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Cannes Blog 1

Aufbruchsstimmung

| Pamela Jahn |

Cannes Blog 1

Alles anders, alles neu – mit diesem Motto wollen sich die Filmfestspiele von Cannes im 71. Jahr ihres Bestehens gegenüber Medien und Industrie behaupten.

Zunächst hieß es, das Festival werde heuer um einen Tag länger. Statt wie sonst üblich am Mittwoch zu starten, würde es diesmal bereits am Dienstag, den 8. Mai, losgehen. Keine schlechte Sache eigentlich, und auch die Begründung der Festivalleitung machte zunächst durchaus Sinn: „Following 2017’s anniversary edition, the Festival is beginning a new period in its history,“ stand es zukunftsgewandt in der Presseerklärung. Es ginge darum, dem nun beinahe zweiwöchigen Spektakel neue Energie einzuhauchen, das straffe Programm  auszubalancieren sowie dem Abschlussfilm – in diesem Jahr The Man Who Killed Don Quixote von Terry Gilliam – im Rahmen der Preisverleihung am Abend des 19. Mai mehr Profil einzuräumen.

So weit, so gut, dachte man. Dann jedoch sickerten allmählich die Hiobsbotschaften durch, allem voran, dass, nach dem Ärger mit den französischen Kinobetreibern im vergangen Jahr, diesmal gar keine Eigenproduktionen des Streamingdienstes Netflix an der Croisette zu sehen sein würden, weder innerhalb des Wettbewerbs, noch außer Konkurrenz – also auch nicht, wie lange gehofft, die neuen Filme von Alfonso Cuarón, Paul Greengrass und Jeremy Saulnier. Zudem hieß es, Cannes würde sich im Rahmen seines generalüberholten Neuorientierungs-Modells zukünftig ganz auf die Seite der Filmschaffenden stellen und deshalb zukünftig die Pressevorführungen nicht mehr wie bisher (und wie auf jedem anderen A-List Filmfestival weltweit üblich) vorab der Presse zeigen, sondern nur noch parallel oder danach. Der Gedanke dahinter sei es, jegliche Reaktionen auf ihr Werk von den Machern bis nach der Premiere fernzuhalten, um ihnen die Feierlichkeiten nicht etwa vom mehr oder weniger bitteren Beigeschmack der bereits über Twitter und sonstige Mittel verbreiteten öffentlichen Kritik verderben zu lassen. Darüber hinaus seien neuerdings Selfies auf dem roten Teppich verboten, und überhaupt würden die bereits einem Hochsicherheitsgefängnis gleichenden Kontrollmaßnahmen an den Eingängen zu dem Kinosälen sowie dem Palais de Festival in diesem Jahr noch einmal um einiges verschärft werden, um auch noch dem letzten Restrisiko hinsichtlich eines vermutlichen Terroranschlag im zeitweiligen Mekka des Films entgegenzuwirken.

Den zirka viertausend akkreditierten internationalen Journalisten vor Ort sind derart einschneidende Änderungen vor allem in der Sichtungsfolge der Wettbewerbsfilme selbstverständlich ein großer Dorn im Auge, und es wird sich zeigen, ob Festivalleiter Thierry Frémaux mit seiner Taktik, der Presse das erste Wort zu verbieten, tatsächlich den gewünschten Cocoon-Effekt erzielen kann, um Regisseure, Stars und Produzenten vor und während der Premieren von allen guten wie bösen Einflüssen abzuschotten, ohne dabei an anderen entscheidenden Ecken und Enden des Filmfestivalbetriebs einzubüßen. Fest steht hingegen, dass das Programm dieses 71. Festivaljahrgangs aus rein filmischer Perspektive nicht weniger spannend zu werden verspricht – auch wenn die Zahl der im Wettbewerb vertretenen Frauen wie schon im vergangen Jahr nicht über drei hinauskommt und dementsprechend weiterhin zu wünschen übrig lässt.

Dafür kehrt heuer einer an die Croisette zurück, von dem man es nun gar nicht erwartet hat: Lars von Trier. Vor sieben Jahren erklärte ihn die Leitung des Filmfestivals an der Côte d’Azur offiziell zur Persona non grata, nachdem er auf der Pressekonferenz zu seinem damaligen Wettbewerbsbeitrag Melancholia wirre Nazi-Äußerungen von sich gegeben hatte. Nun jedoch darf Von Trier seinem neuen Film präsentieren – wenn auch nur außer Konkurrenz. Egal. Berichten zufolge sei das nicht unblutige PsychodramaThe House that Jack Built, in dem Matt Dillon einen hochintelligenten Serienkiller verkörpert, gerade noch rechtzeitig fertig geworden, um Trier sein großes Cannes-Comeback zu garantieren.

Den Auftakt macht jedoch erst einmal der iranische Regisseur Asghar Farhadi. Nachdem er 2016 für The Salesman mit der Palme für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, darf er nun mit seinem ersten in spanischer Sprache gedrehten Film Everybody Knows am Dienstagabend das Festival einleiten. Für den nötigen Glanz und Glamour zur feierlichen Eröffnung werden zweifelsohne Penélope Cruz und Javier Bardem sorgen, die in Farhadis Film die Hauptrollen spielen. Ansonsten müssen auf dem Roten Teppich wohl in erster Linie Cate Blanchett in ihrer Funktion als diesjährige Jurypräsidentin sowie Mitjurorin Kristen Stewart für den auffälligen Mangel an Hollywood-Sternen im Programm herhalten, denn mit nur zwei von insgesamt 21 Wettbewerbsbeiträgen ist das US-amerikanische Kino diesmal äußerst dürftig in Cannes vertreten: Während Spike Lee sein provokantes Ku-Klux-Klan-Drama BlacKkKlansman vorstellt, geht David Robert Mitchell (It Follows) mit seinem Neo-Noir-angehauchten Under the Silver Lake ins Rennen um die Goldene Palme. Ron Howards Solo: A Star Wars Story läuft außer Konkurrenz.

Bleibt umso mehr Platz für andere spannende Regisseure und Regisseurinnen aus der ganzen Welt. Jafar Panahi zum Beispiel, Farhadis Landsmann, hat ebenfalls einen neuen Film gemacht, und zwar wieder einen, der gar nicht hätte gemacht werden dürfen. Denn immerhin ist Panahi seit 2010 wegen Systemkritik mit einem 20-jährigen Berufsverbot belegt, steht unter Hausarrest, darf keine Interviews geben und nicht ins Ausland reisen. Dennoch hat er es erneut geschafft, sämtliche Hürden zu umgehen, und bis heute ist man zuversichtlich in Cannes, dass diesmal vielleicht nicht nur sein Film, sondern auch Panahi selbst nach Frankreich kommen darf, um sein nach eigenen Aussagen „Feel-Good-Road-Movie“ zu präsentieren. Dem Russen Kirill Serebrennikov dagegen bleibt diese Hoffnung versagt. Sein neuer Film Leto wird ohne ihn laufen müssen, denn der regimekritische Theater-, Film- und Opernregisseur hat ebenfalls strenges Reiseverbot und wartet in Moskau derzeit noch immer auf einen Schauprozess, mit dem die russische Regierung die Kulturschaffenden in ihrem Land ein für alle Mal das Fürchten lehren will.

Überdies meldet sich der mittlerweile 87-jährige Kinophilosoph Jean-Luc Godard mit dem experimentell angelegten The Image Book zurück an der Croisette, doch auch der medienscheue Schweizer dürfte, obwohl er selbstverständlich könnte, dem Rummel an der Croisette mit ziemlicher Sicherheit fern bleiben. Vor Ort sein wird dafür der polnisch-britische Ida-Regisseur Pawel Pawlikowski, um sein Nachkriegs-Liebesdrama Cold War vorzustellen, sowie der Türke Nuri Bilge Ceylan, der nach seinem Siegerfilm Wintersleep vor vier Jahren nun mit The Wild Pear Tree abermals um die Goldene Palme konkurriert. Der neugierige Skeptiker Jia Zhangke ist mit seinem neuen Werk unter dem Titel Ash is Purest White sogar bereits zum fünften Mal im Wettbewerb vertreten, ebenso wie sein japanischer Kollegen Kore-eda Hirokazu, der sein jüngstes Familiendrama Shoplifters im Gepäck hat. Neben Matteo Garrone, der heuer mit einem urbanen Western aufwartet, ist auch die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher mit Happy as Lazzaro erneut vertreten, nachdem sie vor drei Jahren für ihre zeitlose, humorvolle Familienskizze The Wonders mit dem Großen Jurypreis von Cannes ausgezeichnet wurde. Eva Hussons Frauen-Kriegsfilm Girls of the Sun ist neben den Arbeiten von Godard, Christophe Honoré und Stéphane Brizé einer von insgesamt vier französischen Beiträgen im Wettbewerb, während sich die libanesische Schauspielerin und Regisseurin Nadine Labaki mit Capernaum als dritte Frau im Bunde gegenüber dem eingeschworenen Cannes-Männerclub zu behaupten versucht.

Ulrich Köhlers In my Room hat es in diesem 71. Aufbruchsjahrgang zwar „nur“ in die immerhin wichtigste Nebenreihe des Festivals Un Certain Regard geschafft, aber sollte sein Film auch nur annähernd so gut sein wie im vergangenen Jahr Valeska Griesbachs Western, dann stehen auch für den 48-jährigen gebürtigen Marburger die Chancen durchaus auf Erfolg. Überhaupt geht es in den Sektionen außerhalb des Wettbewerbs bisweilen umso heißer her – und auch das ist eine Entwicklung, die Cannes in den letzten Jahren verschärft forciert. So darf man sich des Weiteren etwa auf neue Werke von Debra Granik, Gaspar Noé, Romain Gavras und Ciro Guerra & Cristina Gallego freuen, die allesamt in der Quinzaine des Réalisateurs (Director’s Fortnight) laufen. Grund genug also, um trotz aller lästigen Neuregelungen und der damit einhergehenden Nebenwirkungen einem spannenden Festival entgegenzusehen, das den Blick nach vorne zu richten versucht, ohne dabei die Leinwand aus den Augen zu verlieren.