Tagebuch eines falschen Landpfarrers: Polens Oscar-Beitrag „Corpus Christi“, ein vielschichtiges Drama um Schuld und Schmerz, überzeugt auf der ganzen Linie.
Als Daniel aus einer Jugendstrafanstalt in Warschau entlassen wird, soll er in einem Sägewerk auf dem Land den Dienst antreten. Doch die Ambitionen des 20-Jährigen sehen eigentlich ganz anders aus: Er, der in der Anstalt begeisterter Messdiener war, möchte Priester werden – was ihm aufgrund seiner kriminellen Vergangenheit allerdings verwehrt bleibt. In der kleinen polnischen Gemeinde angekommen, meldet er sich jedenfalls nicht beim Sägewerk, sondern gibt sich als Geistlicher aus. Der Coup geht auf: Zunächst als eher schüchterne Vetretung des alten Ortspfarrers angesehen, gelingt es Daniel mittels Smartphone, authentischer Begeisterung und unorthodoxen Methoden, die Menschen des Ortes für sich einzunehmen. So rät er einer Frau, die sich im Beichtstuhl über ihren rauchenden Sohn beschwert, diesem besonders starke Zigaretten zu kaufen, predigt, dass Gottesglaube nichts Mechanisches sein sollte und verspritzt das Weihwasser wie Champagner. Teile des Ortes sind zudem von einem Unglück traumatisiert, das mehrere Todesopfer forderte – hier greift Daniel zu einer Art Urschreitherapie. Doch an der Frage, wie man mit der Tragödie umgehen soll, beginnen sich die Geister immer mehr zu scheiden: Der mächtige Bürgermeister und Sägewerksbesitzer etwa verlangt vom jungen „Priester“, die Tragödie nicht mehr anzusprechen. Während Daniel mit der jungen Marta dennoch immer tiefer in die Geheimnisse der Kleinstadt vorstößt, tut sich ein Konflikt auf, in dem die Frage nach Vergebung zunehmend dringlicher wird – auch was Daniels eigene Vergangenheit betrifft.
Corpus Christi wäre auch als rein fiktive Geschichte bereits fesselnd genug, doch wenn man weiß, dass große Teile des Films auf einer wahren Begebenheit beruhen, gewinnt das Drama noch zusätzlich an Kraft: 2011 hatte sich ein junger, frisch aus einer Jugendstrafanstalt entlassener Pole als Priester ausgegeben und Messen abgehalten. Die Gemeinde, bei der der junge Mann überaus gut angekommen war, war schockiert. Allerdings belässt es der Film nicht bei einer bloßen Nacherzählung. Corpus Christi, der in diesem Jahr für einen Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film nominiert war, funktioniert nämlich auf vielen Ebenen, verbindet Drama, Charakterstudie, Moralstück und Spannungskino mit einem kleinen Schuss schwarzen Humors. Manche Kritiker haben dabei Parallelen zu Bresson gezogen – nicht zu Unrecht: Das Thema (katholische) Moral liegt auf der Hand, und formal setzt Jan Komasa wie der französische Minimalismus-Großmeister auf formale Strenge und statische Kompositionen. Die entsättigten Farben, bei europäischen Arthouse-Produktionen leider allzuoft ein Tiefe vortäuschendes Gimmick, passen hier recht gut zur Geschichte.
Die starke Regie und das Drehbuch vereinen sich mit dem eindrucksvollen Hauptdarsteller zur filmischen Dreifaltigkeit: Durch Bartosz Bielinas Spiel (die Augen erscheinen tatsächlich wie ein Spiegelbild der Seele) erscheint Daniel so intensiv wie introvertiert, so sympathisch wie von innerem Schmerz gequält. Auslassungen und Andeutungen in Skript und Regie verhindern, dass der Jugendliche übererklärt wird, was der Figur zusätzliche Tiefe und Komplexität verleiht. Daniel ist definitiv kein abstrakter Heiliger: Man sieht ihn beim Konsum von Drogen und beim Sex, zudem greift er manchmal selbst zu Gewalt. Dieser Jugendliche, dessen Probleme und Vergangenheit über weite Strecken der Phantasie der Betrachter überlassen wird, ist sicherlich eine der denkwürdigsten Figuren dieses bislang schwierigen Kinojahres. Egal, wohin sich der interpretierende Betrachter wendet, ob er den Film als Moralstück über die Bewältigung einer schuldvollen Vergangenheit begreift, als Reflexion über den in Polen immer noch immens starken Katholizismus oder als Studie über einen ambivalenten, zwischen Himmel und Erde zerrissenen jungen Mann: Corpus Christi ist ein Film, der – pardon! – verdammt viel zu bieten hat.