Doch die Frage bleibt die selbe: Was ist eigentlich zu sehen in Rainer Werner Fassbinders sehr langem Film „Berlin Alexanderplatz“? Über die DVD-Edition der restaurierten Fassung.
Bis noch vor einem Vierteljahr geisterte Berlin Alexanderplatz, Rainer Werner Fassbinders Verfilmung des gleichnamigen, 1929 erschienenen Romans von Alfred Döblin, eher wie ein Phantom durch die Film- respektive Fernsehgeschichte und war für ihre Verehrer so unerreichbar wie es fürs Fernsehen produzierte Sachen halt eben manchmal sind. Die weitgehende Unsichtbarkeit der Serie – mit 13 Teilen und einem Epilog ist sie insgesamt über 15 Stunden lang und damit weder für Kino noch TV leicht zu programmieren – gab Anlass zur Legendenbildung, und je länger sie nicht gezeigt wurde, desto berühmt-berüchtigter wurde sie.
Es gab jene, die das Werk bei seiner Erstaufführung 1979/80 zur Gänze oder in Teilen im Fernsehen gesehen hatten, vielmehr: nicht gesehen hatten, und die bezeugen konnten, dass seine Lichtgestaltung tatsächlich eine enorme Herausforderung darstellte. Zentraler Bestandteil der Legende um die Serie Berlin Alexanderplatz nämlich ist, dass sie „viel zu dunkel“ gewesen sei. Dieter Hildebrand formulierte das in der damaligen Ausgabe seiner Satire-Sendung Scheibenwischer so: „Vorne ist es dunkel, und hinten liest der Fassbinder aus dem Roman.“ Nun ja, es konnte einem schon so vorkommen, und insbesondere die Springer-Presse nutzte die Gunst der Stunde zu einer weiteren Hetzkampagne gegen den „Schmutzfinken“ Fassbinder. Andererseits aber veranlassten einen die Lichtverhältnisse auf der Glotze dazu, in dieselbe hineinzustarren wie vielleicht zuvor und danach nie wieder. Auf der Suche nach Franz Biberkopf und dem, was ihm geschah, wurden einem Konzentration, Phantasie und teilnehmende Aufmerksamkeit abverlangt. Mit der passiven Rezeptionshaltung einer typischen Couch-Potato ließ einen Fassbinder auch diesmal nicht davonkommen.
Neben diesen Zeit-Augenzeugen gab es jene, die das Glück hatten, einer der seltenen Kino-Vorführungen der 16mm-Kopie des Films beizuwohnen. Beispielsweise an einem Wochenende Mitte der Neunziger in einem kleinen Kino mit Briefmarkenleinwand in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes; was zu hübschen Überschneidungen führte und ohnehin die ideale Aufführungspraxis für das Werk darstellt. Bei dieser Gelegenheit ergab sich dann schon ein klareres Bild. Und ein Sog entstand. Fassbinders legendäres Mammut-Werk ist eine Seh-Erfahrung in doppelter Hinsicht. Denn die Form, die Licht als Mittel der Erzählung bis an die Grenzen des Möglichen erprobt, wirkt zugleich als Verführung in die Geschichte. Ehe man sich recht versieht, ergreift einen das Schicksal des Franz Biberkopf und lässt einen auch nicht mehr los. Die Komplexität der Handlung und die Elaboriertheit der Oberfläche bedingen und spiegeln einander. Und immer ist da eine Dringlichkeit in den Bildern, ein energisches Insistieren und rhythmisches Vorantreiben, das von der Leidenschaft des Regisseurs zeugt und einen mitreißt bis zum bitteren Ende.
Material – Stoff – Textur
Gedreht wurde Berlin Alexanderplatz auf 16mm-Filmmaterial und dann für die Fernseh-Ausstrahlung auf MAZ umkopiert. Bei dieser Gelegenheit stellte sich heraus, dass das Resultat bei weitem dunkler (und grüner) ausfiel als beabsichtigt, ändern ließ sich daran allerdings nichts mehr. Insofern bedeutet die für die vorliegende restaurierte Fassung vorgenommene Aufhellung und Farbsättigung der Bilder auch kein wirkliches Sakrileg. Man darf nur nicht vergessen, dass die Lichtdramaturgie der Erstausstrahlung mit ihren extremen Helligkeits-Unterschieden und großflächigen Dunkelheiten, aus denen sich etwas herausarbeiten zu wollen schien, Teil der Rezeptionsgeschichte des Films und somit gültig ist.
Für die von der RWFF (Rainer Werner Fassbinder Foundation) initiierte Restaurierung wurde nun das gesamte 16mm-Material eingescannt und digital nachbearbeitet. Kameramann Xaver Schwarzenberger war für eine neue Licht- und Farbbestimmung jedes Bildes verantwortlich. Der Unterschied ist gravierend, wie Vergleichsbilder im etwas spärlich geratenen, knapp ausreichenden Zusatzmaterial der DVD-Edition zeigen. Zusätzlich wurde eine 35mm-Kopie für den Kinoeinsatz gezogen, die jedoch, bedingt durch die spezifischen Eigenschaften des Ausgangsmaterials, szenenweise arg grobkörnig ausgefallen ist.
In seiner ursprünglichen Form werden wir Berlin Alexanderplatz künftig wohl nicht mehr zu sehen bekommen. Die kompromisslose Schwärze, mit der Franz Biberkopf einstmals kämpfte, ist einer etwas zugänglicheren Düsternis voller Schattierungen und Strahlungen gewichen. Die Fragestellung ändert sich von „Was ist überhaupt zu sehen?“ hin zu „Warum ist es auf diese Weise zu sehen?“ Farbe und Kadrage gewinnen an Bedeutsamkeit: Die Reflexionen von Neonlichtern in den Gesichtern, pulsierend blinkend; die in den Augen, manchmal sogar an den Zähnen, aufblitzenden Licht-Sterne; die Rahmen und Beschränkungen des Seh-Feldes – alles den Bewegungen einer Kamera unterworfen, die auf Erkundungsgang ist. Nicht forsch, doch entschlossen. Mit angemessener Vorsicht neugierig. Eigenständiger Beobachter im Gewebe dieses Lebens.
Sehnsucht – Liebe – Tod
Alfred Döblins Roman zählt zu den zentralen Werken der Literatur der Weimarer Republik und wird in seiner Radikalität mit James Joyces Ulysses (1922) verglichen. Mit seiner Montage-Technik, die Stream-of-Consciousness–Passagen mit zeitgenössischen Dokumenten verknüpft, versuchte Döblin die Weltwahrnehmung des modernen Subjekts am Beispiel einer großstädtischen Existenz einzufangen: die Totalität der gleichzeitigen Erfahrung von Sein und Bewusstsein.
Im konkreten Fall vermittelt wird sie anhand der Figur des Franz Biberkopf, der in blinder Wut seine Freundin Ida totschlug, nach vier Jahren im Knast in Moabit an den Alexanderplatz zurückkehrt und schwört, ein anständiger Mensch zu werden. Die Geschichte dieser Menschwerdung ist zugleich die einer Zurichtung, oder vielmehr Zerstörung – was Fassbinders Erzählhaltung, die eine des bedingungslosen Mitgefühls ist, umso wichtiger macht. Seit seiner Jugend zählte er den Roman Berlin Alexanderplatz zu seinen prägenden Lektüreeinflüssen, und die tragische Figur des Kind gebliebenen, an seiner Liebe scheiternden Franz Biberkopf zieht sich durch Fassbinders gesamtes Werk. Denn der Proletarier mit krimineller Energie, der ein Kleinbürger wird und später wohl Nationalsozialist, ist nicht nur als präfaschistische Biografie von historischem Interesse.
Was Fassbinder an Biberkopf schätzt, ist dessen Fähigkeit zu vertrauen. Nur wer vertraut, fühlt auch, liebt am Ende gar. In der Figur des Biberkopf kollidiert dessen unbedingter Glaube an das Gute mit der von Fassbinder als grundlegend für das menschliche Miteinander erkannten Wahrheit von der Ausbeutbarkeit von Gefühlen: „Das ist so ein Mensch, der einfach über alles eigentlich mögliche und denkbare Maß hinaus glauben will, dass der Mensch auch innerhalb der Gesellschaft, in der er lebt, gut sein kann. Dass der Mensch, den er von Natur aus für gut hält, was ich auch tue, auch innerhalb der Gesellschaft, die ich für schlecht halte, was er vielleicht nicht so präzise tut (…), gut sein könnte – was ich nicht glaube.“1 Also wird an ihm ein Exempel statuiert; in Döblins den Roman einleitenden Worten: „Dies zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot.“
In Günter Lamprecht hat Fassbinder den kongenialen Gestalter dieses seelenverwandten Charakters gefunden. Doch das Verhältnis zwischen den beiden war nicht ganz einfach. Verständlicherweise, wenn man bedenkt, dass Lamprechts Konzeption der Figur sich gegen Fassbinders Liebe zu ihr behaupten muss-te – darin liegt auch ihre enorme Qualität. Denn Lamprecht liebt diesen Biberkopf nicht weniger, und seine Leistung in dieser Rolle zählt unbestritten zu den großen schauspielerischen Darbietungen des vergangenen Jahrhunderts. Oszillierend zwischen Flüstern und Schreien, endlos faszinierend, Ehrfurcht gebietend. Dergestalt, dass man immer wieder den Faden verliert, nur weil man ihm gerade beim Schauen zusieht oder seinem weichen Berlinerisch lauscht, das nie wieder so wunderbar geklungen hat. Und dann ist da noch Barbara Sukowas Mieze, um die herum immer die Sonne zu scheinen scheint. An ihr wärmt sich der Biberkopf, bis Reinhold sie ihm umbringt. Reinhold, Biberkopfs Nemesis und seine große Liebe. Wie Gottfried John in dieser Figur das Zärtliche mit dem Grausamen vermählt, das ist ein weiterer Grund dafür, Berlin Alexanderplatz wieder und wieder zu sehen.
1 Zitiert in: Rainer Werner Fassbinder: Die Anarchie der Phantasie. Gespräche und Interviews. Hg. von Michael Töteberg. Frankfurt/Main 1986 (Fischer Cinema), S. 148.