Tim Fehlbaum hat in „September 5“ die Ereignisse rund um den Terroranschlag bei den Olympischen Spielen von München 1972 aus Sicht der berichterstattenden Reporter des amerikanischen TV-Senders ABC rekonstruiert. Im Interview spricht er über die Rolle der Medien, journalistische Verantwortung und den schmalen Grat zwischen Nachricht und Spektakel.
München, 5. September 1972. Euphorie liegt in der Luft. Die ganze Welt schaut während der Olympischen Sommerspiele auf die bayrische Landeshauptstadt. Auch das Sportreporter-Team des US-Fernsehsenders ABC berichtet live über die aktuellen Wettkämpfe: Schwimmen, Leichtathletik, Basketball. Verschiedenste Sportarten und Entscheidungen stehen an diesem Tag an. Doch dann kommt alles anders: Im olympischen Dorf sind in den frühen Morgenstunden Schüsse zu hören. Mitglieder der palästinensischen Untergrundorganisation „Schwarzer September“ haben sich Zugang zum Quartier der israelischen Sportler verschafft. In kürzester Zeit nehmen die Attentäter elf Israelis als Geiseln. Kaum 24 Stunden später sind insgesamt 17 Menschen tot, darunter alle Gefangenen und ein deutscher Polizist.
Der Schweizer Regisseur Tim Fehlbaum, der sich mit seinen Sci-Fi-Thrillern Hell (2011) und Tides (2021) bisher vor allem auf dystopische Zukunftsszenarien konzentrierte, erzählt in September 5 von der historischen Tragödie, deren Bilder man vielleicht noch im Hinterkopf hat: Terroristen, die mit Wollmaske über dem Gesicht immer wieder aus dem Fenster schauen, um die Lage zu prüfen. Einfache Polizisten, die sich in Trainingsanzügen verkleidet mit Scharfschützgewehren auf dem Dach des israelischen Bungalows positionieren. Das Attentat von München war ein düsterer Meilenstein für das Fernsehen: die erste Live-Übertragung eines Terroranschlags, mit verheerenden Folgen für alle Beteiligten.
Was Fehlbaum in seinem Film interessiert, ist der Blick hinter die Kulissen der Medienberichterstattung. September 5 zeigt die Ereignisse aus Sicht der ABC-Sportjournalisten um den TV-Manager Roone Arledge (Peter Sarsgaard) und seinen ehrgeizigen Produzenten Geoff Mason (John Magaro), die verantwortlich dafür waren, was den Zuschauern – und wie sich bald herausstellt, auch den Terroristen – gezeigt werden sollte. Und was nicht. Die Inszenierung ist dicht, das Thriller-Potenzial groß. Hastig bemühen sich die überforderten Sportreporter der immer neuen Informationen Herr zu werden, positionieren sogar eine Kamera in unmittelbarer Nähe des Geschehens. Ein Mitarbeiter schmuggelt die Aufnahmen vorbei an Polizei und Sicherheitspersonal zurück ins Studio. Ihr Moderator Jim McKay führt derweil Interviews mit schockierten Sportlern oder Vertretern des Olympischen Komitees, die auf eine schnellstmögliche Fortsetzung der Spiele beharren. Eine der schwierigsten Herausforderungen für das Team besteht jedoch darin, die sich laufend ändernden Fakten zu verifizieren. Allein die junge Übersetzerin Marianne Gebhardt (Leonie Benesch), die im provisorisch eingerichteten Mini-Studio der Amerikaner aushilft, versteht überhaupt ein Wort Deutsch.
Fehlbaum versucht, im Chaos der Ereignisse möglichst objektiv zu bleiben. Der gebürtige Basler stellt in seinem Film die richtigen Fragen nach Verantwortung und Moral in den Medien, die sich auch 50 Jahre nach dem Münchner Attentat nicht klar beantworten lassen. Sein nüchterner Ansatz, der psychologisches Kammerspiel und amerikanisches Workplace-Drama vereint, macht September 5 zu einem packenden historischen Artefakt, auch wenn das Drehbuch von Moritz Binder in der Argumentation an den entscheidenden Punkten bisweilen zu kurz greift. Worauf es aber ankommt, ist, dass die Inszenierung bei aller Hektik des Geschehens den nötigen Raum für Reflexion und Austausch schafft, in einer Form, die weit über das filmische Erlebnis hinausgeht und aus dem Unglück kein Spektakel macht.
Interview mit Tim Fehlbaum
Herr Fehlbaum, Sie sind Jahrgang 1982. Wann und wie haben Sie zum ersten Mal von den Ereignissen um die Olympischen Sommerspiele 1972 erfahren?
Tim Fehlbaum: Ob es das erste Mal war, kann ich gar nicht sagen. Aber 1999 habe ich im Kino den Dokumentarfilm One Day in September von Kevin McDonald gesehen, der mich extrem beindruckt hat. Darin zeigt er einen Teil der Berichterstattung, die der TV-Sender ABC an jenem Tag gesendet hat. Für mich war das ein Schlüsselerlebnis, wenn auch vielleicht eher in Bezug auf die formalen Aspekte und McDonalds dokumentarischen Ansatz. Der Film funktioniert wie ein Thriller – nur eben einer, der im echten Leben spielt.
Es gibt heute noch Augenzeugen, die an dem Tag in München dabei waren. Mit wem haben Sie für Ihren Film gesprochen?
Die Hauptinspirationen für mich, den Film überhaupt zu machen, war ein Gespräch, das ich mit Geoffrey Mason geführt habe. Er war damals der Koordinator der Olympischen Spiele für ABC. Seine Sicht auf die Ereignisse während dieses 22-stündigen Berichterstattungs-Marathons hat mich sehr beeindruckt. Daneben gab es noch zwei weitere Augenzeugen: Jimmy Scheffler, der das Filmmaterial an den Polizisten vorbeigeschmuggelt hat, und Sean McManus, der Sohn des Fernsehmoderators Jim McKay. Sean war bis vor kurzem der Leiter von CBS Sports. 1972 war er als Teenager in München mit dabei, als sein Vater im Studio nebenan live berichtete.
Der Film thematisiert das ethische Dilemma, mit dem Journalisten konfrontiert sind, wenn sie über Krieg, Terror oder andere tragische Ereignisse berichten. Die Fragen sind heute die gleich wie damals: Was ist richtig, was ist falsch? Was darf man zeigen, was geht zu weit?
Diese Fragen lassen sich nicht einfach beantworten, das war auch nicht unsere Absicht. Das würde ich mir gar nicht anmaßen. Spannend fand ich aber vor allem zwei Gesichtspunkte, die indirekt da mit reinspielen: Zum einen die technischen Herausforderungen in dem provisorischen TV-Studio. Dazu gehört auch die Arbeitsweise der Reporter, die damals eine ganz andere war als heute. Es war eine analoge Welt. Aber nicht nur das. Zum anderen hatte das ABC-Team vor Ort keine Erfahrung mit der Berichterstattung über einen Terroranschlag. Es waren Sportjournalisten, die innerhalb kürzester Zeit ihr ganzes Mindset ändern mussten. Das gab uns Gelegenheit, im Film eine unvoreingenommene, fast unschuldige Perspektive einzunehmen und genau die Fragen zu stellen, die sie angesprochen haben. Die Antworten muss jeder für sich finden.
Ihr Film wirkt im Hinblick auf die Ausstattung wie eine faszinierende Zeitkapsel. Sind Sie ein Perfektionist, was historische Genauigkeit angeht?
Alles musste supergenau sein, ich war ziemlich besessen von dieser Idee. Anders als heute, wo man etwas dreht und es sofort live geht, mussten die Kameramänner damals größtenteils auf 16-Millimeter-Film drehen. Anschließend wurden die Bänder entwickelt und getestet. Insgesamt dauerte es über 20 Minuten, bis das Material ausgestrahlt werden konnte – im digitalen Zeitalter ein unvorstellbar langwieriger Prozess. Alle technischen Geräte, die im Film zum Einsatz kommen, sind Originale aus den siebziger Jahren, bis hin zu den Walkie-Talkies.
Waren die Maschinen heute überhaupt noch zu finden?
Man glaubt nicht, wie viele Sammler und Technik-Nerds sich für solche Dinge interessieren. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich immer noch für diese alten Fernsehkameras oder auch nur ein Mikrofon von vor 50 Jahren begeistern können. Ich bin übrigens einer von ihnen.
Anfang der siebziger Jahre war der gigantische Medienapparat, der für die Sommerspiele aufgefahren wurde, „state of the art“.
Ja, das muss man auch mal sagen: Zum ersten Mal waren die Sportstätten dafür ausgerichtet, optimale Fernseh-Live-Übertragungen zu garantieren. Es gab erstmals die Möglichkeit, Unterwasseraufnahmen zu zeigen. Es waren die ersten Olympischen Spiele, die weltweit live via Satellit übertragen werden konnten. Und dann wurde dieser ganze Apparat auf etwas völlig anderes angewandt. Das spielt natürlich auch eine entscheidende Rolle, warum dieser Tag so ein prägendes Ereignis im Live-Fernsehen war.
„September 5“ steht im krassen Gegensatz zu Ihren ersten beiden sehr futuristischen Werken. Wie bewusst war die Entscheidung, diesmal filmisch eine komplett andere Richtung einzuschlagen?
Ich wusste, ich musste etwas anderes machen. Aber das war nicht die Hauptmotivation für diesen Film. Die Tatsache, dass September 5 auf einer wahren Geschichte basiert und in der Vergangenheit spielt, ist eher Zufall als Planung. Trotzdem gibt es gewisse Überschneidungen. Denn wenn man einen Science-Fiction-Film dreht, recherchiert man auch viel. Sehr viel. In diesem Fall hatten wir sogar Zugang zu den Polizeiakten, die erst im Laufe unserer Vorbereitungen für die Öffentlichkeit freigegeben wurden. Das ist natürlich ein großes Glück gewesen. Wir sind sofort nach München gefahren und haben uns die Unterlagen angesehen.
Manchmal können zu viele Informationen auch kontraproduktiv sein.
Ja, das stimmt. Das Einzige, worauf wir uns immer verlassen konnten, waren die Originalbänder von ABC, also das Material, das tatsächlich gefilmt wurde. Lange Zeit hatten wir auch da nur bestimmte Clips zur Verfügung. Schließlich bekamen wir alle Aufnahmen. Dann konnten wir sehen, okay, das ist Fakt. Das ist so passiert. Zum Beispiel gab es den Moment, in dem Jim McKay das Interview mit dem israelischen Gewichtheber Tuvia Sokolsky vor laufender Kamera abbrechen musste, weil sie den Satelliten verloren hatten. Das haben wir nicht erfunden, um Spannung zu erzeugen. Die Realität schreibt die packendsten Geschichten. Und das vorhandene Archivmaterial hat uns enorm inspiriert, die fiktive Handlung zu konstruierten, in die das Geschehen eingebettet ist.
Die einzige fiktive Figur im Team ist die Dolmetscherin Marianne Gebhardt, gespielt von Leonie Benesch. Warum ist Sie wichtig im Film?
Die deutsche Perspektive durfte für mich im Hinblick auf den historischen Kontext nicht fehlen. Der Zweite Weltkrieg lag zwar schon dreißig Jahre zurück, aber der Schock saß tief. Marianne Gebhardt steht sozusagen für eine neue Generation, die nicht mehr in der Vergangenheit gefesselt ist, sondern nach vorne schaut.
Das massives Versagen der deutschen Behörden ist immer noch ein heikles Thema. Was war Ihrer Meinung nach der schwerwiegendste Fehler, der gemacht wurde?
Ich möchte mich diesbezüglich nicht festlegen, die Untersuchungen dauern weiterhin an. Fest steht: Für Deutschland war es ein unheimlich tragischer Tag. Soweit ich das beurteilen kann, gab es in erster Linie ein Sicherheitsproblem. Man wollte der Welt ein neues Bild von Deutschland vermitteln, Offenheit und Freundschaft suggerieren. Immerhin waren es die ersten Olympischen Spiele auf deutschem Boden seit Hitlers Olympiade 1936, die für faschistische Propaganda missbraucht wurde. Deshalb sollte man diesmal keine Deutschen mit Waffe in der Hand sehen. Aber das stellte natürlich ein massives Risiko für alle Menschen vor Ort dar. Nur fünf Tage nach dem Anschlag in München wurde die GSG9 gegründet, eine Spezialeinheit, die mit einer solchen Situation tatsächlich hätte umgehen können. Aber wenn man sich die Originalaufnahmen ansieht, wirkt das ganze Szenario fast lächerlich. Es waren ganz normale Polizisten, die den Befehl erhielten, die besetzte Wohnung zu stürmen – aus heutiger Sicht total unverantwortlich.
Noch eine Frage steht im Raum, bezogen auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina. Wie sehen Sie die Entwicklung der Lage, insbesondere auch in Bezug auf die Berichterstattung in den Medien?
Der Konflikt eskalierte erneut auf tragische Weise, als wir kurz vor Abschluss der Postproduktion standen. Die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg hatten also keinen direkten Einfluss auf unseren Film. September 5Åist aus einer ganz bestimmten Perspektive erzählt, und behandelt diesen Wendepunkt in der Mediengeschichte. Unter anderem thematisieren wir dabeiÅdie Macht der Bilder, und das spielt bezogen auf jede Krisensituation eine wichtige Rolle. Dieser Weitblick ist mir sehr wichtig.
Sie haben Ihr Gespräch mit Jeffrey Mason erwähnt. Hat er während der Übertragung tatsächlich nicht über die Auswirkungen nachgedacht?
Er sagt nein, weil dafür einfach keine Zeit war. Live-Berichterstattung ist immer ein Kampf gegen die tickende Uhr. Erst als er zurück ins Hotelzimmer ging, hat es ihn wie ein Hammerschlag getroffen und ihm schossen die Tränen in die Augen. Bis dahin musste er professionell auftreten, so hat er es erklärt.
Inwiefern hat sich Ihre Vorstellung von Moral durch die Arbeit am Film verändert?
Insbesondere im Schnitt habe ich gemerkt, wie schmal der Grat zwischen Zeigen und „zur Schau stellen“ ist. Wichtig war mir, eine gewisse Distanz zum Material zu wahren, sozusagen eine zurückhaltende Perspektive einzunehmen. Und im Nachhinein ist mir noch einmal bewusst geworden, wie entscheidend das ist.