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Cannes Blog – Tag 7

Cannes Blog – Tag 7

| Pamela Jahn |

Ab Dienstag wird es langsam ruhiger im Palais: Die sogenannten „Dailies“ (die täglichen Ausgaben der klassischen Branchenblätter Variety, The Hollywood Reporter, Screen International sowie, auf französisch, Le film français), wichtige Informationsquelle für die anwesende Journaille, werden merklich dünner, es gibt weniger Markt-Vorführungen und allmählich auch weniger Menschen. Denn ein Großteil des Industrie-Fußvolks macht sich heute bereits wieder auf die Heimreise, während die ausdauernden Kritiker verschlafen, aber zuversichtlich auf die noch versteckten Trümpfe im diesjährigen Wettbewerb hoffen.

Einen erwartungsgemäß starken und souveränen Beitrag lieferten Dienstag Morgen mit Deux Jours, Une Nuit die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. In ihrem neuen Film, dem mittlerweile sechsten im Wettbewerb von Cannes, spielt Marion Cotillard eine depressiv veranlagte junge Mutter auf der Kippe zur Arbeitslosigkeit. Wenn Sandra ihren Job nicht verlieren will, muss sie die Mehrzahl ihrer Kollegen davon überzeugen, bei einer internen anonymen Abstimmung für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes und damit gegen einen sonst sicheren Bonus von 1000 Euro pro Kopf zu stimmen. Ohne die seelische Unterstützung ihres Mannes, der sich nicht nur rührend um Sandra, sondern auch ihre beiden Kinder kümmert, hätte die labile Frau längst aufgebeben, doch er kann sie dazu überreden, noch einmal für ihren Job und damit für die Zukunft der Familie zu kämpfen. Sein Plan: Sandra soll im Laufe des Wochenendes sämtliche Kollegen nacheinander zu Hause aufsuchen und jeden einzelnen darum zu bitten, ihretwegen auf die verlockende Geldprämie zu verzichten. Die Tiefschläge, die Sandra dabei einstecken muss, treffen nicht zuletzt angesichts der präzisen Beobachtungsgabe des auf soziale Ungerechtigkeiten eingespielten französischen Regisseur-Duos auch die Zuschauer direkt in die Magengrube, wobei Deux Jours, Une Nuit im Vergleich zu den früheren Filmen der Dardennes um einiges zuversichtlicher und zugänglicher, aber darum nicht weniger eindringlich wirkt. Ein schlichtes Meisterwerk, das den Glauben an das Kino als „éducation sociale“ befeuert.

Eindringlich, berührend und zudem über weite Strecken in atemraubend schönen Bildern inszeniert war auch Naomi Kawases fiktional-dokumentarischer Wettbewerbsbeitrag Futatsume No Mado (Still the Water), der auf der japanischen Insel Amami-Ōshima spielt. Mittels einer poetischen Verbindung zwischen Realität und Narration beschreibt er den ewigen Kreislauf von Leben und Tod. Im Mittelpunkt stehen der 14-jährige Kaito und seine Schulkameradin Kyoko, die gern auf seinem Fahrrad mitfährt. Zwischen Schule und familiären Verpflichtungen erleben sie gemeinsam erste Schmetterlingsgefühle im Bauch, körperliches Begehren, die Sinnlichkeit und die Grausamkeit der Natur sowie der Menschen, die sich darin bewegen. Gleichzeitig sind Jahrhunderte alte überlieferte japanische Traditionen und Glaubensvorstellungen in Kawases Film präsent, vor allem der Umgang mit dem Tod eines geliebten Menschen. In den rund zwei Stunden des Films (eine häufige Länge im heurigen Programm), überzeugen vor allem die leisen, fast surrealen Momente, die in ihrer bemerkenswerten Gelassenheit und Schönheit im Kontrast zu den harschen Naturgewalten und den Ereignissen der menschlichen Existenz stehen.