz persönliche Erfahrung mit dem Film machen sollen, ohne zu viel Vorwissen und vorgeformte Meinungen. Mir ist es wichtig, diesen Freiraum zu schaffen und zu bewahren. Andererseits war es für mich sehr spannend, darüber nachzudenken, wie es zu der Idee kam, weil es mich in meine Kindheit zurückversetzt hat. Es hat mich an mein Verhältnis zur Natur erinnert, als ich noch klein war und in Dartford lebte. Ich bin zwar in einem Wohngebiet aufgewachsen, aber um uns herum gab es viel Natur. Und weil meine Eltern sehr jung waren – meine Mutter bekam mich mit sechzehn und hatte mit 22 bereits vier Kinder – hatten wir Geschwister viel Zeit für uns, in der wir die Welt um uns herum erkundeten. Erst als ich später nach London zog, ist dieses enge Verhältnis zur Natur abgebrochen, und ich habe die Lücke oft gespürt, die das in mir hinterlassen hat. Ich glaube, wir haben heutzutage ein sehr verklärtes Bild von der Natur. Wir sehen die Romantik, aber nicht die Realität. Aber wenn man sich ernsthaft damit auseinandersetzen will, darf man die Augen vor der harten Wahrheiten nicht verschließen. Wir nutzen die Tiere für unsere Zwecke, ohne uns darum zu scheren, was es für die Tiere bedeutet. Warum nehmen wir uns stattdessen nicht mal die Zeit, uns ins Bewusstsein anderer Lebewesen zu versetzen?

Ging es Ihnen stets konkret um das Porträt einer Milchkuh oder haben Sie im Vorfeld auch andere Tiere in Erwägung gezogen?
In meiner Kindheit gab es keine Kühe, nur Schafe, aber auch davon nicht viele. Es gab nicht so viele Bauernhöfe in unserer Gegend. Ich habe erst mit 18 zum ersten Mal bewusst eine Kuh gestreichelt. Damals spazierte ich über eine Wiese auf der eine Kuhherde weidete und plötzlich standen sie alle um mich herum. Sie waren neugierig und ich sehr aufgeregt. Es gibt sogar ein Foto von mir, in dem man mir meine Begeisterung eindeutig ansieht. Und ich glaube, was mich so sehr an Kühen fasziniert, ist die Tatsache, dass sie so groß sind und trotzdem ganz freundlich und zahm. Vor allem die Milchkühe, sie arbeiten ihr Leben lang unheimlich schwer, nur um für die Menschen zu produzieren, und zwar nicht nur Milch, sondern auch Kälber, bis zu fünfzehn Stück. Das ist eine Leistung, derer wir uns oftmals überhaupt nicht bewusst sind.

Wie lief das Casting? Wie haben Sie Luma gefunden?
Sie war einfach ein tolles Tier. Sie hatte so einen schönen Kopf. Wenn wir sonst Kühe sehen, dann sehen wir sie meistens als Herde, da achtet man weniger auf bestimmte Merkmale. Aber ich wollte konkret ein Tier in den Mittelpunkt stellen und deshalb sollte sie etwas Besonderes haben. Und bei Luma war es der Kopf, ein Charakterkopf, wie sich später herausstellte, und das war umso besser. Mir gefiel die Vorstellung, eine Kuh mit Persönlichkeit gefunden zu haben.

Es wird heutzutage wieder mehr über das Bewusstsein von Tieren diskutiert. Hat sich Ihre Perspektive beim Filmen in der Hinsicht verändern?
Wenn Sie mich fragen, gibt es wenig Zweifel daran, dass Tiere ein Bewusstsein haben. Im Film sieht man das immer wieder, beispielsweise als die hochschwangere Luma in einen separaten Stall mit den anderen gebärenden Kühen geführt wird. Da weiß sie ganz genau, was kommt. Sie hat es schon mehr als einmal erlebt. Und deshalb muht sie auch die ganze Zeit. Sie wehrt sich dagegen, dass ihr das Neugeborene weggenommen wird. Aber sie weiß, was passiert. Natürlich kann ich nicht in ihren Kopf hineinsehen, aber ich denke, in der Beobachtung wird schon sehr deutlich, was gerade in ihr vorgeht.

Verzichten Sie privat eigentlich auf Fleisch?
Darüber möchte ich nicht sprechen, weil es darum nicht geht. Ich denke, es ist extrem wichtig, dass wir uns über unseren Fleischkonsum Gedanken machen, denn das Problem hört ja nicht bei den Tieren auf. Es geht um unserer Klima, es geht um unser aller Zukunft. Und die Schwierigkeit besteht darin, die Leute davon zu überzeugen, dass es tatsächlich fünf vor zwölf ist, wenn nicht sogar später. Denn bis nicht ihr eigenes Haus weggeschwemmt oder von einem Orkan umgerissen wurde, sieht keiner die Notlage, in der wir uns alle bereits heute befinden. Und dazu gehört eben auch der Fleischkonsum. Angeblich wurde im vergangen Jahr in den USA mehr Fleisch konsumiert als jemals zuvor – Wohlfühlessen in Pandemiezeiten. Was soll man dazu sagen.

Wie sind Sie auf die Menschen auf dem Bauernhof zugegangen, auf dem Sie gefilmt haben?
Die Leute waren toll. Was Sie im Film sehen, ist ihre Realität. Sie arbeiten hart, sie tun das Beste für die Tiere in dem Rahmen, in dem sie agieren. Sie haben sofort verstanden, worum es uns ging, wie und was wir filmen wollten und sie haben uns machen lassen. Es war ein gegenseitiges Einverständnis.

Die Musik, die im Kuhstall läuft, ist famos.
Ja, es waren nicht immer genau diese Tracks, weil wir die Rechte klären mussten, aber sie spielten immer Popmusik aus dem Radio. Und ich dachte sofort, na klar, auch in der Musik geht es immer ums Ganze, es geht ums Leben, um die Liebe, die Sehnsucht. Das passt perfekt.

Haben Sie durch Luma Ihre Liebe zum Dokumentarfilm entdeckt? Wird es zukünftig mehr nichtfiktionale Filme dieser Art von Ihnen geben?
Es ist ja nicht wirklich eine Dokumentation in dem Sinn. Ich weiß nicht genau, als was ich es beschreiben würde, aber der Film geht für mich über die herkömmliche Definition von Dokumentationen hinaus.

In welcher Hinsicht konkret?
Ich weiß es nicht genau, aber für mich steckt mehr dahinter. Ich möchte den Film nicht in einer starren Kategorie abgehandelt wissen.

In der Vorstellung, in der ich saß, waren viele Zuschauer emotional ergriffen. Es kamen etliche Taschentücher zum Einsatz. Wie haben Sie sich mit Lumas Schicksal arrangiert?
Ich war Luma emotional sehr verbunden. Wenn man ein Tier vier Jahr begleitet, wenn auch mit Unterbrechungen, das macht etwas mit einem. Aber im Grunde wussten wir immer, wie es ausgehen würde, und es lag fast schon etwas Magisches in dem Moment. Es ist der Lauf der Dinge, und die Arbeit an dem Film hat meine Sinne auch dahingehend geschärft. Ich denke, ich sehe die Welt heute insgesamt mit wacheren Augen. Wir tun immer alles, um die schwierigen Momente auszublenden, uns abzulenken oder uns etwas vorzumachen. Aber das Leben ist manchmal brutal und gemein. Es ist die Realität, und der sollten wir uns öfter mal stellen.

Was wünschen Sie sich für den Film?
Dass jeder, der ihn sieht, seinen ganz persönliche Zugang dazu findet. Ich will niemanden beeinflussen oder belehren. Ich hoffe, man kann Lumas Persönlichkeit sehen, diese wilde Schönheit und Haltung, die in ihr steckten. Und ich denke, auch sie hat auf ihre Weise gewusst, worum es ging. Sie war sich der Kamera bewusst. Für mich war der Film eine der intensivsten Erfahrungen in meinem Leben und ich bin gespannt, dieses Erfahrung mit dem Publikum zu teilen. Auch Luma zuliebe.