Olivier Assayas liebt Irma Vep und kommt nicht von ihr los. Nach einer ersten Kinoadaption vor 25 Jahren hat er jetzt eine Art Serie-im-Film-im-Serial gedreht, in der Alicia Vikander als geheimnisvolle Ganovin im Catsuit strahlt.
Paris, 1915: Die Stadt ist im Griff einer tödlichen Verbrecherbande, die sich „Les Vampires“ nennt. Ein abgetrennter Kopf wird in einem Luftschacht gefunden, eine Tänzerin mit einem vergifteten Ring ermordet. Ein Ball wird ausgerichtet, um die gesamte elegante Gesellschaft auf einmal ihrer Juwelen zu berauben. Und im Epizentrum dieses schwindelerregenden Amoklaufs steht jene mysteriöse Verbrecherin und Meisterin der Verkleidung, um die es hier geht: Irma Vep.
In einer frühen Szene von Louis Feuillades Serie Les Vampires ist sie als bretonisches Dienstmädchen getarnt, komplett mit weißer Spitzenhaube und Schürze – ein Look, der Mut erfordert, aber selbst der steht ihr gut. In diesem Outfit dringt Irma Vep in die Wohnung des Journalisten Philippe Guérande ein, der sie und ihre Komplizen zu entlarven versucht. Doch die flinke Vampirin (in einer etwas holprigen Animation werden die Buchstaben ihres Kabarettplakats neu angeordnet, um das Geheimnis ihre Namens aufzulösen) entkommt durch das Schlafzimmerfenster und flieht leichtfüßig über die Dächer der Stadt. Später wird sie ihr Kostümrepertoire um einen schwarzen Catsuit erweitern, sich als Sekretärin ausgeben oder einmal sogar in Herrenunterwäsche erscheinen. Aber egal, wie sehr sie sich hinter ihren grandiosen Outfits oder dem cleveren Anagramm zu verstecken versucht, Irma Vep, hier gespielt von der einzigartigen Musidora aka Jeanne Roques, ist sofort erkennbar – ihre tiefen, schwarz umschminkten Augen haben es in sich, sie blitzen in die Kamera, unverwechselbar, bedrohlich und aller Gefahr zum Trotz.
Über hundert Jahre später blickt Alicia Vikander mit ähnlich mysteriösem Blick von der Seite zu uns, eigentlich in uns hinein. Auch sie trägt einen eng anliegenden schwarzen Samtanzug und schleicht sich elegant die Treppe hinauf und wieder herunter. Sie ist Irma Vep in Olivier Assayas neuestem Versuch, die Geschichte jener frühen Ganovin wieder aufleben zu lassen. Der französische Regisseur, das muss man wissen, ist vernarrt in die geheimnisvolle Femme fatale aus Feuillades berühmter „Seifenoper“. Eigentlich hatte er aus dem zehn Episoden umfassenden Stummfilm-Serial, das einst im Kino gezeigt wurde, bereits 1996 eine Version in Spielfilmlänge gedreht, verschachtelt als Film im Film, der von den Dreharbeiten zu einem Remake von Les Vampires erzählt. Die Hauptrolle übernahm damals die chinesische Schauspielerin Maggie Cheung, die darin quasi sich selbst spielt. Zwei Jahre später heiratete Assayas seine Muse, doch bereits 2001 zerbrach die Ehe, und die Wunde scheint bei dem Regisseur weitaus tiefer zu sitzen, als er sich über die Jahre selbst eingestanden hat. Sie entfremdeten sich, sagt er heute. Bei der Arbeit am Remake zu seinem eigenen Film holte ihn seine Vergangenheit jedoch erneut ein. Also stürzte er sich kopfüber in die Konfrontation.
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Verschachtelungen
Irma Vep, die Serie, ist demnach eine Geistergeschichte im doppelten Sinn. Und es braucht diese lange Vorgeschichte, um zu verstehen, warum. Den Bezug zu sich selbst stellt Assayas erst in der vierten Episode her, wo der von seiner Vergangenheit gequälte Regisseur René Vidal (Vincent Macaigne), der in der Serie als eine Art Alter Ego des modernen Auteurs fungiert, aus einem Traum erwacht und seine Ex-Frau plötzlich vor ihm auf der Bettkante sitzt: „Was soll ich sagen? Es ist wahr.“, erklärte Assayas daraufhin in einem Interview mit Vanity Fair. „Ich wurde zu einer Figur in meiner eigenen Show, und meine Beziehung zu Maggie wurde Teil der Erzählung. Ich reproduzierte irgendwie das Gespräch, das ich nie mit ihr geführt hatte und das ich gerne geführt hätte.“ So war das also.Aber die Meta-Verschachtelung geht noch weiter. Diesmal ist Alicia Vikander die Schauspielerin, die wie einst Maggie Cheung nach Paris reist, um dort die Hauptrolle in einer Neuverfilmung des französischen Stummfilm-Klassikers zu übernehmen. Und wer sonst könnte Irma Vep heute besser verkörpern als die schwedische Schauspielerin, die in ihrer Filmografie stets lustvoll zwischen anspruchsvollem Indie-Kino und Hollywood-Blockbustern wie Tomb Raider changiert, seit sie vor zehn Jahren in Nikolaj Arcels Historiendrama Die Königin und der Leibarzt an der Seite von Mads Mikkelsen zum ersten Mal die große Leinwand erobert hatte. Ihre Figur in Olivier Assayas’ Film-im-Film kämpft mit dem gleichen Entscheidungszwang, nämlich dem zwischen der Liebe zum echten, dem „wahren“ künstlerischen Kino und der Versuchung, dem Ruf Hollywoods zu folgen.
Entscheidend für den Erfolg der Serie ist jedoch Vikanders Charisma sowie die Sensibilität einer strahlenden jungen Schauspielerin, die hier ihre Zweifel an sich selbst ungeniert und offen zum Ausdruck bringt – im Hinblick auf ihre eigene Karriere, aber auch privat. Assayas’ Drehbuch konzentriert sich in der Hinsicht von Anfang an auf die vertrackte Beziehung von Mira (Vikander) zu ihrer ehemaligen Assistentin, in die sie bis heute verliebt ist, selbst wenn sie von ihr nur mehr um den kleinen Finger gewickelt und emotional gepiesackt wird. Doch wenn sich Mira im nächsten Augenblick wieder ihr Irma-Vep-Kostüm überstreift und wie eine Katze bewegt, wenn sie es schafft, Wände zu durchschreiten oder wie Musidora zu tanzen, gehört die Serie ganz und gar ihr und nur ihr allein. Für alle, die das Original nicht kennen, wechselt der Regisseur immer wieder geschickt zwischen Alt und Neu, Realität und Fiktion, Kunst und Leben und hat so eine unterhaltsame Neuauflage geschaffen, die Vikander mit ihrer einnehmenden Präsenz zu einem kleinen Ereignis im hoffnungslos übersättigten Serienmarkt macht.
Dabei ist nicht zuletzt der Bezug zu Musidora von besonderer Bedeutung. Ihre Irma Vep ist bis heute eine der größten, weil eine der ersten Superheldinnen: eine eigenwillige Darstellerin, die sich darüber hinaus auch damals schon als Regisseurin und Produzentin behauptete (vielleicht ist es daher kein Zufall, dass auch Vikander als Produzentin an der Neuauflage beteiligt ist); sowie eine freie Frau, die ihrer Zeit weit voraus war und heute ohne Weiteres als Pionierin herangezogen werden kann, wenn es um die Verteidigung der Gleichstellung der Geschlechter geht. Und in der Hinsicht geht es eben nicht nur um die fabelhaften Outfits, den Catsuit oder das Make-up.
Obwohl Irma Vep stets von Männern umgeben ist, scheint sie es nicht zu bemerken oder sich darum zu kümmern. Sie macht, was sie will – stiehlt, betrügt und verärgert die Leute – und zwar aus voller Überzeugung und ohne Rücksicht auf Verluste. Als sie sich von Guérandes Wohnung schließlich leise über die Dächer von Paris hinwegschleicht, die bretonische Kopfbedeckung im Mondschein schimmernd, schaut sie kein einziges Mal nach unten, in der Gewissheit: Die Welt gehört ihr.