Cannes Blog 7
Die Woche sollte so gut anfangen, mit der Morgenvorstellung von Shoplifters, dem neuen Werk des japanischen Autorenfilmers Kore-eda Hirokazu. Doch der Funke wollte nicht wirklich überspringen. Ein Blick auf den Palmen-Prognosen-Spiegel des Branchenblatts „Screen International“ zeigt, dass Kritikerkollegen durchaus ein weiteres Meisterwerk in dem leisen Drama um eine Patchworkfamilie aus Dieben, Verstoßenen und entführten Kindern zu sehen vermochten. Aber vielleicht lagen die persönlichen Erwartungen einfach zu hoch, zumal Kore-eda die hier behandelten Fragen um Herkunft, Zugehörigkeit und Familienglück bereits in früheren Werken wie Like Father, Like Son behandelt hat – und dort um einiges besser. Seine außergewöhnliche Beobachtungsgabe ist zwar auch in Shoplifters präsent, aber vielleicht liegt genau darin auch das Problem: Dass er mit allzu großer Ruhe und Gelassenheit auf das Geschehen schaut, anstatt die Handlung in den entscheidenden Momenten voranzutreiben. Natürlich kann man argumentieren, dass gerade darin die Kunst Kore-edas besteht. Immerhin hat er das klassische japanische Kino in den vergangenen zwanzig Jahren entscheidend bereichert und für seine eigenen Zwecke immer wieder modifiziert. Auch ist er diesmal ein ganzes Stück weiter als gewöhnlich in den Grauzonen der japanischen Gesellschaft unterwegs. Aber das allein macht noch keinen rundum gelungenen Film, und so verlässt man das Kino mit einem leicht bitteren Beigeschmack – vermutlich ist eine weitere Sichtung außerhalb des Festivalrummels nötig, um den Film in seiner ganzen Tiefe und Schönheit zu erfassen.
Am Abend kam die Entschädigung: Mit BlacKkKlansman präsentierte Spike Lee seinen besten Film seit Jahren. Zumindest darüber waren sich die Kritiker einig. Lee erzählt in seinem Film die unglaubliche, aber wahre Geschichte von Ron Stallworth (John David Washington), der in den späten sechziger Jahren als erster schwarzer Cop beim Polizeidepartment in Colorado Springs anheuerte. Weil der ambitionierte Polizist nach wichtigeren Aufgaben als der Dokumentenvergabe im Büro trachtet, wird er bald undercover bei Veranstaltungen der Black-Power-Bewegung eingesetzt. Doch Stallworth fühlt sich längst zu Höherem berufen und reagiert schließlich auf eine Anzeige des Ku-Klux-Klan in der Lokalzeitung, um der Organisation auf den Grund zu gehen. Fast schon zu überzeugend gibt er am Telefon den weißen Rassisten, denn er wird prompt zu einem ersten Kennenlernen eingeladen. Den Part der Untersuchungen muss folglich sein jüdischer Kollege Flip Zimmerman (Adam Driver) übernehmen, und auch er lebt sich bald ein in das harsche Milieu, wo er mit Antisemitismus, Misogynie und Homophobie konfrontiert wird. Nur Felix (Jasper Pääkkönen), der engagierteste und zugleich unberechenbarste unter den Klan-Mitgliedern, traut dem Neuzugang nicht über den Weg. Je weiter die verdeckten Ermittlungen voranschreiten, umso riskanter wird das clevere Doppelspiel der beiden Polizisten.
BlacKkKlansmann ist – wie der Titel vermuten lässt – ein Film, der vor allem auf sprachlicher Ebene kühn und klug operiert, insbesondere, wenn er damit den Bogen zur aktuellen politischen Lage in Amerika schlägt. Aber es ist auch ein Film, der von seinen Kontrasten lebt, sowie von den Widersprüchen und Dissonanzen, die sich daraus ergeben. Drama und Humor, Blaxploitation-Allüren und narrative Reibungsmomente wechseln einander über weite Strecken so spielend ab, dass man gern wieder volles Vertrauen gewinnt in den Regisseur, der heuer zum ersten Mal seit 1989 für Do the Right Thing wieder um die Goldene Palme konkurriert.
Ebenfalls angenehm überrascht zeigte sich ein Großteil der internationalen Presse über Climax von Gaspar Noé, der in der Director‘s Fortnight gezeigt wurde. Der neue Film des Irrevérsible-Regisseurs ist eine Art Tanz-Party-Drogen-Sex-Horror-Trip, der sich gewohnt wagemutig jeder bekannten Form und Struktur widersetzt und mit ureigenen Regeln eine außergewöhnliche filmischen Erfahrung ermöglicht. Das zunehmend alptraumhafte Szenario beruht auf eine wahren Begebenheit Mitte der neunziger Jahre, als eine Tanztruppe nach der Probe ins Feiern verfiel, bis die mit LSD gemischten Drinks ihre Horrorwirkung zeigten. Mehr zu verraten, würde den Spaß am kollektiven Erlebnis schmälern. Wer Noés stets herausfordernden Visionen offen gegenübersteht, sollte sich auch diese audiovisuelle Horror-Ekstase auf keinen Fall entgehen lassen.