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Christine Vachon

„Seid nicht so nostalgisch!“

| Felix von Boehm :: Anna Katharina Guddat |

Die US-amerikanische Produzentin Christine Vachon über Helden, Anti-Helden und neue Gegebenheiten im Filmbusiness.

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Christine Vachon, 1962 in Manhattan als Tochter des bekannten New Yorker Reportagefotografen John Vachon geboren, studierte in den Achtziger Jahren an der Brown University Semiotik und Philosophie. Dort lernte sie den ein Jahr älteren Todd Haynes kennen und beschloss, „nie wieder einen Film von ihm ohne meinen eigenen Namen im Abspann“ sehen zu wollen. Nach einigen Kurzfilmen gelang dem jungen Regisseur und der jungen Produzentin 1991 mit Poison ein sensationeller Erfolg; der kontroverse Film, der (für die damalige Zeit) ungewöhnlich offen das Thema Homosexualität behandelt, gewann unter anderem beim renommierten Sundance Festival den Großen Jurypreis und gilt als Meilenstein des so genannten „New Queer Cinema“. Die Zusammenarbeit der beiden hält bis heute an und trägt so erfolgreiche Früchte wie Safe (1995), Far From Heaven (2002) und I’m Not There (2007). Die Liste der von Vachon produzierten Filme (1996 gründete sie gemeinsam mit Pamela Koffler die höchst einflussreiche Firma Killer Films) liest sich wie die „Bibel“ des viel zitierten US-amerikanischen Independent-Films. Regisseure wie Larry Clark (Kids, 1995), Mary Herron (I Shot Andy Warhol, 1996), Todd Solondz (Happiness, 1998), John Cameron Mitchell (Hedwig and the Angry Inch, 2001) arbeiteten mit Vachon; Hilary Swank wurde 2000 für ihre Hauptrolle in Kimberly Peirces mitreißendem Transgender-Drama Boys Don’t Cry mit dem Oscar und dem Golden Globe ausgezeichnet. Daneben entstanden weitere Filme wie Nigel Finchs Stonewall (1995) und Robert Altmans The Company (2003) sowie die TV-Serie This American Life, bei der Vachon als Executive Producer fungierte. Der neueste Coup von Produzentin Vachon und Regisseur Todd Haynes ist die fünfteilige TV-Miniserie Mildred Pierce nach dem Roman von James M. Cain und dem berühmten Noir-Melodram von Michael Curtiz aus dem Jahr 1945.

Mildred Pierce feiert dieser Tage auf HBO Premiere. Felix von Boehm und Anna Katharina Guddat sprachen in Paris mit Christine Vachon unter anderem über das Geheimnis guter Hauptfiguren.

Was macht Anti-Helden zu Ihren Helden?
Christine Vachon:
Ich weiß nicht, ob Anti-Helden wirklich meine Helden sind. Ich denke eher, dass mich Anti-Helden vielleicht deswegen interessieren, weil ich eine unabhängige Produzentin bin und der Independent-Film nun einmal existiert, um Alternativen zum Studiofilm zu entwickeln. Und genau wegen dieser Alternativen gehen Menschen in Independent-Filme oder wollen sie herstellen. Das heißt nicht, dass ich nicht genauso viel Spaß wie andere daran habe, mir Spider-Man anzuschauen. Aber ich denke, dass es sehr viel reizvoller ist, über Hauptfiguren nachzudenken, die auf den ersten Blick keine echte Hauptfigur sind. Figuren, deren Geschichte traurig endet oder schlecht endet oder einfach offen endet. (Denkt kurz nach.) Ich meine, am Ende haben doch alle Helden irgendeinen Fehler …

Zumindest die, denen wir gerne zuschauen. Aber wie kommt es, dass wir Anti-Helden so gerne beim Scheitern zusehen?
Christine Vachon: Weil wir uns selbst im Kino wieder entdecken wollen. Und wir sind nun einmal voller Fehler und Schwächen. Ein Held mit einem Fehler erscheint uns einfach menschlicher und glaubhafter. Das zieht uns als Zuschauer an. Wenn wir über das Kino sprechen, dann heißt es oft, dass wir mehr „Charaktere“ im Kino sehen wollen. Alle reden immer darüber, „Charakter“ zu haben oder nicht. Ich glaube, dass es uns in Wirklichkeit darum geht, Filme über Menschen zu sehen, die wir verstehen und in denen wir uns wieder finden können.

Und dennoch geht es doch immer auch um Heroismus …
Christine Vachon: Ja, das stimmt. Aber meinem Verständnis nach bezeichnet der Held im Film einfach die Figur, deren Geschichte erzählt werden soll. Es geht da also nicht um körperliche Größe, geistige Stärke oder sonstige außergewöhnlichen Fähigkeiten, sondern darum, dass jemand auf eine ganz andere Art und Weise größer als das Leben ist. Jemand der etwas erreicht hat, was unglaublich schwer zu erreichen scheint.

Sind deswegen Helden im Film zu Hause? Weil sie dort größer als das Leben sind?
Christine Vachon: Im Film sind alle größer als im Leben. Außer man sieht sich den Film auf seinem iPod an – dann sind alle Figuren sehr viel kleiner als im Leben. Aber natürlich stimmt das, was Sie sagen. Das Kino ist nach wie vor ein Ort, an dem diese Heldengeschichten, die modernen Mythen, besonders gut erzählt werden können.

Wie kreiert man solche Figuren, damit das Publikum darauf anspricht?
Christine Vachon: Damit ein Held gut funktioniert, müssen alle Figuren gut funktionieren. Und das heißt, dass die Geschichte und das Drehbuch auf das Beste entwickelt sein müssen. Das ist ein langer Prozess, in dem erst nach und nach herausgefunden wird, was der wirkliche Kern der Geschichte ist und jede Szene danach untersucht wird, ob sie dieser Geschichte dient. Es muss absolut klar sein, auf welchen Punkt jede einzelne Szene hinausläuft. Und der Held muss das Publikum von einem dieser Wendepunkte zum nächsten führen.

Wird der Zuschauer am Ende dieser Reise selbst zum Helden?
Christine Vachon: Natürlich ist es immer eine wundervolle Erfahrung, eine starke Geschichte im Kino miterleben zu dürfen. Ich glaube aber nicht, dass ich mich dadurch selbst als Heldin fühle – viel eher wohl als eine sehr zufriedene Konsumentin.

Wenn Sie ein Projekt angeboten bekommen, wie müssen die Figuren beschaffen sein, damit es Sie interessiert?
Christine Vachon: Wenn ein Filmemacher mit einem Projekt zu mir kommt, dann habe ich natürlich manchmal das Gefühl, dass diese Geschichte mit dieser Hauptfigur zu genau diesem Zeitpunkt ein Publikum finden kann. Ganz egal, ob es ein großes oder ein kleines Publikum ist. Aber zumindest ein Publikum, für das der Film gemacht werden muss. Und natürlich gibt es bestimmte Figuren, die einfach in einen bestimmten Zeitgeist passen. Das interessiert mich.

Wer sind Ihre persönlichen Helden?
Christine Vachon: Wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann waren das die Leute, die sich im letzten Jahr im Krankenhaus um mich gekümmert haben, als ich Krebs hatte. Menschen während einer solchen Krankheit zu begleiten, ist ihre Lebensaufgabe! Die waren alle so aufgeregt darüber, dass ich in der Filmbranche arbeite. Das hat mich wirklich überwältigt! Aber ganz ehrlich: Es ist zwar großartig, Filme zu machen, aber diese Menschen helfen Tag für Tag anderen Menschen durch die wahrscheinlich schwierigsten Phasen in ihrem Leben. Das ist so viel wichtiger als das, was ich tue!

Aber das Filmbusiness pflegt doch dieses Image, dass Stars automatisch auch Helden und Heldinnen sind.
Christine Vachon: Das stimmt. Aber das hieße ja, davon auszugehen, dass Berühmtsein und Heroismus automatisch gleichzusetzen sind. Das mag in den Augen der Kids durchaus so sein. Wenn man sie danach fragt, wer ihre Helden sind, dann sagen viele von ihnen wahrscheinlich, Justin Bieber sei ein Held. Aber für Sie und mich ist doch klar, dass ein wahrer Held anders aussieht. Oder wem wollen Sie nacheifern?

Viele junge Filmemacher eifern Ihnen nach … Welchen Ratschlag würden Sie ihnen mitgeben?
Christine Vachon: Das größte Thema, mit dem sich junge Filmemacher heute ohne Zweifel auseinandersetzen müssen, ist, dass sich das System ständig erneuert und verändert. Und zwar nicht nur die Produktionsbedingungen und die Erzählweisen, sondern vor allem auch die Auswertungs- und Rezeptionsmöglichkeiten. Deswegen ist der beste Ratschlag, den ich jungen Leuten geben kann: „Bleibt flexibel und offen und krallt euch nicht daran fest, was gestern war. Seid nicht nostalgisch! Trauert weder Zelluloid noch Kinosälen hinterher, sondern umarmt die neuen Möglichkeiten als Chancen!“