1968: Dokumentarische Kompilationen zur Geschichte des Vietnamkriegs; psychedelische Entgrenzung, Farborgien und das Montagekino der Concert Documentaries; Regelverstöße des Underground; teilnehmendes Filmen einer Counter-Culture; aktuelles parteiergreifendes Kino mit Dringlichkeit; Tropikalismus und Cinema novo: eine Ästhetik des Hungers und der Gewalt.
Vietnam – In the Year of the Pig
Im Juli 2018 erschien im Berliner Verlag Brinkmann & Bose in Kooperation mit dem Harun Farocki Institut (HaFI) mit 34-jähriger Verspätung die letzte Ausgabe der Zeitschrift „Filmkritik“, die 1984 aus akutem Geldmangel nicht mehr gedruckt wurde. Die von „Filmkritik“-Autor Jürgen Ebert, verantwortlicher Redakteur des Heftes, und Arno Luik verfassten Texte rahmen ein langes Interview mit dem US-amerikanischen Regisseur und Produzenten Emile de Antonio, dem dieses Themenheft gewidmet ist. (Die nachfolgenden Zitate sind diesem Gespräch entnommen; Übersetzung: Arno Luik).
In den sechziger und siebziger Jahren wurde Emile de Antonio (1919–1989) durch seine Filme über Senator Joseph McCarthy, den Vietnamkrieg und über Richard Nixon bekannt. Es geht um Politik und Geschichte, einen Zyklus der amerikanischen Zeitgeschichte von der Eisenhower-Zeit bis zur Reagan-Wende. De Antonios 1968 erschienener Dokumentarfilm In the Year of the Pig rollt die Geschichte des Vietnamkrieges von den Befreiungskämpfen in den dreißiger Jahren bis zum Vorabend der Tet-Offensive auf. „In den Dokumentarfilm führte de Antonio die Kompilationstechnik wieder ein“, so Jürgen Ebert, „eine Arbeitsweise, die an sich zwar nicht neu war, von der er aber einen spezifischen Gebrauch machte, indem er fremdes wie eigenes Material grundsätzlich unkommentiert, ‚polyphon‘ einsetzte. Das Ideal der lebendigen und direkten Darstellung des Wirklichen ersetzte er durch eine diskontinuierliche, wertende Montage, die ihrem Material durch die Verknüpfung der Bilder und Fakten eine intelligible Form gibt. (…) Die Montage strukturiert diese Filme nicht nur, sie macht sie zu Montage-Objekten; sie ist zugleich Wertung und zu Bewertendes, sie gibt dem Zuschauer das Gefühl, der Herstellung des Objekts zuzusehen.“
Emile de Antonio: „Ich bin ein amerikanischer Marxist. Ich glaube an die Geschichte. In the Year of the Pig machte ich, um die Geschichte aufzudecken, die vom Fernsehen systematisch zwischen Reklamen für elefantöse Autos und Deodorants versteckt wurde. Die Geschichte des Krieges bot ein besseres Schauspiel als die vorgetäuschten kinohaften Leidenschaften. Nie werde ich Fred Astaires ulkiges Gesicht vergessen, als er die Oscar-Nominierung des Films bekanntgab. (..) Pig war der erste linke Film, der für den Oscar nominiert wurde. (…) Lange fand ich für Pig keinen Schluss. Ich hatte herrliches Material von den Vietnamesen: Die Kamera fährt eine Straße entlang, die durch asiatische Landschaft führt, plötzlich kommt Leben in die Straße, und hervorragend getarnte Soldaten tauchten mit ihren Gewehren auf. Aber ich dachte: Ich bin Amerikaner, ich hoffe, die Vietnamesen gewinnen diesen Krieg, aber der Film muss mit Amerikanern enden (…) Aber schließlich fand ich den Schluss, und er gefällt mir: Sterbende Amerikaner werden zu den Hubschraubern getragen, dann sieht man den Soldaten vom Anfang im Negativ … Sterbende Amerikaner waren von größerem Interesse als gut getarnte Vietnamesen.“
Allein durch die Montage der disparaten Aufnahmen und Berichte wird die Korruption der Sprache und der Bilder deutlich als integraler Bestandteil der US-Politik und belegt, wie widersprüchlich und bewusst falsch politische Repräsentanten die amerikanische Vietnam-Politik darlegten.
Aufstieg aus dem Underground
Nach dem kommerziellen Erfolg von Chelsea Girls (1966; zwölf 300m-Rollen von je ca. 35 Minuten als Doppelprojektion; jede der Rollen erzählt in einer ungeschnittenen Einstellung eine Episode aus einem der Hotelzimmer des Chelsea Hotels in Greenwich Village) machten sich Andy Warhol und Paul Morrissey daran, in der Wüstenlandschaft Arizonas, in einer Kulisse, vor der auch John-Wayne-Filme entstanden, einen Western zu drehen, natürlich ohne konventionelles Genre-Kino, ohne eine Geschichte zu erzählen. Die Strategie bestand wieder darin, Hollywoods ästhetische Spielregeln zu destruieren, etwa mit „strobe cuts“, Aufnahmeunterbrechungen mit der Wirkung von Blitzen. Der ungenannte Ko-Regisseur Morrissey tendierte bereits zum narrativen Film. Die Rolle von Warhols Superstar Viva lehnte sich an Frenchy (Marlene Dietrich) in Destry Rides Again (1939) an; die Rancherin liegt mit fünf Cowboys im Clinch. In fünf Tagen mit einem Budget von 3000 Dollar ließ Warhol seine Darsteller sich selbst spielen und improvisieren. Nacktszenen (Coitus), witzige Dialoge und Slapstick-Gags machten Lonesome Cowboys (1968), allerdings nur im europäischen Ausland, zu einer der bekanntesten Filmarbeiten Warhols. In den USA war der Film zeitweise beschlagnahmt; Warhol wurde in der Folge wegen des Verdachts der Verbreitung obszönen Materials vom FBI überwacht.
Von den Filmen à la Warhol, vom Factory-Leiter seit 1964 produziert, sagte der Undergroundfilmer Jonas Mekas, sie würden Film auf Lumière zurückführen, ihn verjüngen und auf alles kinematografische Setting verzichten. Kennzeichnend ist ihr Tempo, die „dragtime“, sich hinziehende, scheinbar endlose Zeit (die mit der „drugtime“ und den magischen Schönheiten einer erweiterten Zeit zu tun haben.) „Genau genommen kommt es Warhol darauf an, zu demonstrieren, dass das, was wir sehen, gemessen an der Zeit, die nötig ist, um es zu betrachten, nichts Neues offenbaren sollte; ja, es könnte durchaus sein, dass es sein Ziel ist, bewusst einen circulus vitiosus darzustellen: einen kreisförmig verlaufenden Prozess, der keinerlei Fortschritt bringt, sondern allein eine ‚endlose’ Beschäftigung mit dem eigenen Ich.“ (Parker Tyler, „Underground Film“, 1970)
Grundiert von psychedelischem Dekor hatte er jenen Zirkel mit Chelsea Girls auf die Spitze getrieben, aber auch Blue Movie und Flesh (beide 1968 gedreht) atmen Warhols „ästhetische Realität“ („Ich weiß nicht, wo das Künstliche aufhört und das Wirkliche beginnt“, Warhol, 1967). Mit einem der Superstars aus Andy Warhols Factory, Viva, sowie zwei Darstellern aus dem Musical „Hair“, James Rado und Jerome Ragni (Autoren des gleichnamigen Broadway-Musicals), wollte Shirley Clarke einen Film drehen, so das Setting in Agnès Vardas Lions Love (USA/FR 1968/69). Die Figuren spielen sich selber, aber eine Situation im Stil der Factory will sich nicht einstellen, zumal die äußeren Ereignisse via Medienkonsum alle Beteiligten in Bann ziehen: die Attentate auf Martin Luther King, Robert Kennedy und Andy Warhol bringt Varda in eine Einstellung, zur Nachricht vom Anschlag erfährt Viva, die die meiste Zeit im Bett zubringt, von den Schüssen auf Warhol. Im Scheitern des Films von Varda über das Scheitern von Shirley Clarkes Film ist der Rückschlag der drei fortschrittlichen Bewegungen – des Civil Rights Movement, der liberalen Kräfte der Demokraten sowie der Repräsentanten des Pop innerhalb der New Yorker Avantgarde gewissermaßen aufgehoben.
Counter-Culture / Grenzgänge zwischen fiktiver Handlung und realer Gewalt
Die Filmdokumente von Peter Whitehead in The Fall (UK 1968/69), zwischen Oktober 1967 und Juni 1968 in und um New York gedreht, zeigen sich als persönliche Stellungnahme zu den Umwälzungen und Unruhen in den USA der späten 60er und mittlerweile archäologisch anmutende Fundstücke, die aus der Identifizierung des Filmemachers mit der Aufbruchsstimmung jener Jahre heraus aufgenommen wurden. Als zeitgeschichtliche Dokumente einer historischen Situation, in welcher der Kampf einer Counter-Culture um Veränderung, wenn nicht gar Neubegründung der Zivilisation öffentlich ausgetragen wurde, porträtiert The Fall zentrale Figuren der Bürgerrechtsbewegung wie Stokely Carmichael, Robert Lowell, Paul Auster (damals junger Student an der Columbia University), Tom Hayden, Marl Rudd, H. Rap Brown, Arthur Miller und Robert Rauschenberg. Vor jeder Erklärung bzw. betrachtender Distanz lässt Whitehead seine Kamera zum Teil des Geschehens werden, so etwa wenn er sich hinter den Barrikaden des von studentischen „Widerstandskämpfern“ besetzten Campus der Columbia gegen vordringende Polizeitruppen verschanzt.
„The whole world is watching!“, skandieren 1968 während des Wahlkonvents der Demokraten in Chicago auf den Straßen die Demonstranten angesichts der brutalen Reaktionen der Polizei. Ein Bewusstsein von der Macht der Kamera macht sich bemerkbar. Die politischen Proteste bilden den Hintergrund für das Regiedebüt des Kameramanns Haskell Wexler, Medium Cool (USA 1968/69), in dem sich auf bis dahin unerhörte Weise Fiktion und Dokument mischen. Als die Polizei bei den Unruhen beginnt, Tränengas einzusetzen, hört man den Warnruf „Look out, Haskell, it’s real!“ aus dem Off. Der Film wagt einen Grenzgang, ein Pendeln zwischen der erfundenen Handlung um einen entlassenen TV-Kameramann und der wirklichen Gewalt bei den Straßenkämpfen.
Love, Peace and Happiness, Farbdelirien und Concert Documentaries
Als die psychedelische Phase begann, das Leben in Kommunen und freier Liebe – „letting it all hang out“, „Make love not war“ und „Back to nature“ –, filmte Les Blank zu Ostern 1967 mit der 16mm-Arriflex-Kamera ein „Love-in“ im Griffith Park (God Respects Us When We Work, But Loves Us When We Dance, USA 1967/68). Ein einzigartig erscheinender Moment von Love, Peace and Happiness – „Alle lächelten, waren vertrauensvoll und beschenkten sich gegenseitig mit Blumen, Süßigkeiten, Obst und Dope. Alle teilten alles. (…) Ich war an dem Tag auf etwas, was man ‚contact high‘ nannte. Ich kiffte nicht, nahm kein LSD, ich trank nicht einmal Bier oder einen Schluck Wein, aber ich platzte beinahe vor Freude über diesen kreativen und liebevollen Moment.“ (Les Blank, 1998)
Dem Musikfilm-Genre wurde mit dem Debütfilm von Bob Rafelson, Head (USA 1968, Ko-Autor: Jack Nicholson), ein relativ unbekannt gebliebener Höhepunkt hinzugefügt. Jenseits aller logischen, raumzeitlichen Limits der Handlung kombinierten die Autoren Aufnahmen der Pop-Gruppe The Monkeys, die damals ihren Hype erlebte, mit Ausschnitten aus Hollywoodfilm- und Wild-West-Szenen, Vietnam und Tausendundeiner Nacht. Erkennbar ist die parodistische Reaktion auf die Beatles-Filme Richard Lesters, den Starkult des Kinos. Mit seiner gestalterischen Vorliebe für Farbdelirien ist Head ein starkes Dokument der mit ’68 einhergehenden Psychedelic-Ära.
In Monterey Pop (USA 1967/68), dem Film über das Festival in Kalifornien, verdichtete D.A. Pennebaker, zwei Jahre vor dem Woodstock-Festival-Spektakel (Woodstock – 3 Days of Peace & Music, USA 1970, Michael Wadleigh), ein Ereignis, das 72 Stunden gedauert hatte, zu einem orgiastischen Konzert-Akt in 80 Minuten, zusammengesetzt aus Handkameraperspektiven einer 17-köpfigen Crew, zu der auch Richard Leacock und Albert Maysles gehörten. Der Film gilt als beste Concert Documentary der sechziger Jahre. Auch wenn eher Flower-Power-Friedensseligkeit statt jugendliche Aggressionsausbrüche (Hell’s Angels) zu sehen sind, vermittelt sich die ganze energetische Vielfalt aus Zärtlichkeit und Gewalt am Schauplatz, live on stage, musikalisch – Pop in der Spannbreite zwischen The Mamas and the Papas, Simon and Garfunkel oder Scott McKenzie und The Who und vor allem Jimi Hendrix, der in einem rituellen Akt seine Fender-Gitarre opfert. Kommentiert wird das Material, in dem sich solch ein konfliktreiches Geschehen demonstriert, allein qua Montage. Anscheinend zeigt sich im Concert Documentary Film, der Kompression eines Events, ein Vorreiter zukünftiger, forcierter Schnittfrequenzen.
Die Performance der Band Jefferson Airplane in Monterey Pop soll Jean-Luc Godard derart beeindruckt haben, dass er noch 1968, zusammen mit Pennebaker und Leacock, einen (nie fertiggestellten) Film One A.M. („One American Movie“) drehte, mit der Sequenz eines Live-Auftritts der Band mittags auf der Dachplattform eines New Yorker Hotels, an Stellen gibt er „on“, innerhalb des Ausschnitts, dem Kameramann Zeichen; im Hintergrund sieht man das Rockefeller Center. Wegen der extremen Lautstärke der Band erschien die Polizei und beendete die Dreharbeiten.
Der Horror der zeitgenössischen USA
Ein Jahr nach dem Summer of Love trat George A. Romero mit Night of the Living Dead (USA 1968) eine Reise in die Nacht an. Er eliminierte aus den Swinging Sixties die Farbe und führte die amerikanischen Verhältnisse mit schmutzig verstrahltem, zersetztem Schwarzweiß in die Abgründe ihrer zivilisatorischen Leistungen zurück. Die Hölle der alles verschlingenden Zombies ist ernst gemeint, angstakustisch wahrnehmbar im Wummern der Tonspur, sichtbar in den Details einer phantastischen Horrorvision, die total in der Dingwelt, der Realität des zeitgenössischen Amerika verankert ist, deren Konsumismus als Müllvision einer Gesellschaft erscheint, die alles infiziert, was in ihren Stoffwechsel gerät – darin die epidemisch zunehmenden Menschenfresser, entleert und verdinglicht, als deren Vollstrecker fungieren. Unter die Haut geht der authentische Anschein des Nachrichtlichen in einem Jahr, das mit den Morden an Robert Kennedy und Martin Luther King, seinen Rassen- und Klassenkonflikten und eben Vietnam den Gipfel einer äußerst gewaltsamen Periode der US-Geschichte erreicht hat.
„Ich glaube nicht an Filme für die Nachwelt. Meine Filme haben Dringlichkeit.“ (Santiago Alvarez)
Als Direktor des Noticiero ICAIC, der Wochenschauabteilung des Kubanischen Filminstituts, war Santiago Alvarez es gewohnt, Kurzfilme über Nachrichten unter Zeitdruck zu erarbeiten; Hasta la Victoria Siempre (Bis zum endgültigen Sieg; Kuba 1967) sollte Alvarez auf Verlangen Fidel Castros binnen 48 Stunden fertigstellen. Der Film zu Ehren von Ernesto Che Guevara montiert Fragmente aus Interviews mit dem Comandante im kubanischen Partisanengebiet der Sierra Maestra 1958 und aus Reden, die er u.a. vor der UN-Vollversammlung hielt, mit Fotos und Filmaufnahmen vom Befreiungskampf und mit Zeitungsschlagzeilen. Ein Heldenlied auf den Guerillero – „Schafft ein, zwei, viele Vietnams“ – so die Botschaft Che Guevaras, die 1968 in Frankreich unter dem Titel On vous parle d’Amérique Latine: Le Message du Che (Nachrichten aus Lateinamerika: Ches Botschaft, Paul Bourron, 1968) vermittelt wurde.
In Hanoi, Martes 13 (Hanoi, Dienstag der 13.; Kuba 1967) schnitt Santiago Alvarez bewegte Bilder des nordvietnamesischen Alltags, die unvermittelt in die eines Bombenangriffs der US-Luftwaffe übergehen, in eine kondensierte Darstellung; der Betrachter erlebt diesen Angriff, ohne jeden Kommentar, nur sparsam musikunterlegt, vor allem als Reflex auf den Gesichtern der Menschen. Verfremdend gerahmt wird dieses Bild vom Widerstand der nordvietnamesischen Bevölkerung durch die Lesung eines Vietnam-Reiseberichts des kubanischen Schriftstellers José Martí, Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben, mit der Alvarez seinem Film eine historische Dimension verleiht.
LBJ (Kuba 1968) füllt als filmische Kampfschrift die Initialen, die für den damaligen Präsidenten der USA, Lyndon Baines Johnson, stehen. Bei Alvarez steht das L für den Bürgerrechtler Martin Luther King; dessen Kampf gegen die herrschende Rassendiskriminierung stellt Alvarez der Geschichte des amerikanischen Kontinents und der afrikanischen Kultur gegenüber. Die Kürzel B und J stehen für Bob und John F. Kennedy, die wie Martin
Luther King Mordanschlägen zum Opfer fielen.
In Memorias del Subdesarrollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung, Kuba 1968) erzählt Tomás Gutiérrez Alea die Geschichte eines Amateurautors und Hausbesitzers im Havanna von 1961. Seine Familie ist, wie so viele Angehörige der kubanischen Bourgeoisie, nach Miami geflohen, was ihm eine Genugtuung ist, wie die Chance zum Abschied von all seinen eigenen schlechten Angewohnheiten. Nach Art eines Tagebuchs wird das aktuelle fiktive Geschehen durch Rückblenden und innere Monologe kommentiert, dazwischen sind Dokumentaraufnahme aus Havanna montiert, darin Aufbruchsstimmung, aber auch Kriegsangst spürbar ist. Recht selbstverständlich, folgt man Fidel Castros Rede am Ende des Films, wird die völlige Unabhängigkeit des sozialistischen Kubas beschworen, das sich nicht zwischen den imperialistischen Mächten zerreiben lassen will.
Che Guevaras „Stunde der Feuer“
Den Titel des Films La Hora de los Hornos (Fernando E. Solanas, Argentinien 1968) entnahm Solanas einem Gedicht des kubanischen Schriftstellers José Martí aus der Zeit des Kriegs gegen Spanien Ende des 19. Jahrhunderts: „Es ist die Stunde der Feuer, und es ist nichts zu sehen als das Licht.“ Als Motto hatte Che Guevara dies Zitat seiner berühmten Rede auf der Trikontinentale 1966 in Havanna vorangesetzt. Die Bedeutung von „hornos“ als „Ofen“ oder „Feuer“ geht auf die von europäischen Seefahrern an den Küsten Lateinamerikas beobachteten Signalfeuer der Indianer („Cap Horn“) zurück. Solanas’ Film – Untertitel: „Notizen und Zeugnisse zum Neokolonialismus, zur Gewalt und zur Befreiung“ – sammelt Fakten für eine Bestandsaufnahme der Verhältnisse in Argentinien und fordert als Werk des Agitprop, das Information und Agitation verbindet, zur Revolution auf.
Tropikalismus – eine Ästhetik des Hungers
Im fiktiven Land Eldorado schwankt ein dichtender Intellektueller zwischen den politischen Extremen, durchschaut den Ultrakonservativen als religiös verkappten Faschisten, und auch dem populistischen Reformer scheint es weniger um Veränderung als um Macht zu gehen; der Dichter sagt sich los, geht seinen eigenen Weg, wird von den Machthabern fallengelassen und stirbt einen sinnlosen Tod. Ein Klima von Chaos und Mystik erfüllt Glauber Rochas Film Terra em Transe (Land in Trance, Brasilien 1967), dessen Szenen barocken Visionen gleichen, deren Ästhetik ausdruckswütig von exzentrischen Perspektiven, pathetischer Gestik und grellen Kontrasten bestimmt ist. „Er zeigt Politik als Delirium und zwar mit den kongenialen Mitteln einer delirierenden Ästhetik: einer kunstvollen Mischung divergierender Elemente, dokumentarischer, surrealistischer, opernhafter, poetischer, mythologischer. Es gelingt ihm, aus dem irritierenden Wuchern heterogener Formen jene Symbiose zu schaffen, die er selbst einmal ‚Tropikalismus‘ nannte.“ (Internationales Forum des Jungen Films, Berlin 2005)
Mit der Erneuerungsbewegung des brasilianischen Films in den sechziger Jahren, dem „Cinema novo“, ist eine Abkehr vom Kommerz, die Widerspiegelung sozialer Realitäten und die Besinnung auf traditionelles mythologisches Erbe verbunden. Mit dieser Strömung identifizierte man in Europa am häufigsten Glauber Rocha, der mit seinem Manifest „Eine Ästhetik des Hungers“ (1965) – später auch unter dem Titel „Eine Ästhetik der Gewalttätigkeit“ publiziert – die Zielsetzung dieses neuen Kinos aus der sozialen Armut in Lateinamerika ableitete und „dem Publikum ein Bewusstsein seines eigenen Elends“ zu vermitteln suchte.
Im Sertão, dem ärmsten Landstrich im brasilianischen Nordosten, entdeckte das Cinema novo ein Modell für die Misere Lateinamerikas. Das ausgedörrte Hochland steht für unmenschliche Lebensbedingungen, archaisch-patriarchalische Sozialstrukturen und das Festhalten der Einwohner an religiösem Fanatismus. Anarchische Sozialrebellen (Cangaceiros) beantworten herrschendes Unrecht mit Gewalt, zugleich verheißt der Wanderprediger Gerechtigkeit im Jenseits. Seinen Film Deus e o diabo an terra do sol / Gott und der Teufel im Lande der Sonne (1964) setzte Rocha mit der Rückkehr der ausgestorbenen Cangaceiros und Wanderprediger, Beatos, in Antonio das Mortes (1969) fort, in dem der Einzelkämpfer vom Söldner der Besitzenden zum Rächer der Armen mutiert und den Feudalherren und seine Killer bezwingt. Im Schlussbild zieht der einsame Titelheld auf dem Highway den großen Städten entgegen.