Cannes-Blog 2

ABSTAND HALTEN

| Pamela Jahn |

Neues von Hazanavicius, Haynes, Baumbach und Haneke.

Die Stimmung ist gut, das Wetter prächtig, ja selbst die Filme sind bisher (fast) alle sehenswert – und trotzdem ist irgendwie der Wurm drin zum großen Jubiläum in Cannes. Erst die Kontroverse um Netflix, die das Festival im Vorfeld belastete, dann eine seltsam passende technische Panne um das falsch ausgerichtete Screening-Format von Bong Joon-ho Okja, dem ersten der beiden Wettbewerbsbeiträge des US-Streaming-Riesen, und dann das: Nach fast zweistündigem Schlangestehen herrschte am Samstagabend für einige Minuten gedämpfte Aufregung vor dem Salle Debussy, als die gesamte Presse, die in Cannes stets streng hierarchisch geordnet und durch Barrieren getrennt auf den Einlass wartet, plötzlich vom aufgebrachten Sicherheitspersonal aus dem Eingangsbereich des Kinos regelrecht „verscheucht“ wurde. Die meisten Journalisten jedoch ließen sich von den ihnen entgegen gebrachten wilden Gesten herzlich wenig beeindrucken, zumal Michel Hazanavicius’ Redoubtable über Jean-Luc Godard auf dem Programm stand und es ansonsten an jeglicher Kommunikation mangelte, was denn überhaupt der Grund dieser halbherzigen Evakuierungsaktion sei. Erst 30 Minuten später, als man schließlich doch auf seinem hart erkämpften Platz im Kino saß, konnte man auf der Webseite des Branchenblatts Screen International nachlesen, dass es sich bei dem unerwünschten Spektakel um eine (zum Glück) harmlose im Kinosaal vergessene Tasche gehandelt hatte. Was bleibt ist, sind die Zweifel an der Kompetenz der Kinoangestellten, mit derartigen Situationen umzugehen sowie die Einsicht, dass auch die zu hunderten aufgebotenen Sicherheitskräfte in Cannes bei einem tatsächlichen Terroranschlag nichts ausrichten könnten.

Dem Wettbewerbsbeitrag, Hazanavicius’ Biopic über den vermeintlichen Gott des Kinos,  konnte diese überraschende Verzögerung offenbar nichts anhaben. Im Gegenteil. Die meisten Kritiker schienen sich von dem bunten Treiben auf der Leinwand bestens unterhalten zu fühlen. Basierend auf einem leichtfüßigen Drehbuch mit jeder Menge cinephiler Gags und einem bewusst irritierenden Louis Garrel im Zentrum, der seiner Rolle als der schwierige, eitle und zunehmend unerträglich selbstverliebte Godard alle Ehre macht, hat sich Hazanavicius für seinen Film der Memoiren von Anna Wiazemsky angenommen, mit der Godard in den späten sechziger Jahren nach Anna Karina verheiratet war. Herausgekommen ist dabei ein verspieltes Komödiendrama um die gescheiterte Beziehung des jungen Paares vor dem Hintergrund des Pariser Mai 1968, die einherging mit der damaligen Schaffenskrise des gefeierten Regisseurs. Ganz ähnlich wie seine Hauptfigur damals bringt auch Hazanavicius kein Meisterwerk zustande, scheint aber nach seinem dramatischen Fehltritt mit The Search (2014) zumindest zur alten Form zurückgefunden zu haben. Nach zwei vergnüglichen Kinostunden stellte sich allein die Frage, warum man sich in Cannes eigentlich gegen Redoubtable als Eröffnungsfilm entschieden hatte, der im Vergleich zu Arnaud Desplechins Ishmael‘s Ghosts, in dem Mathieu Amalric einen fiktiven Regisseur mimt, allemal origineller und letztlich sehenswerter ist.

Lässt man die ersten Tage an der Croisette noch einmal vor den Augen Revue passieren, fällt vor allem eines auf: die relativ sichere und ruhige Hand der Regisseure, die in diesem Jahr um die Goldene Palme konkurrieren. Ganz große Enttäuschungen blieben bisher aus, auch wenn Todd Haynes mit seinem Carol-Nachfolger Wonderstuck für die meisten hinter den Erwartungen zurückblieb. Der Regisseur versucht darin, die Geschichten zweier tauber Kinder, die in unterschiedlichen Zeiten – 1927 und 1977 – leben ineinander zu verweben, um sie am Ende zu einer verschmelzen zu lassen. Doch Haynes, so scheint es, ist in diesem Film, der auf dem Kinderbuch von Brian Selznick basiert, nicht wirklich in seinem Element. Zu krampfhaft macht er sich daran, die schwarzweißen Stummfilmsequenzen aus den Zwanzigern mit den farbenverspielten Bildern aus dem New York der siebziger Jahre miteinander zu einem großen Ganzen zusammenzufügen, und man wundert sich allein, was ihn wohl dazu bewogen haben mag, sich diesem Ausbruch kindlichen Staunens hinzugeben, den man in dieser Form sonst wohl nur von Steven Spielberg erwartet hätte.

Sichtlich erfolgreicher, wenn auch weniger experimentierfreudig zeigte sich beispielsweise Noah Baumbach, der in The Meyerowitz Stories (New and Selected) mit einen gewohnt unaufdringlichen, intimen Familiendrama aufwartet und damit über weite Strecken zu unterhalten wie zu bewegen vermag. Wobei man dazu sagen muss, dass er die eigentliche Arbeit dabei in erster Linie seinen hervorragenden Schauspielen überlässt – darunter Dustin Hoffman in der Rolle des gealterten, aber längst nicht weniger von sich selbst überzeugten Vaters, Emma Thompson als seine so fürsorgliche wie freigeistige Ehefrau, sowie Adam Sandler und Ben Stiller als die ungleichen Brüder, die jeder für sich unter der missglückten Beziehung zu ihrem alten Herrn gelitten haben. Vor allem dem energischen, zugleich unverhofft nuancierten Einsatz Stillers und Baumbachs klugem Drehbuch ist es zu verdanken, dass der Film bis zum Schluss nicht an Schwungkraft verliert, auch wenn der Regisseur selbst hier eher eine moderate, beobachtende Haltung einnimmt.

Ähnlich verdeckt, aber filmisch gewiefter arbeitet der russische Regisseur Andrej Swjaginzew, der in seinem leise verstörenden Drama Nalyubov (Loveless) eine erschreckende Analyse der modernen russischen Gesellschaft vornimmt, indem er seine Geschichte um das Verschwinden eines kleinen Jungen und die darauffolgende Suchaktion seiner streitsüchtigen und kurz vor der Scheidung stehenden Eltern strickt. Und auch Michael Haneke, dessen nicht weniger sorgfältig komponiertes Familiendrama Happy End heute Abend in Cannes seine Weltpremiere feiert, versteht es nach wie vor, die Zuschauer für sämtliche kleinen und großen Dramen zu interessieren, die sich im sorgfältig abgesteckten Lebensraum der bürgerlichen Familie um Anne Laurent (Isabelle Huppert) abspielen, die sich neben den hausgemachten Problemen obendrein mit der Flüchtlingskrise konfrontiert sieht. Die dritte Goldene Palme dürfte dem Ausnahmeregisseur angesichts der für seine Verhältnisse recht moderaten, weniger intensiven Inszenierung dieser indirekten Fortsetzung von Amour (2012) zwar höchstwahrscheinlich verwehrt bleiben, doch unterhaltsam, klug und milde verstörend ist auch dieser Haneke allemal.