Aki Kaurismäki hat wieder einen neuen Film gedreht, auch wenn er sich eigentlich längst zur Ruhe setzen wollte. „Fallende Blätter“ erzählt von der Liebe in den Zeiten des Krieges.
Der Krieg in Europa liegt auch Aki Kaurismäki schwer im Magen. Vielleicht ist Putins Angriff auf die Ukraine überhaupt der Grund, warum der Finne sich doch wieder in den Regiestuhl gesetzt hat. Vor fünf Jahren hatte er nach der Premiere von The Other Side of Hope im Wettbewerb der Berlinale offiziell seinen Ruhestand erklärt: „Ich liebe das Kino, aber ich werde nicht für das Kino sterben“, sagte er damals überraschend. Und dass er endlich sein eigenes Leben führen wolle, vielleicht ein bisschen gärtnern – wirklich glauben konnte man es nicht.
Ähnlich wie sein britischer Kollege Ken Loach, kann auch Kaurismäki nicht tatenlos zusehen, wenn in der Welt Schreckliches passiert. Wenn Ungerechtigkeit spaltet. Oder Hass regiert. Deshalb hat er schon Mitte der neunziger Jahre weitergedreht, als er zum ersten Mal Schluss machen wollte. Das war nach seinem zweiten Leningrad Cowboys-Film. Seitdem sind in unregelmäßigen Abständen sieben weitere Lang- und etliche Kurzfilm entstanden. Jetzt hat er mit Fallende Blätter vielleicht seinen schönsten Liebesfilm vorgelegt.
Der Kino-Melancholiker
Die Frau, die zu Beginn hungrig und allein zu Bett geht, heißt Ansa (Alma Pöysti) und arbeitet auf Null-Stunden-Basis in einem Supermarkt. Sie ärgert sich darüber, dass es zu ihrem Job gehört, abgelaufene Lebensmittel zu entsorgen; ein mürrischer Wachmann beobachtet sie dabei, wie sie die ausrangierten Produkte an einen Hilfsbedürftigen abgibt, anstatt sie, wie angeordnet, in den Müllcontainer zu schmeißen. Ihren Job verliert sie noch am selben Tag, weil sie eines der abgelaufenen Sandwiches in die eigene Tasche gesteckt hat.
Auch beim Bauarbeiter Holappa (Jussi Vatanen) gibt es beruflich Ärger, weil er an der Flasche hängt und der Alkohol ihn nicht nur lakonisch macht. Eines Abends lernen sich die beiden per Blickkontakt in einer Karaoke-Bar kennen und eine zarte Verbindung entsteht. Danach laufen sie sich immer wieder zufällig über den Weg. Sie sind Seelenverwandte, das spürt man gleich. Aber weil das Leben nicht so einfach ist, wie man es sich wünscht, finden sie lange nicht näher zueinander: Erst will Ansa ihm ihren Namen nicht verraten, dann verliert Holappa den Zettel mit ihrer Telefonnummer. Auch dass er trinkt, ist für Ansa ein Problem, weil sie den eigenen Vater an den Alkohol verloren hat. Als Zuschauer ist man trotzdem schon längst in dieses trostlose Paar verliebt. Wobei eigentlich, wie wir es von Kaurismäki gewohnt sind, gar nicht viel passiert und erst recht nicht erzählt wird.
Fallende Blätter, den Kaurismäki selbst als vierten Film seiner „Working Class-Trilogie“ bezeichnet, ist ein Film mit viel Wärme und einem großen Herzen. Den Krieg, die soziale Ungerechtigkeit, die Klimakatastrophe, all das bringt er nebenbei unter, ohne einmal den Zeigefinger zu heben. Die Welt brauche gerade jetzt mehr Liebesgeschichten, argumentierte der störrische Kino-Melancholiker im Mai bei den Filmfestspielen in Cannes, wo er für sein Werk mit dem Preis der Jury geehrt wurde. Weil der publikumsscheue Regisseur jedoch schon wieder abgereist war, nahmen seine Hauptdarsteller die Auszeichnung stellvertretend für ihn entgegen. Der kurze Dankesbrief, der er ihnen mitgegeben hatte, endete mit der Aufforderung: „Twist and Shout!“
Jedes Wort, jeder Dialog, auch wenn er noch so knapp ist, will bei Kaurismäki immer mehr als bloße Aussage sein. Das gilt ebenso für die Musik, die er in seinen Filmen oft kommentierend einsetzt, und nicht selten ironisch meint. Am schönsten kann er jedoch in einfachen Bildern erzählen, die er stets bis aufs kleinste Detail perfekt arrangiert: Etwa wenn Asna ihrem Verehrer nach einem gelungenen Kinoabend zum Abschied einen scheuen Kuss auf die Wange gibt, während im Hintergrund ein Plakat von David Leans Brief Encounter hervorlugt; oder Holappa, der, bevor er in die Karaoke-Bar aufbricht, noch einmal tief in den Spiegel blickt, als ob er auf ein Wunder hofft.
Sämtliche Grundfeiler seines einzigartigen Stils lassen sich auch in Fallende Blätter finden: die gedämpften Farben und klug gesetzten Kontraste, der spröde Humor gemischt mit warmherziger Menschlichkeit, dazu ein Hauch von Sehnsucht nach dem alten Hollywood und die stets absolute Konzentration auf das Wesentliche – kein Requisit, kein Satz, kein Blick zu viel. Wie muss man sich da das Drehbuch vorstellen? „Auch das hat eine sehr strenge Form“, erinnert Alma Pöysti. „Lange Dialoge zu schreiben, ist einfach, aber die Dinge klar und kurz zu halten, ist ein echtes Talent. Fasziniert haben mich die kleinen Beschreibungen der Figuren, die er dazwischen setzt, wie bei der Barfrau, die seit 30 Jahren hinter dieser Theke steht, als hätte sie sich nie über diesen Radius hinausbewegt. Und dann sieht man den Film und denkt: Ja, genau so steht sie da.“
Akiland
Befragt man seine Schauspieler genauer zu dem, was die besondere Kunst des finnischen Auteurs ausmacht, merkt man schnell, dass der 1966 geborene Sohn einer Kosmetikerin und eines Handelsreisenden in seiner Heimat längst als nationales Kulturgut gilt: „Kaurismäki liegt uns im Blut. Wir lieben seine Filme und seine Figuren“, sagt Jussi Vatanen voller Begeisterung. „Als finnischer Schauspieler träumt man davon, einmal die Chance zu haben, mit ihm zu arbeiten. Er ist eine lebende Regielegende. Gleichzeitig bleibt er stets eine mythische Figur. Es scheint, als würde er sich in einer anderen Dimension bewegen.“
Versucht man es trotzdem, das Geheimnis hinter dem Phänomen zu lüften, wird schnell klar, dass der Aberwitz, die Lakonie und die Verzweiflung seiner Figuren nicht weit hergeholt sind. Kaurismäki dreht seine Filme so, wie er auch raucht und trinkt: Unerbittlich und ohne Rücksicht auf sich selbst. Die eigenen Ängste, Macken und Neurosen sind der Stoff, aus dem er auf der Leinwand seine Kraft gewinnt. Dafür muss er nicht einmal mehr in Helsinki leben. Seit 1989 verbringt er die meiste Zeit in Portugal und kehrt nur gelegentlich in den kühlen Norden zurück. Immer dann, wenn der Druck zu groß wird und es ihn wieder hinter die Kamera zieht.
Für seine minimalistischen Geschichten über gesellschaftliche Außenseiter mit existenziellen und existenzialistischen Nöten und Verlierer aus der Arbeiterklasse wurde Kaurismäki in den achtziger und neunziger Jahren berühmt. Wie kein anderer hat er das Kino seines Landes geprägt – und das obwohl er an der Filmschule durchfiel, weil man ihn dort für zu zynisch hielt. Danach schlug er sich selbst mit Aushilfsjobs durch und schrieb Drehbücher für seinen zwei Jahre älteren Bruder Mika, bis er 1981 erst eine Musik-Doku und zwei Jahre später sein Filmdebüt, eine Adaption von Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“ drehte.
Die Welt von Kaurismäki verdankt zweifelsohne viel der düsteren Miene seines Heimatlandes, die man sofort an einem einzigen Bild aus fast jedem seiner Filme erkennen kann. Aber er liebt seine Figuren viel zu sehr, um sie einfach ihrem tragischen Schicksal zu überlassen. Die ungewöhnliche Verbindung, die er zwischen sozialem Realismus und visueller Stilisierung, zwischen trockener Komödie und warmherzigem Humanismus herstellt, ist etwas, das seine Schauspieler als „Akiland“ bezeichnen. Seine Filme sind jedoch nie didaktisch. Zwar ist die Sozialkritik stets präsent, aber sie wird stets geschickt verpackt, um den Schlag zu mildern. Die eleganten Bildkompositionen hüllen die düstere Realität, mit der Kaurismäkis Figuren konfrontiert sind, in eine träumerische visuelle Schönheit, die auch in Fallende Blätter erneut seinem langjährigen Kameramann Timo Salminen zu verdanken ist.
Weil Kaurismäki seine Meinung nicht verschweigt, selbst wenn er öffentliche Auftritte möglichst vermeidet, drehte er 2002 The Man Without a Past, um sich mit der Arbeitslosigkeit in seinem Land auseinanderzusetzen; vier Jahre später hätte seine Neo-Noir-Komödie Lights in the Dusk ins Rennen um den fremdsprachigen Oscar gehen sollen, doch er zog den Film aus Protest gegen den Irakkrieg zurück.
So kann er als wachsamer Regisseur auch angesichts des Kriegs in der Ukraine jetzt nicht schweigen. Fallende Blätter ist sein Kommentar zur aktuellen Weltlage. Aber man spürt, dass er trotz allem die Hoffnung tief im Herzen noch immer nicht ganz und gar verloren hat.