Nach einem eher enttäuschenden Jahrgang 2006 machte das Filmfest Cannes seinem 60. Jubiläum alle Ehre – Ausnahmen selbstverständlich inklusive. Ein letzter Nachtrag zu einem runden Geburtstag.
Der größte Kracher fand zur Mitte des Festivals außerhalb der Kinosäle statt. Da wurde in der Bucht der 60. Jahrgang mit einem Feuerwerk gefeiert, das wahrscheinlich so teuer war wie das Budget eines durchschnittlichen Filmfestivals. Aber sei’s drum. Man hatte ja einen guten Grund und das eigentliche Präsent, das sich das Festival selbst machte, war dann auch eine Kurzfilmkompilation, bei der 33 renommierte Regisseure (ein Who-is-who der Cannes-Protégés: Kitano, Wenders, Salles, Lynch …) in jeweils drei Minuten ihre Vision eines Kinosaals präsentierten: A Chacun son Cinéma, jedem sein Kino. Darunter waren meisterhafte Miniaturen wie der ironische Beitrag der Coen-Brüder, aber auch viel Langeweile und Kitsch. Die Coens waren damit gleich zweimal vertreten, denn ihr neuer Spielfilm, der Postwestern No Country for Old Men, hatte im Wettbewerb Premiere und galt lange als einer der Favoriten.
Querverbindungen
Auf einem Festival dieser Größenordnung ergeben sich immer wieder unerwartete Bezüge über Filme und Sektionen hinweg. In diesem Jahr war auffällig, mit welcher Obsession sich die US-Amerikaner mit dem Bösen auseinander setzten, ob explizit in David Finchers Serienmörderstudie Zodiac (siehe ray Juni 07), als Katz-und-Maus-Spiel bei den Coen-Brüdern oder als postfeministisches Pulpkino wie bei Quentin Tarantinos Death Proof (siehe dieses Heft Seite 10 ff.): das Böse ist männlich und tötet aus unerklärbarer Lust.
Doch vor allem war Cannes 07 eines: Das Jahr der starken Frauen. Wie die Exiliranerin Marjane Satrapi, die mit Verve Persepolis vorstellte, die Adaption ihres eigenen Comicromans über eine Kindheit im Iran (und dafür den Jury-Preis erhielt). Oder die schlagkräftigen Tarantino-Girls. Der gar nicht so heimliche Star des Festivals war allerdings Asia Argento, die wilde Tocher des italienischen Horrorkultfilmers Dario Argento. Sie war in gleich drei Filmen zu sehen: in Olivier Assayas’ Kunstanstrengung Boarding Gate über eine junge Rebellin, die nach dem Tod ihres Liebhabers nach Hongkong abhaut, Abel Ferraras B-Movie Go Go Tales in der Mitternachtsschiene und Catherine Breillats neuem Kostümschocker Une -vieille Maitresse. Omnipräsent war Argento auch abseits der Leinwand: Bei Ferraras exzessiver Premierenparty legte sie Platten auf, bei Interviews nahm sie kein Blatt vor den Mund. Sie war für den dreckigen Glamour zuständig – und gerade deshalb inmitten all der edlen Abendroben so erfrischend.
Doppelgänger
Alte Bekannte gab es auch außerhalb des Wettbewerbs zu entdecken. Zwei Veteranen des New Queer Cinema der 90er Jahre kamen mit neuen Werken: Gregg „Totally Fucked Up“ Araki, der zuletzt mit dem sensiblen Missbrauchdrama Mysterious Skin die Kritik beeindruckte, zeigte mit seinem albernen Kifferfilm Smiley Face all jenen den cineastischen Stinkefinger, die ihn für salonfähig erklären wollten. Eine kleine Sensation war die Rückkehr von Tom Kalin, der nach seinem Debüt Swoon (1992) keinen Film mehr gedreht hatte. In Savage Grace widmet er sich erneut einem wahren Verbrechen, dem Mord an der US-Millionärin Barbara Daly Baekeland (Julianne Moore) durch ihren Sohn Tony. Und wieder ist der Täter schwul. Was jedoch beim ersten Mal noch erfrischend politisch unkorrekt war, wirkt diesmal leider nur prätentiös. Ein Vorwurf, den auch der geläuterte Harmony Korine (Gummo, 1997) zu hören bekam, als er seine Doppelgängerfarce Mister Lonely vorstellte. Darin spielt Diego Luna einen Michael Jackson-Imitator, der sich in eine falsche Marilyn Monroe verliebt und mit deren Mann, einem Charlie Chaplin-Doppelgänger, und anderen Imitatoren in eine Landkommune zieht und Schafe züchtet. Kein Wunder, dass diese Reflexion des Celebritykults der Gegenwart in dessen Epizentrum an der Croisette nicht gut ankam.
Ein paar echte Enttäuschungen konnten leider auch nicht ausbleiben. Vor allem Wong Kar Wais erste US-Arbeit, das Roadmovie My Blueberry Nights mit Jude Law, Natalie Portman und der Sängerin Norah Jones in ihrer ersten Filmrolle, reichte nicht an seine vorigen Filme heran. Wie die mild gewürzte Westvariante eines ursprünglich scharfen Asiagerichts wirkte seine Entdeckungsreise durch die USA, und das schmeckte in Cannes vor allem jenen, die noch nie einen WKW probiert hatten (ja, auch die gibt es in Cannes!).
Preisbewusstsein
Die hochkarätige Jury unter Vorsitz von Stephen Frears zeigte sich weder von Glamour noch von Hollywood arg beeindruckt. Das mit der Goldenen Palme prämierte Abtreibungsdrama 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage des bis dahin weitgehend unbekannten Regisseurs Cristian Mungiu war das genaue Gegenteil des Films, der den größten Rummel entfachte, Ocean’s 13 – ein klares Zeichen der Jury in einem Star-gesättigten Jahr. Auch andere Preise gingen an Filme, die es ohne Auszeichnung sehr schwer hätten, überhaupt ins Kino zu kommen: Der Trauerwald von Naomi Kawase, ein leises Mutterdrama aus Japan, bekam den Großen Preis der Jury, den Regiepreis erhielt Julian Schnabel für Le scaphandre et le papillon, eine poetisch-berührende Verfilmung der Autobiografie des Elle-Chefredakteurs Jean-Dominique Bauby. Seit einem Schlaganfall 1995 komplett gelähmt, kann Bauby nur mit Bewegungen seines linken Auges kommunizieren. Der Zuschauer wird gleichsam in den behinderten Körper verfrachtet, die Welt sieht er fast nur aus der eingeschränkten Sicht Baubys: einer der ergreifendsten und schönsten Filme des Festivals.
Für Cannes-Profi Gus Van Sant, der mit seinem fabelhaften Skaterfilm Paranoid Park weiter rigoros die Grenzen zwischen Mainstream- und Experimentalfilm auslotet, musste kurzerhand eine Auszeichnung erfunden werden: Er wurde mit dem Preis zum 60. Jubiläum belohnt. Aus deutscher Sicht setzte sich ein internationaler Erfolg fort: Fatih Akin erhielt für den zweiten Teil seiner Liebe-Tod-und-Teufel-Trilogie Auf der anderen Seite den Preis für das beste Drehbuch. Am Ende leer ausgegangen ist dagegen Ulrich Seidl, obwohl Import/Export von manchen Kritikern als preisverdächtig gehandelt worden war.
Konkurrenzprogramm
Das US-amerikanische Kino zeigte sich in Cannes frisch und künstlerisch erstarkt, sodass es auf Preisregen nicht angewiesen scheint. Ob die erwähnten Coen-Brüder, Quentin Tarantino oder James Gray mit seinem Gangsterdrama We Own the Night – Hollywood war zum runden Sechziger des Festivals an der Croisette in Höchstform. Einziger Wermutstropfen für das Geburtstagskind war die Gerüchteküche um das Programm der Konkurrenz. Wenn nur ein paar der getuschelten Namen mit ihren neuen Werken Ende August nach Venedig kommen (Ang Lee, Todd Haynes, Paul Thomas Anderson, Robert Rodriguez, Woody Allen), kann man sich als Festival-neutraler Cineast über solchen Wettbewerb allerdings nur freuen.