Das Sundance Film Festival 2023 findet erstmals nach der Pandemie wieder in Park City, Utah, statt. Das Publikum vor Ort wird mit einem starken Programm belohnt.
Es liegt ein Gefühl von Neuanfang in der Luft. Nach zwei Jahren virtuellen Festivaltreibens, beginnt das Filmjahr heuer wieder offiziell im verschneiten Park City in den Bergen von Utah. Das Programm ist üppig, die Auswahl vielversprechend. Anstatt große Premieren mit prominenten Hollywood-Gesichtern zu favorisieren, die jeder bereits kennt, setzt das Festival in diesem Jahr vor allem auf noch wenig bekannte Regisseure und Regisseurinnen, Newcomer und Überraschungshits mit Durchbruchspotenzial. Und wie bei Sundance üblich, weiß man vorher nie so genau, was am Ende von all der Aufregung, dem Buzz und dem Hype um die neuesten Produktionen aus der Independent-Filmwelt hängen bleibt. Aber am ersten Wochenende konnte man dank des beibehaltenen hybriden Festivalformats bereits einige Perlen und Favoriten dieses neuen, aufregenden Festivaljahres sichten.
Nachhaltigen Eindruck hinterließen bisher vor allem drei Filme, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die unglaubliche Verwandlung, die Jonathan Majors in der Rolle des Bodybuilders Killian Maddox in Magazine Dreams vollbringt, ist beispielsweise ein Erlebnis, das man so schnell nicht wieder vergisst. Die düstere Charakterstudie von Drehbuchautor und Regisseur Elijah Bynum, der 2017 mit seinem ersten Spielfilm Hot Summer Nights mit Timothée Chalamet erstmals auf sich aufmerksam machte, zeichnet das Porträt eines jungen Mannes, der aus dem Leben, in das er hineingeboren wurde, mit (buchstäblich) aller Kraft auszubrechen versucht: Killian ist ein Amateur-Bodybuilder, der seinen Körper bis zum Äußersten treibt, um einen Funken Respekt zu erhaschen, in einer Welt, die ihn nicht auf ihn gewartet hat, aber auch um der Gewalt zu entkommen, die sein verstorbener Vater hinterlassen hat. Also stemmt er Gewichte, spritzt und stemmt immer mehr, um schließlich irgendwann für seine Mühen belohnt zu werden. Er ist ein Typ wie Travis Bickle aus Taxi Driver, obsessiv, sozial unfähig und mit einer unberechenbaren Wut im Bauch, ein moderner Archetyp, der kopfüber und mit ganzer Wucht ins Chaos stürzt. Sein innerer Frust wird allein von seinem eisernen Siegeswillen übertrumpft, der ihn vielleicht eines Tages auf die Titelseiten derselben Zeitschriften bringt, die seine Idole zieren. Aber auch er kann nicht ausbrechen aus seiner Haut, ist gefangen in seinem Körper, der nicht perfekt ist, und in den Klischees und Konventionen, über die er sich, egal wie sehr er sich anstrengt, letztendlich nicht hinwegheben kann. Das Muster ist bekannt, und doch schafft es Bynum seinen gebrochenen Helden aus einer Perspektive zu zeigen, die aufgrund von Majors‘ beeindruckender Präsenz als Killian stets frisch wirkt und ihn auf Schritt und Tritt mit grausamer Wachsamkeit verfolgt.
Doch kaum war die Begeisterung für Majors‘ Leinwandauftritt richtig entfacht, sorgte bereits der nächste Film für helle Aufregung. Past Lives, das Regiedebüt der koreanisch-kanadischen Regisseurin Celine Song, umspannt drei Zeitepochen und zwei Kontinente und erzählt die Geschichte zweier Menschen, die durch die Zeit, ungünstige Umstände und das Schicksal auseinandergerissen und wieder zusammengeführt werden. Bis gestern wurde noch gemunkelt, dass der Film wohl deshalb nur vor Ort und nicht über die Online-Plattform des Festivals zu sehen ist, weil Songs Erstling noch eine größere Festivallaufbahn bevorsteht – und nun steht es fest: Past Lives wird im Februar im Wettbewerb der Berlinale laufen, deshalb dazu an anderer Stelle mehr.
Man hätte sich gewünscht, dass auch dem Spielfilmdebüt der Drehbuchautorin und Regisseurin Chloe Domont ein ähnlicher Triumpf vergönnt gewesen wäre. Mittlerweile wurde Fair Play stattdessen für sagenhafte 20 Millionen Dollar an Netflix verkauft. Kein Wunder, denn Domonts ungewöhnlicher Erotik-Thriller, der in der halsabschneiderischen Welt einer New Yorker Investmentfirma spielt, ist das, was man einen sicheren Publikumsliebling nennt. Gleich mit der ersten Szene, wird der Ton gesetzt: Luke (Alden Ehrenreich) und Emily (Phoebe Dynevor) sind blutüberströmt. Das New Yorker Paar ist zur Hochzeit von Lukes Bruder eingeladen und zieht sich kurz vor dem Gruppenfoto noch schnell für einen Quickie ins Badezimmer zurück. Aber das Timing ist noch aus einem anderen Grund ungünstig, denn Emily hat ihre Periode. Als sie sich waschen und über das Malheur lachen, fällt ein Ring aus Lukes Tasche und plötzlich sind auch sie verlobt. Dass die mit Blut geschmiedete Ehe nichts Gutes verheißt, liegt auf der Hand. Domont seziert in Fair Play in erschreckender Klarheit, wie das Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen bei Finanzen und Macht eine scheinbar erfolgreiche Beziehung zerstören kann. Denn Luke und Emily teilen nicht nur ihr Leben, sondern sie arbeiten auch zusammen, ohne dass ihre Firma etwas von ihrer Beziehung weiß. Als ein Job frei wird, der für Luke einen Karriereschub bedeuten könnte, ist sie begeistert. Doch dann geht die Stelle an sie und der Ärger ist vorprogrammiert.
Ähnlich wie Magazine Dreams ist auch Fair Play ein Film, der sich auf bewährte Erzähl- und Genre-Formeln beruft, aber jedes aufkommende Retro-Gefühl mit unverfrorenen Kühnheit und einer großen Stilsicherheit unterläuft. Und beide Filme sind mehr als nur Indie-Hits für den Augenblick – zumindest wünscht man sich das. Sie stechen heraus aus einem Programm, das in den kommenden Tagen noch weitere Highlights und Überraschungen verspricht, darunter etwa Alice Englerts neuseeländisches Drama Bad Behaviour mit Jennifer Connelly und Ben Whishaw in den Hauptrollen, Brandon Cronenbergs Sci-Fi-Horror Infinity Pool oder Anton Corbijns Dokumentarfilmdebüt Squaring the Circle (The Story of Hipgnosis), das vom Festival als „eine unterhaltsame Hommage an die Zeit der analogen Kreativität und des künstlerischen Risikos“ angepriesen wird.