Mit „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ hat Hans-Christian Schmid seinem Œuvre einen weiteren herausragenden Beitrag hinzugefügt.
Es ist eine Auseinandersetzung, wie sie zwischen Heranwachsenden und ihren Eltern wohl tausendfach vorkommt. Als der 13-jährige Johann (Claude Heinrich) nach der Lernstunde in Sachen Latein von seinem Vater Jan Philipp noch die Empfehlung bekommt, Vergils „Aeneis“ zu lesen, verliert der junge Mann die Contenance: Er wolle seine Zeit nicht mit antiken Sprachen und Geschichten aus ebensolchen Epochen verschwenden, die aus seiner Sicht keinerlei Bezug zur Gegenwart mehr hätten. Die Gegenargumente seines Vaters wischt Johann ungestüm – wie man das in diesem Alter eben so zu tun pflegt – vom Tisch. Wie gesagt, ein kleiner, eigentlich belangloser Konflikt, der das Leben der großbürgerlichen Hamburger Familie nicht belasten sollte. Doch dieser Vorfall soll für die nächsten Wochen eine der letzten Erinnerungen an die Normalität sein, denn knapp danach wird Johanns Vater Opfer einer Entführung, womit nichts mehr so sein wird wie früher.
Nach einer wahren Geschichte
Besagtes Szenario, das am Anfang von Hans-Christian Schmids Wir sind dann wohl die Angehörigen steht, hat einen realen, sehr bekannten Hintergrund, nämlich die Entführung von Jan Philipp Reemtsma, Sohn und Erbe des Zigarettenfabrikanten Philipp Fürchtegott Reemtsma, im Jahr 1996. Und es ist im gegenwärtig höchst populären Genre True Crime ein durchaus ungewöhnlicher Zugang, den Schmid gewählt hat, um sich dem Kriminalfall anzunähern. Denn basierend auf dem 2018 erschienen Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung“, das Johann Scheerer, der Sohn von Jan Philipp Reemtsma, verfasst hat, konzentriert sich Schmid auf die Perspektive der Familie, deren Leben durch dieses Verbrechen auf den Kopf gestellt wird. Ein Geschehen, das Schmid entgegen der ihm innewohnenden Dramatik betont unaufgeregt in Szene setzt. Das Anwesen der Familie wird zum Dreh- und Angelpunkt, was die kammerspielartig anmutende Atmosphäre noch verstärkt. Die Täter bleiben dabei bis auf verzerrte Stimmen aus dem Telefon ausgespart.
Den vollständigen Artikel lesen Sie in unserer Printausgabe 07+08/23
Nachdem Reemtsmas Ehefrau Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) den ersten Schock nach der Auffindung eines Erpresserschreibens samt Lösegeldförderung überwunden hat, setzt sie sich mit der Polizei in Verbindung, die sogleich die Dinge entschlossen in die Hand nimmt. Zwei Beamte, die als Angehörigenbetreuer fungieren, ziehen ebenso in das Anwesen der Familie Reemtsma wie ihr Anwalt Johann Schwenn (Justus von Dohnányi). Um die Verhandlungen mit den Entführern nicht zu gefährden, soll nichts nach außen dringen, doch den Anschein eines normalen Lebens zu erwecken, fällt Ann Kathrin und Johann naturgemäß schwer, wenn sich das eigene Zuhause in die Kommandozentrale einer umfassenden Polizeiaktion verwandelt. Die ohnehin schon große psychische Belastung wegen der Sorge um das Leben des Ehemanns und Vaters vergrößert sich, da die Kommunikation mit den Entführern äußerst zäh verläuft. Zudem erweisen sich die Vorgaben der Polizei bezüglich der Modalitäten der Lösegeldübergabe als zusehends hinderlich – zumindest aus Sicht der Angehörigen, die auf ein schnelles Verfahren drängen. Doch eine Mischung aus taktischen Fehlern, Pech und schlichtweg Inkompetenz führt dazu, dass sämtliche Übergabeversuche scheitern. Aus den Briefen, die Jan Philipp als Lebenszeichen seiner Familie schicken darf, klingt nach und nach immer deutlicher Verzweiflung über die Verzögerung heraus, Ann Kathrin wird klar, dass sie nun bald eine Entscheidung treffen muss – auch gegen den Willen der Behörden.
Mit der streckenweise geradezu nüchtern anmutenden Präzision, bei der sich jedes Detail als stimmig erweist, gelingt es Schmids Inszenierung, die psychische Belastung, die auf den Protagonisten lastet, herauszuschälen. Das betrifft die titelgebenden Angehörigen, auf denen – leicht nachvollziehbar – der größte Druck lastet, doch auch bei den Polizisten, die im Haus einquartiert im engen Kontakt mit der Familie stehen, hinterlässt das Spuren. Auch der Anwalt der Familie, der zunächst als Ansprechpartner für die Entführer fungiert, verliert angesichts der stetigen, wochenlang andauernden Anspannung die Fassung, bis von seiner nach außen getragenen Souveränität nichts mehr übrig bleibt. Schmid versteht es dabei kongenial, die Spannung bedächtig, beinahe unmerklich aufzubauen, bis der psychische Druck geradezu spürbar wird. Sein formidables psychologisches Drama, das in Österreich unerklärlicherweise ohne Kinostart geblieben ist, generiert Spannungsmomente auf höchst nuancierte Art und Weise: Allein das Klingeln des Telefons, das das zermürbende Warten auf den nächsten Anruf der Entführer unterbricht, wird dabei zu einem Geräusch, das bei den Betroffenen gleichzeitig Hoffnungen und Ängste evoziert.
Charakteristische Genauigkeit
Wir sind dann wohl die Angehörigen fügt sich nahtlos in die Reihe von bemerkenswerten Regiearbeiten ein, die im bisherigen Schaffen von Hans-Christian Schmid zu finden sind. Der 1965 geborene Schmid studierte an der Dokumentarfilmabteilung der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film, mit seiner Abschlussarbeit Die Mechanik des Wunders – die sich mit den religiösen und kommerziellen Praktiken im Wallfahrtsort Altötting, Schmids Geburtsstadt, auseinandersetzt – konnte er erstmals auf sich aufmerksam machen. Mit dem für das Fernsehen produzierten Himmel und Hölle (1994), der religiösen Fanatismus thematisiert, konnte Schmid seinen ersten Spielfilm realisieren. Ein Jahr später folgte sein Kinodebüt Nach Fünf im Urwald. Die Rolle der 17-jährigen Protagonistin, deren Geburtstagsparty ohne elterliche Aufsicht höchst turbulent aus dem Ruder läuft, übernahm eine am Beginn ihrer Karriere stehende Schauspielerin namens Franka Potente. Doch vor allem 23 – Nichts ist so wie es scheint (1998) etablierte Schmid als einen der spannendsten Filmemacher, die das deutsche – und europäische – Kino aufweisen kann. Die auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte veranschaulicht exemplarisch die Qualitäten, die Schmids Arbeiten auszeichnet. Im Mittelpunkt steht der von August Diehl gespielte Karl Koch, der in den achtziger Jahren zu den ersten Computerhackern in der Bundesrepublik Deutschland gehörte. Doch ebenso wie von der neuen Technik ist der junge Mann von Verschwörungstheorien, insbesonders jenen um den Geheimbund der Illuminaten, fasziniert. Als Karl und sein Hacker-Kumpel David in Kontakt mit zwei Kleinkriminellen kommen, schmiedet das ungleiche Quartett einen geradezu aberwitzigen Plan: Sie bieten in Ost-Berlin dem sowjetischen Geheimdienst KGB illegal erlangte Daten an – und tatsächlich geht man dort auf das Angebot ein. Zu Anfang gaukeln sich Karl und David noch vor, die ganze Aktion geschehe in gutem Glauben, um auf technologischem Gebiet eine Art Gleichgewicht zwischen Ost und West herzustellen, doch das erweist sich bald schon als Hirngespinst, hervorgebracht durch jugendlichen Überschwang und Kokainrausch. Als schließlich die Behörden den Möchtegern-Spionen auf die Schliche kommen, mutiert die Farce unweigerlich zur Tragödie. Hans-Christian Schmid gelingt mit dieser Geschichte nicht nur ein spannender Thriller, dank seiner immer höchst genauen Inszenierung, die keine Effekthascherei kennt, erweist sich 23 auch als vielschichtiges und stimmiges Porträt der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren. Der Kalte Krieg und die großen Anti-Atomkraft-Bewegung samt der Katastrophe von Tschernobyl bilden den Hintergrund für jene von Ängsten und Zweifeln geprägte gesellschaftliche Stimmung, die sich stark zugespitzt zunehmend in den paranoiden Vorstellungswelten – die gegenwärtig gern gehandelten kruden Ideen eines „Deepstates“ finden sich dabei bereits in all ihren absurden Facetten –, in die Karl Koch abdriftet, widerspiegelt.
Genau und formal bewusst spröde thematisiert Schmid in Requiem (2006) ein brisantes Sujet, das wiederum auf realen Begebenheiten beruht, nämlich auf dem tragischen Tod der Studentin Anneliese Michel, die 1976 an Unterernährung verstarb, nachdem zwei katholische Priester wiederholt den Ritus des Exorzismus vollzogen hatten. In Requiem heißt diese junge Frau Michaela Klingler und wird in all ihrer Tragik von der wie immer großartigen Sandra Hüller verkörpert. Michaela nimmt ihr Pädagogikstudium an der Universität Tübingen mit großem Enthusiasmus auf, ungeachtet der immer wiederkehrenden epileptischen Anfälle, unter denen sie seit ihrer Jugend leidet. Doch als die Krankheit immer präsenter wird, schlägt der Einfluss ihres strenggläubigen Elternhauses – insbesondere der engstirnige Fundamentalismus ihrer Mutter erweist sich als katastrophal – auf fatale Weise durch, denn Michaela vermeint zusehends, von dämonischen Kräften gequält zu werden. Obgleich sich Michaela in der von Rationalität geprägten Welt der Universität eigentlich gut eingelebt hat, wird sie durch die archaisch anmutende Glaubenspraxis ihrer Familie – einer der hinzugezogenen Priester spielt dabei eine besonders unheilvolle Rolle – schließlich förmlich aufgerieben. Requiem endet betont unspektakulär, Michaela lehnt es einfach ab, mit ihrer Kommilitonin nach Tübingen zurückzukehren und ärztliche Hilfe anzunehmen. Sie verbleibt im Haus ihrer Eltern auf dem Land, wo sie, wie man nur durch ein schlichtes Insert am Schluss erfährt, völlig entkräftet nach einem Exorzismus den Tod findet. Doch gerade Schmids betont nüchterner Erzählstil entwickelt jene Intensität und den kongenialen Duktus, um der Passion der Protagonistin narrativ gerecht zu werden.
Genau und schnörkellos setzt Schmid Sturm (2008) als Politthriller mit realem Hintergrund in Szene. In der Absicht, einen hohen Militär, der während des Bürgerkriegs in Jugoslawien an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein soll, zur Verantwortung zu ziehen, gerät eine Staatsanwältin (Kerry Fox) des Internationalen Strafgerichtshofs bei der Suche nach Wahrheit (und Gerechtigkeit in Konflikt mit handfesten politischen Interessen, aber auch eigenen Prinzipien.
Typisch für Hans-Christian Schmids Arbeitsweise ist die unaufgeregte Präzision, mit der er höchst unterschiedliche Themen beleuchtet. Doch dabei erweist er sich nicht nur als genauer Chronist – dass Schmid wiederholt auf reale Begebenheiten zurückgreift, mag durchaus seinen dokumentarischen Wurzeln geschuldet sein –, er legt nach und nach auch Wahrheiten psychologischer Natur frei. Dabei werden die zentralen Charaktere durch den Verlauf der Geschehnisse – Schmids akribische Herangehensweise trägt ihren Teil dazu bei – auf eine Art Nullpunkt geworfen, aus dem man sich nicht mehr wegschwindeln kann. Den Betroffenen wird, ungeachtet der oft schmerzlichen Konsequenzen, klar, dass nun eine Entscheidung fallen muss. In der Konsequenz, mit der Schmid das in Szene setzt, wird man immer wieder an die großartigen Regiearbeiten von Sidney Lumet erinnert. Auch Ann Kathrin, Protagonistin von Wir sind dann wohl die Angehörigen, muss sich schließlich damit konfrontieren, dass sie die Dinge nicht mehr an Polizeibehörden oder andere vermeintlich zuständige Instanzen auslagern kann. Sie findet sich an jenem Punkt, an dem völlig klar ist, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als die Verantwortung ganz allein zu übernehmen.