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Clinton, Muezzin und jede Menge Animation

| Marie Ketzscher |
Das Animationsfilmfestival Anibar im kosovarischen Peja ist in vieler Hinsicht ungewöhnlich, nicht nur, weil es von zwei Teenagern gegründet wurde.

Ein Alien surft zu Ronley Teper’s quietschiger Stimme durchs Weltall, als der abendliche Muezzin-Ruf ertönt. Kurz ist nur noch Davide di Saros phantastische Musikvideowelt zu sehen, während das Publikum im Cube Kino am Gin Tonic nippt und der Straßenhund-Welpe schnuppernd umherläuft. Irgendwann verklingt das Gebet wieder, und das nächste Video des Musikvideowettbewerbs beim 13. Anibar Animationsfilmfestival beginnt.

Viele Welten in einem kleinen Moment – Anibar, das vom 13. bis 19. Juli stattfand, hielt vieler solcher Erlebnisse bereit. Kein Wunder, schließlich ist es in der kosovarischen Stadt Peja, also in einem außergewöhnlichen Kontext, daheim. In einem De-Facto-Staat, der aber nicht von allen Ländern als unabhängig anerkannt wird (und trotz Euro nicht in der Währungsunion ist). In dessen Hauptstadt Priština die europaweit jüngste Bevölkerung mit einem Altersdurchschnitt von rund 30 Jahren lebt. In dem rund 95% der Bevölkerung muslimisch sind, aber der Staat und das Leben weitgehend säkular. In dem Straßen nach Tony Blair, Wesley Clark (NATO-Oberbefehlshaber während des Kosovo-Kriegs) und Bill Clinton benannt sind. Und ein Land, aus dem – das ist immer wieder Thema beim Anibar und auch bei der gerade in Priština stattfindenden Biennale Manifesta – die Menschen nicht frei in den Schengen-Raum einreisen können, nur mit Visum. Das oft nur für kurze Zeiträume ausgestellt und manchmal auch verweigert wird.

Das Anibar Festival ist unter anderem auch deswegen mit entstanden: Als tatsächliches Fenster zur Welt, wie Vullnet Sanaja sagt, der die NGO Anibar mit seinem Kumpel Rron Bajri 2009/2010 gründete, da war Sanaja 17 und Bajri 16. Die Filme und die Filmschaffenden, die in das beschauliche Städtchen kamen, brachten die Einblicke in andere Länder mit. Völlig verliebt – und aus heutiger Sicht fast schon naiv, wie Sanaja selbst findet – in das Medium Animation, schrieben sie 2009 Malcolm Turner, den Leiter des Melbourne International Animation Festival, an. Sie gaben sich als älter aus, als sie eigentlich waren, fragten nach Animationsfilmen, die sie zeigen wollten – und bekamen einen riesigen Katalog zugeschickt, aus dem sie für die erste Ausgabe 2010 ihr erstes Programm zusammenstellen durften.

Inzwischen ist Anibar – das derzeit von der 24-jährigen Arba Hatashi geleitet wird; mit 14 hat sie als Volunteer zum ersten Mal für das Festival gearbeitet – ein weltweit bekanntes Animationsfilmfestival mit weit über tausend Filmeinreichungen. Kein Oscar-qualifying Festival zwar, aber eines, das alle Animationsfilmfans und Animation-Professionals besuchen wollen, unbedingt, auch wegen der Nähe zu den idyllischen Bergen, die Peja umgeben. Anibar schafft außerdem in einem Land, in dem die Kultur auch durch die Folgen des Krieges (Kinoschließungen etc.) gelitten hat, ein Angebot, das über Animation hinausgeht: An jedem Festivalabend bietet Anibar Konzert und DJ-Programm beim Lake Cinema im Park (immer ein anderes Genre), zu dem zeitweise über tausend Menschen aus dem ganzen Land anwesend sind. In einer Stadt, in der nur 50.000 Leute leben.

Vielleicht ist es die besondere „junge“ und historisch besondere Natur des Festivals, die den Künstlerischen Leiter Petrit Gora auch anders auswählen lässt: Viele Festivallieblinge der aktuellen Saison finden sich gar nicht im Programm und ein Atsushi Wada landet mit seinem Bird in the Peninsula schon mal im Panorama statt im Wettbewerb. Selbst wenn keine starr definierten Kriterien bei der Auswahl der Wettbewerbsfilme (die allesamt in thematischen Blöcken laufen), existieren, ist klar: Das Narrative bekommt den Vorzug vor der Abstraktion und dem Sperrigen, auch um die Ortsansässigen direkter anzusprechen; ein Publikumsfestival eben. Einige der schönsten Entdeckungen gab es ebenfalls im besagten Panorama: A Guitar in the Bucket von Boyoung KimHi und Hi, How Are You von Gaïa Grandin-Mendzylewski, der Don Hertzfeld evoziert. Der Studentische Wettbewerb – der eine größere Schnittmenge zu anderen Festivals aufwies – glänzte in vielerlei Hinsicht, allen voran der großartige Goodbye Jérôme! von Adam Sillard, Gabrielle Selnet und Chloé Farr mit Mut zur surrealen Form und Absurdität, der den Hauptpreis gewann, oder der an Balance erinnernde Green von Karolina Kajetanowicz.

Bei den Themenschwerpunkten gab es dann viele Ähnlichkeiten mit den großen Animationsfestivals in Zagreb, Annecy und Ottawa: Neben einem Queer Animation-Programm, das von der lesbischen Filmemacherin und Berlinale-Talents-Alumna Kate Jessop realisiert wurde, wurden auch ein Ukraine- und ein Human-Rights-Special präsentiert. Wobei sich das Festival anders als viele Live-Action-Festivals nicht dem oft kollektiv gehandhabten Russland-Boykott anschließt – unabhängige, durchaus systemkritische Filmschaffende sollen auch weiterhin eine Animationsfilmbühne bekommen. Staat und Individuum sind nun einmal nicht immer gleichzusetzen. Aus einem ähnlichen Verständnis heraus werden auch Beiträge israelischer Filmschaffender programmiert. Und die Jury fand hier prompt auch den für sie stärksten Film im Internationalen Wettbewerb: Letter to a Pig von Tal Kantor, der sich anhand des Themas Zeitzeugeninterviews in Schulen dem Holocaust und der immer schwieriger werdenden generationsübergreifenden Geschichtsvermittlung widmet. Und zwar visuell unglaublich eindrücklich, vor allem in den Eingangssequenzen, in denen sich immer wieder Realbild in die rotoskopierten Sequenzen drängt, bis die Erinnerung in Animationsform das weitere Narrativ übernimmt. Die durch gemeinsame Erinnerung errungene Empathie gewinnt also, sie setzt sich durch beim Anibar. Ein passender Gewinnerfilm für ein Festival, das sich entgegen aller Restriktionen so stark für ein fast utopisch scheinendes, globales Miteinander auf Augenhöhe einsetzt.

anibar.org