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Cannes Blog 3

Hier spielt die Musik

| Pamela Jahn |

Cannes Blog 3

Langsam kommt der diesjährige Wettbewerb in Schwung.

Wenn es etwas gibt, das die vier bisher gezeigten Filme verbindet, dann ist es der Einsatz von Musik. Während A.B. Shawkys sentimentales Spielfilmdebüt Yomeddine, in dem sich ein leprakranker Ägypter, begleitet von einem anhänglichen Waisenjungen, auf eine Reise in seine Heimat begibt, zwar allzu sehr an seinem aufdringlichen Soundtrack leidet, gelingt es Christophe Honoré in seinem Anfang der neunziger Jahre spielenden Drama Sorry Angel zumindest, über die Musik ein gewisses Zeitgefühl zu vermitteln, das den Film über einen Teil seiner Schwächen hinwegzuhelfen vermag.

Noch eindringlicher als der französische Regisseur, versteht jedoch sein russischer Kollege Kirill Serebrennikov, wie sich über die Melodien der Vergangenheit eine Atmosphäre erzeugen lässt, die dem Zuschauer wie ein zarter Wind in den Nacken bläst, ohne dabei jemals aufdringlich oder gar kitschig zu wirken. Im Gegenteil. Sein schöner, in Schwarzweiß gedrehter Wettbewerbsbeitrag Leto (Summer) erzählt von ein paar jungen Musikern in Leningrad zu Beginn der achtziger Jahre, die auf der Suche nach sich selbst die Kraft der Lieder – ihrer eigenen wie die ihrer Helden (David Bowie, Lou Reed, T. Rex, Iggy Pop und Blondie) – als Lebenselexier sowie als Mittel zur Rebellion entdecken. Den Fokus richtet Serebrennikow dabei auf die wahre Geschichte des koreanischstämmigen Viktor Tsoi (Teo Yoo) und seiner späteren Band Kino, dessen Aufstieg er als Ménage à trois zwischen dem jungen, ambitionierten Rockmusiker, seinem Mentor Mike (Roman Bilyk) und dessen Partnerin Natasha (Irina Starshenbaum) inszeniert. Durch die verquere Dynamik ihrer immer enger werden Freundschaft gewinnt der Film seine leise, sanft melancholisch angelehnte aber unheimlich einnehmende Energie, die von russischen Rock-Klassikern untermauert, aber auch von diversen musikalisch wie visuell verblüffenden Punk-Einlagen gebrochen wird. Was bleibt, ist das treffliche Zeitbild einer Jugend zwischen Revolution und Totalitarismus in einem Staat, der die Sturm und Drang-Reflexe seiner Zöglinge nur unter strengster Aufsicht zulassen konnte. Fatalerweise wurde auch Serebrennikow selbst 2017 kurz vor Ende der Dreharbeiten verhaftet und steht seitdem in Russland unter Hausarrest, weshalb sein Platz am Premierenabend in Cannes leer blieb – trotz des offiziellen Gesuchs von Festivalchef Thierry Frémaux an Wladimir Putin, für einen kurzen Augenblick der Filmfreude Gnade walten zu lassen.

Vollzählig präsentierte sich hingegen das Team von Cold War am gestrigen Abend auf dem Roten Teppich, allen voran der polnisch-britische Regisseur Pawel Pawlikowski, der angereist war, um sein ebenfalls in geschmackvollem Schwarzweiß gedrehtes Nachkriegs-Liebesdrama zu präsentieren. Ähnlich konzentriert wie sein Oscar-prämierter Film Ida, erzählt Cold War von einer unmöglichen Liebe zwischen zwei einander wie Magneten anziehenden und abstoßenden Menschen, die in den Zeiten des Kalten Krieges um eine gemeinsame Zukunft ringen. Gewidmet hat der Regisseur den Film seinen Eltern, auch wenn er auf der Presskonferenz betonte, dass lediglich Nuancen aus deren Leben ihren Weg in den Film gefunden haben. Vielmehr ist auch in Cold War die Musik das treibende, bisweilen sogar das das entscheidende Element. Denn auch Wiktor (Tomasz Kot) und Zula (Joanna Kulig) lernen einander zunächst über den Gesang kennen, in Polen im Jahr 1949, als Zula zum Vorsingen für eine neue staatlich geförderte Sang- und Tanzgruppe erscheint, deren musikalische Leitung Wiktor erst kürzlich übernommen hat. Die unmittelbare Zuneigung, die sie zueinander verspüren, soll sie ihr turbulentes Leben lang verbinden, auch wenn sie immer wieder zeitweise voneinander getrennt werden, oder sich selbst trennen – so wie 1952, als Wiktor bei einem Gastauftritt der Truppe in Berlin allein in den Westen geht, weil Zula sich einen solchen Schritt nicht zutraut. Als sie einander wenige Jahre später in Paris wiedertreffen, soll ein Neuanfang die verpasste Zeit ungeschehen machen, doch ihre innige Liebe wird bald erneut zum größten Hindernis. Die Unmöglichkeit ihres Glücks fasst Pawlikowski in traurig-schöne Bilder, die sich der stets zentralen Musik im Film nicht so sehr fügen, als sich mit ihr in einem eigenwilligen Reigen zu vereinen. In Erinnerung bleibt jedoch vor allem die letzte, vielleicht eine der schönsten Schlussszenen im Kino überhaupt, für die allein Pawlikowski einen Preis verdient hätte.