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Romy Schneider in „César und Rosalie“
Romy Schneider in „César und Rosalie“

Claude Sautet

Das Wesen der Liebe

| Michael Ranze |
Das Filmfestival in San Sebastián würdigt den französischen Meisterregisseur Claude Sautet mit einer Retrospektive.

Es gibt eine schöne Szene in Claude Sautets Les Choses de la vie (Die Dinge des Lebens, 1969), seinem wohl berühmtesten Film: Da liegt Romy Schneider schlafend nackt auf dem Bauch, neben ihr Michel Piccoli. Sie wacht auf, küsst Piccolis rechten Oberarm, steht auf, schlingt sich ein großes Handtuch um den Körper, geht auf den Balkon, steckt sich die Haare hoch, beißt in einen Apfel, greift zur Brille und setzt sich an die Schreibmaschine, um eine Übersetzung zu beenden. Mittlerweile ist auch Piccoli erwacht. Als erstes zündet er sich eine Zigarette an und folgt Romy Schneider. „Was machst du?“, fragt sie. „Ich sehe dich an.“ Sautet liebt seine Filmfiguren und seine Schauspieler, jede ihrer Gesten hat eine Bedeutung, die Kamera umschmeichelt sie förmlich, und in dieser Liebe wird auch Sautets Treue zu ihnen deutlich. Fünf Filme wird er zwischen 1969 und 1978 mit Romy Schneider drehen, vier mit Michel Piccoli, nicht zu vergessen die drei Filme mit Yves Montand, dem er – im Gegensatz etwa zu Regie-Kollegen wie Henri Verneuil (I wie Ikarus, 1979) oder Jean-Pierre Melville (Vier im roten Kreis, 1970) – vor allem komische Seiten abgewinnt.

Die Dinge des Lebens beginnt mit der Einstellung auf ein einsam daliegendes Wagenrad. Ein Auto ist auf offener Landstraße verunglückt, es brennt im Hintergrund, Schaulustige kommen zusammen, Polizei und Sanitäter treffen ein. Und plötzlich sehen wir, wie sich der Unfall rückwärts in Zeitlupe zuträgt – bis Michel Piccoli wieder am Steuer sitzt und zu seinem Ausgangspunkt fährt. In Rückblenden entfaltet sich nun die Geschichte eines Mannes zwischen Frau und Geliebter, zwischen Lea Massari und eben Romy Schneider. Dabei wird der Film stets zum Unfall zurückkehren, kleinste Dinge lösen Erinnerungen aus, Bedauern über verpasste Entscheidungen legt sich über den Film. Mit einem Mal hatte sich Sautet als wichtiger „auteur“ des französischen Films etabliert, und das, obwohl er weder zur Nachkriegsgeneration des französischen „Kinos der Qualität“ noch zur Nouvelle Vague gehörte. Mit Die Dinge des Lebens zeigte Sautet erstmals jenen Themenkreis des Mannes um die vierzig, der in seinem Freundeskreis aufgehoben ist, zu Frauen aber komplizierte Beziehungen unterhält. Die Sicht auf den wohlsituierten Bürger mittleren Alters, der in eine Lebenskrise gerät und darum seine eingefahrenen Alltagsmuster überdenken muss, ist dabei immer von Verständnis geprägt, nicht von Kritik.

Sautet, 1924 in der Pariser Vorstadt Montrouge geboren und 2000 gestorben, studierte am IDHEC in Paris, war Musikkritiker für die Zeitschrift „Combat“ und Regieassistent bei Georges Franju und Jacques Becker. Für Franjus Les Yeux sans visage (Augen ohne Gesicht, 1959) schrieb er am Drehbuch mit. In dem kürzlich erschienen Buch „Claude Sautet – Regisseur der Zwischentöne“ (siehe auch „ray“ 07+08/22) erzählt der Regisseur, wie er Drehbücher „neu besohlte“ (ein Ausdruck von François Truffaut), sich also als versierter Skript-Doktor betätigte, der dramaturgische Probleme behob und Dialoge schliff. Nach seinem Regiedebüt Bonjour Sourire (Die tolle Residenz, 1955) entstand vier Jahre später mit Classe tous risques (Der Panther wird gehetzt) sein erster bedeutender Film. Ein Off-Kommentar führt den Zuschauer in die Situation ein und stellt auch später noch Figuren vor. Wir sehen, wie Lino Ventura als alternder Gangster Abel Davos zusammen mit seinem Kumpel durch Mailand flaniert. Bis sie urplötzlich zwei Männer, die sich erst jetzt als Geldboten entpuppen, überfallen und mit ihrer Beute flüchten. Interessant: Davos ist Familienvater, er hat eine Frau und zwei Söhne, hinter der französischen Grenze sollen sie auf ihn warten. Doch nach einer Schießerei am Strand ist seine Frau tot. Mit Hilfe von Jean-Paul Belmondo als Eric Stark bringt er seine Kinder im zweckentfremdeten Krankenwagen nach Paris und rächt sich an seinen ehemaligen Partnern. Der Off-Kommentar informiert uns lapidar über sein Ende. Wichtig ist Sautet hier vor allem die Freundschaft zwischen Ventura und Belmondo. Und: „Als Familienvater und im Stich gelassener, von der Gesellschaft Ausgestoßener, der er durch die Kinder verbunden sein wollte, erlangt Abel tragische Dimensionen“, so Hans Gerhold.

Mit Lino Ventura dreht Sautet 1964 noch L’Arme à gauche (Schieß, solange du kannst), in dem ein Kapitän in den Diebstahl einer Hochsee-Jacht plus versuchtem Waffenschmuggel gerät. Dann bringt er mit Max et les ferrailleurs (Das Mädchen und der Kommissar, 1971) wieder Michel Piccoli und Romy Schneider zusammen. Piccoli spielt Max, „kein Polizist wie jeder andere“, wie es einmal heißt. In der Tat ist er so verbissen und manisch, dass er einen alten Freund, den er zufällig auf der Straße trifft, zum Verbrechen verführen will, um ihn auf frischer Tat zu ertappen. Als Mittel zum Zweck dient ihm Romy Schneider als Prostituierte Lily, der er geschickt kleine Hinweise für einen scheinbar sicheren Banküberfall steckt. Doch für die Schrottdiebe, „ferrailleurs“ auf französisch, ist die Sache eine Nummer zu groß, sie werden verhaftet, Lily ebenso. Thema des Films ist, mehr als die Krimihandlung, die Paranoia, mit der sich Max selbstzerstörerisch immer mehr in die Einsamkeit treibt. Wenn er hochkonzentriert alte Uhren repariert, ist dies nur ein sinnloses Ritual, das ihn von Lily entfremdet. „Wenn du wolltest, wäre es leicht“, sagt Romy Schneider zu ihm (und nimmt damit Daniel Auteuils unwillig-kalten Einzelgänger aus Ein Herz im Winter vorweg), und genau darin liegt die Tragik dieses Films begründet. Max umgibt ein Geheimnis, „ein nicht auszudeutender Rest, fremd-gefährlich, böse-faszinierend, lustvoll-genießend“, schreibt Hans Gerhold. „Ich habe ihn nicht gekannt“, sagt darum der leitende Kommissar. Übrigens ist dies der Film, in dem Romy Schneider mit Hut in der Badewanne sitzt, während Piccoli sie fotografiert. Sie war selten schöner als hier.

Schön, ja geradezu bezaubernd ist sie auch in César et Rosalie von 1973, als Frau zwischen zwei Männern. César (Yves Montand) war zuerst da, doch plötzlich taucht Rosalies Jugendfreund David (Sami Frey), ein Comic-Zeichner, nach fünf Jahren wieder auf. Die beiden Männer wissen sich in ihrer Eifersucht nur zu helfen, indem sie sich anfreunden. Doch mit ihrer Freundschaft vertreiben sie die Frau. Yves Montand fegt durch diesen Film wie ein Wirbelwind: ein Macher, der alles im Griff hat, lebendig und tatkräftig, charmant und liebevoll, aber auch sehr eitel, verletzlich und aufbrausend, in seiner Selbstverliebtheit wirkt er mitunter auch lächerlich. Einmal bedroht er Rosalie mit dem Messer und zerstört, völlig durchgedreht, Davids Atelier. Ein Off-Kommentar, im Original gesprochen von Michel Piccoli, erklärt, wie es weitergeht, und dann endet der Film mit einem sekundenlangen Standbild von Romy Schneider. Sie ist zurückgekehrt. Ein anrührender Liebesfilm ist so entstanden, der bewundernswert direkt in die Herzen seiner drei Protagonisten schaut und so ihrer Wut, aber auch ihrer Zärtlichkeit nachspürt. Das Wesen der Liebe liegt in diesem Film offen da.

In Vincent, François, Paul… et les autres (Vincent, François, Paul und die anderen, 1974) kann man schön beobachten, wie Yves Montand als einer von vier Freunden, die einander jeden Sonntag treffen und dabei über ihre Arbeit und persönlichen Probleme sprechen, in einem Ensemblefilm, in dem Gefühle und Beziehungen verarbeitet werden, aufgeht, ohne hervorzustechen. Die Sorgen, die sie haben, reflektieren die Sorgen der Gesellschaft, in der sie leben, und so schleicht sich ein wenig Sozialkritik in den Film. Höhepunkt ist sicherlich, wenn Michel Piccoli – attackiert von Serge Reggiani wegen des Verlusts seiner Jugendideale – beim Zuschneiden des Schinkens die Nerven verliert und wutentbrannt den Mittagstisch verlässt. „Montand, Piccoli, Reggiani, Depardieu: Dieser Film ist die Geschichte eurer Stirn, eurer Nase, eurer Augen, eurer Haare, ich weiß jetzt alles über euch, ihr habt hier (…) erst einmal einen großartigen Dokumentarfilm gedreht“, schrieb François Truffaut anlässlich des Kinostarts. Ein schöneres Kompliment kann man den Schauspielern nicht machen. Zum Ensemble dazu gehörten auch der Drehbuchautor Jean-Loup Dabadie, der Kameramann Jean Boffety und der Komponist Philippe Sarde, mit denen Sautet die meisten seiner Filme in den siebziger Jahren gestaltete.

Auch in Garcon! (Garcon! Kollege kommt gleich, 1983) steht Montand im Zentrum des Geschehens. Verschmitzt und charmant, mitunter jovial versucht er sich als Oberkellner einer Brasserie beruflich und privat zu behaupten. Der Film überzeugt vor allem durch das Hin und Her in der vollbesetzten Brasserie, das wie ein Ballett inszeniert ist. Elegant gleiten die Kellner mit angedeuteten Ausweichbewegungen aneinander vorbei und öffnen geschickt die Schwingtüren zur Küche, während sie ein und aus gehen. Vielleicht liegt hier der Sautet-Touch verborgen, wie Ralph Eue zu bedenken gibt: „Kaum ein anderer Regisseur hat so treffsicher Aussehen, Gedränge und Gehetze, auch das soziale Spektrum sowie die Geräuschkulisse und den Geruch von Brasserien, Cafés oder Restaurants einzufangen bzw. nachzubilden vermocht wie er.“ Und Nicole Garcia, der Montand trotz des Altersunterschieds unbeholfen den Hof macht, sieht einfach bezaubernd aus.

Zuvor war noch Mado (1976) entstanden, ein Film, der sich wieder mit der Midlife-Crisis eines erfolgreichen Geschäftsmanns – erneut Michel Piccoli – beschäftigt. Ich erinnere mich noch gut an das schöne, ungewöhnliche Gesicht von Ottavia Piccolo als Titeldarstellerin, in die sich Piccoli – welch eigentümliche Namensähnlichkeit – verliebt. Ein Film der Gesten, die so typisch sind für Sautet: „Wie Ottavia Piccolo den Lidstrich nachzieht vor dem Spiegel; wie sie ihre Armbanduhr auszieht, ehe sie zur Mitbewohnerin in die Wanne steigt; wie ihr Piccoli die Hände auf die Schultern legt und sie vor sich her durch die Menge des Banketts steuert; mit welchem Griff er sich die Welt aneignet.“ (Michael Althen)

Sautets wohl grausamster Film ist Un Coeur en hiver (Ein Herz im Winter, 1992). Das beginnt schon damit, dass Daniel Auteuil, der bereits 1988 mit Quelque jours avec moi (Einige Tage mit mir) die alte Schauspielerriege um Montand und Piccoli abgelöst hatte, aus dem Off sein Verhältnis zu André Dussollier definiert. Nicht nur, dass er Dussollier nicht als Freund betrachtet – später wird er zu Emmanuelle Béart sagen: „Ich liebe Sie nicht!“ Ich habe mich immer gefragt, wie man in Emmanuelle Béart nicht verliebt sein kann, wie man die Liebe seines Lebens so mutwillig verpassen kann. Die Lösung liegt in der Gefühllosigkeit Auteuils, der sich nur der Musik und dem perfekten Klang seiner Geigen verschrieben hat. Nur weil er uns im Off seine Beziehungen erklärt, uns quasi an die Hand nimmt, sind wir bereit, sein Verhalten zu akzeptieren. „Verhaltene Leidenschaft, Grausamkeit und fiebrige Strenge treten in diesem Meisterwerk in Wechselrede; die Hysterie ist Sautets Weltsicht fern“, so Gerhard Midding in einem Nachruf.

Sautets letzter Film ist Nelly & Monsieur Arnaud von 1995. Die schönste Szene des Films ist, wie Titeldarsteller Michel Serrault, der kultivierte, ältere Herr, die junge Emmanuelle Béart, die für ihn eigentlich nur ein Manuskript abtippen soll, beim Schlafen zusieht und mit der Hand über ihren nackten Rücken gleitet – ohne sie zu berühren. Wie sie dann aufwacht und ihn mit ihren schönen Augen ansieht, ist eine Wucht. Selten wurde eine unmögliche Liebe im Kino so konsequent dargestellt.