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Crossing Europe – Das letzte Ufer

Das letzte Ufer

| Jörg Becker |

Die Crossing-Europe-Reihe Nachtsicht zeigt anhand einer selektiven Werkschau den Aufschwung des gegenwärtigen europäischen Horrorfilms.

Der Fachbereich Horror hat es in jüngerer Vergangenheit in Europa nicht gerade leicht gehabt. Das betraf nicht den Publikumszuspruch – dessen konnte sich dieses klassische Genre sicher sein –, doch abgedeckt wurde dieser Bedarf zum größten Teil durch die den Markt beherrschenden US-amerikanischen Produktionen. Der ökonomischen Dominanz Hollywoods hatte man ohnehin wenig entgegenzusetzen, zudem litt das Genre an einem Mangel an Anerkennung und Respekt. Allzu oft wurden Horrorfilme entweder in die von der Splatter-Fangemeinde bewohnte Schmuddelecke gestellt oder als kommerzorientierter Mainstream abgetan. Wenn man die Entwicklungen der letzten Jahre jedoch richtig deutet, könnten die Aktien regionaler Produktionen  in Europa vor einem Höhenflug stehen (selbst ein Film wie In 3 Tagen bist du tot, der bei aller Bemühtheit kaum über das Niveau einer Filmschul-Abschlussarbeit hinausging, erreichte nicht zuletzt wegen seines unverwechselbaren Lokalkolorits in Österreich geradezu phantastische Zuschauerzahlen), und die Begriffe Auteur und Horror dürften dann nicht mehr länger als Gegensatzpaar gelten.

Spanien leistete und leistet dabei als Filmland wertvolle Pionierarbeit. Alejandro Amenabars recht glatter, aber dennoch bemerkenswerter Film Tesis (1996) mag da nur exemplarisch für eine ebenso intelligente wie absolut genregerechte Arbeit gelten. [Rec], inszeniert von Jaume Balagueró und Paco Plaza, ist ein gelungenes aktuelles Beispiel dafür, welches Potenzial im spanischen Horrorkino steckt. Ein Fernsehteam begleitet Feuerwehrleute bei ihren nächtlichen Einsätzen; ein vermeintlicher Routinefall um eine verunglückte alte Dame  in einem alten Mietshaus verwandelt sich wie aus dem Nichts in einen Albtraum. Denn die Frau attackiert einen Feuerwehrmann, verletzt ihn schwer. Plötzlich wird das Gebäude von außen hermetisch abgeriegelt, denn die alte Frau ist von einem leicht übertragbaren Virus befallen, der die daran Erkrankten in aggressive, blutgierige Wesen verwandelt. Für die eingeschlossenen Menschen wächst die Bedrohung von Minute zu Minute, gibt es doch keine Fluchtmöglichkeit aus dem Gebäude. [Rec] limitiert die Perspektive konsequent auf jene der Handkamera des Fernsehteams, und diese Beschränkung auf die verwackelten, hektischen (scheinbaren) Livebilder eines Reality-Formats verleihen dem Film ein ungemein dichtes, semi-dokumentarischen Aussehen, das den Stressfaktor der Protagonisten fast physisch erlebbar macht. Zudem hält die Inszenierung ein furioses Erzähltempo aufrecht, denn abgesehen von einer kurzen Exposition, bleibt der Raum der Handlung auf das abgesperrte Haus beschränkt, wodurch eine zunehmend klaustrophobische Atmosphäre äußerst wirkungsvoll erzeugt wird.

Auch die französische Produktion A l’intérieur von Julien Maury und Alexandre Bustillo hält sich nicht lange mit subtilem Spannungsaufbau auf. Vor dem Hintergrund der Unruhen in den Pariser Vorstädten möchte eine hochschwangere Pressefotografin die Nacht vor der Entbindung allein in ihrem Haus am Stadtrand verbringen. Doch eine geheimnisvolle Unbekannte dringt in das Haus ein. Zwischen den beiden Frauen entbrennt sogleich ein gnadenloser Kampf ums Überleben, bei dem alle, die zufällig oder intervenierend zwischen die Fronten geraten, gleich einmal zu  blutigen Kollateralschäden verkommen. A l’intérieur als Splattermovie zu bezeichnen, wäre wohl der Euphemismus des Jahres, denn das sich nahezu durch den gesamten Film durchziehende Schlachtfest mit seinen detailliert ins Bild gerückten Grausamkeiten ist selbst für hart gesottene Fans des Genres nur schwer auszuhalten. Besonders unangenehm fällt A l’intérieur allerdings durch seinen exzessiven, narrativ überhaupt nicht motivierten Sadismus auf, der selbst Eli Roths unsägliche Hostel-Filme vergleichsweise harmlos aussehen lässt.

Vergleichsweise unspektakulär, aber wesentlich wirkungsvoller präsentiert sich der portugiesische Beitrag Coisa Ruim (Bad Blood) mit seiner fast klassisch anmutenden Gothic Horror-Geschichte. Ein Professor zieht mit seiner Familie von Lissabon in ein geerbtes Haus auf dem Land, doch die von Aberglauben und religiösem Fundamentalismus bestimmte Atmosphäre in dem abgelegenen Dorf ist den urbanen Intellektuellen mehr als fremd. Die alten Spukgeschichten der Dorfbewohner erscheinen zunächst noch amüsant, doch die ungewohnten Lebensumstände zeigen mit der Zeit dennoch ihre Wirkung. Die Mitglieder der Familie beginnen sich voneinander zu entfremden, ein alter Fluch, der auf dem Haus lastet, scheint bald nicht mehr nur Folklore, sondern handfeste Bedrohung zu sein. Tiago Guedes und Frederico Serra inszenieren ihre Geschichte in betont ruhigen Einstellungen, lassen dabei offen, ob die Bedrohung nur der Imagination der Protagonisten entspringen oder tatsächlich übersinnliche Kräfte ein Faktor geworden sein könnten.

Bei aller Unterschiedlichkeit die [Rec], A l’intérieur und Bad Blood in der formalen und dramaturgischen Gestaltung aufweisen, sticht doch eine Gemeinsamkeit hervor. Der Schre-cken, in welcher Form auch immer, ist längst nicht mehr nur irgendwo da draußen. Ein Rückzug in den vermeintlich letzten sicheren Platz, das eigene Heim, ist nicht mehr möglich. Denn die Bedrohung hat sich dort bereits fest eingenistet oder kann ohne Schwierigkeiten eindringen. Der Konfrontation, wie immer diese auch ausgehen mag, kann man sich nicht mehr entziehen, selbst der hinterste Winkel bietet keine Zuflucht mehr.