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Dänemark

Die Welt rückt zusammen

| Andreas Ungerböck |
Zum dänischen Spielfilmwunder samt märchenhafter Marktanteile war hierorts schon einiges zu lesen. Aber auch auf dem Gebiet des Dokumentarfilms ist man in Dänemark sehr umtriebig. Ein Überblick anlässlich des CPH:DOX-Filmfestivals in Kopenhagen.

Alle Jahre das gleiche Bild, so auch 2016: 705.000 Zuschauer für Flaskepost fra P (Erlösung), den dritten Teil der Jussi-Adler-Olsen-Verfilmungen um den maulfaulen Kommissar Mørck und seinen Sidekick Assad, 539.000 für die Komödie Klassefesten 3: Dåben (The Reunion 3, bei uns nicht gelaufen), das ergab die beiden Spitzenplätze in den dänischen Kino-Jahrescharts. Dann lange nichts, dann The Revenant auf Platz 3 mit 351.000 Besuchern als bestbesuchter Hollywoodfilm. 13 Millionen Däninnen und Dänen gingen insgesamt in die Kinos (Österreich: 15,9 Millionen), dies bei 5,7 Millionen Einwohnern (Österreich: 8,8 Millionen). Sieben lokale Spielfilme erreichten mehr als 100.000 Zuschauer (in Österreich nur einer: Wie Brüder im Wind). Der Marktanteil dänischer Filme betrug im Jahr 2016 21 Prozent (Österreich: äh …). Für die umtriebige dänische Filmwirtschaft war das nach den gut 30 Prozent des Jahres 2015 allerdings fast eine Katastrophe. Das ist natürlich Jammern auf hohem Niveau in einem Land, in dem die Zahl der Kinos und der Kinosäle (416 im Jahr 2014, 444 im Jahr 2016) seit Jahren kontinuierlich steigt, ebenso wie das Budget des all-fördernden Dansk Film Institutet. Waren es vor zwei Jahren noch 63 Millionen Euro jährlich, so ist man mittlerweile bei 69 Millionen angelangt.

Ausgezeichnete Filme

Es mag angesichts der Exportfähigkeit und der starken internationalen Präsenz dänischer Spielfilme und „talents“ ein wenig überraschend erscheinen, aber in Dänemark werden de facto weniger Spielfilme als Kurz- und Dokumentarfilme gefördert (23:31 im Jahr 2016). Man sollte aber nicht vergessen, dass gerade einige der aufsehenerregendsten und international meist diskutierten und ausgezeichneten Dokumentarfilme der letzten Jahre mit dänischem Geld (zumindest ko-)produziert wurden. Man denke an Anders Østergaards Burma VJ – Berichte aus einem verschlossenen Land (2008, Oscar-Nominierung), Armadillo (2010), Janus Metz’ kontroversen Film über eine Gruppe dänischer Soldaten in Afghanistan (vier Nominierungen für den News & Documentary Emmy Award), Joshua Oppenheimers ebenso umstrittene Filme The Act of Killing (2012, Europäischer Filmpreis und Oscar-Nominierung) und The Look of Silence (2014, Oscar-Nominierung), Michael Madsens The Visit (2015) oder Peter Anthonys The Man Who Saved the World (2015, ausgezeichnet u.a. mit dem nationalen Bodil-Preis für den besten Dokumentarfilm 2016). Ein weiteres erfolgreiches Beispiel ist The Democrats (2015) von Camilla Nielsson, unter anderem gewürdigt als bester Dokumentarfilm beim prestigeträchtigen Tribeca-Filmfestival in New York. Darin geht es um den schwierigen Prozess, eine neue, demokratische Verfassung für Simbabwe zu schaffen. Wie fast alle dänischen Dokumentarfilme entstand auch dieser mit finanzieller Unterstützung durch den (dazu gesetzlich verpflichteten) staatlichen Rundfunksender DR, dessen kürzlich zurückgetretene Dokumentarfilm-Chefin Mette Hoffman Meyer lange Zeit eine treibende Kraft im dänischen Filmbusiness war. Auch die im Fernsehen enorm erfolgreiche Reihe „Documania“ ging auf ihre Initiative zurück. Nahezu alle dänischen Dokumentarfilme, wie die bereits erwähnten, haben, darin dem internationalen Trend folgend, „globale“ Themen. Wie sagte doch die DR-Producerin Ditte Christiansen schon im „ray“-Interview im Mai 2015? „,Dänische Dokumentarfilme’, so etwas gibt es gar nicht mehr wirklich, das sind fast durchwegs Ko-Produktionen. Die Welt ist ja zusammengerückt.“

Dem vi var (Who We Were, 2016), Sine Skibsholts beeindruckende Dokumentation über ein Ehepaar, dessen Beziehung durch den Schlaganfall des Mannes auf eine schwere Probe gestellt wird, ist insofern ein untypischer Film, weil er sich ausschließlich in Dänemark bewegt. Who We Were ist übrigens einer von nur sieben dänischen Dokumentarfilmen, die im Jahr 2016 auch in die nationalen Kinos kamen – mit alles andere als berauschenden Ergebnissen. Gemeinsam verkauften sie nur knapp mehr als 15.000 Tickets (ein Schicksal, das sie, wie bekannt, mit vielen österreichischen Kino-Dokumentarfilmen teilen. Der erfolgreichste Dokumentarfilm der letzten Zeit war – siehe oben – Armadillo im Jahr 2010 mit mehr als 118.000 Besuchern, The Act of Killing hingegen (zugegebenermaßen harte Kost) erreichte lediglich 6.500 Zuschauer.

Netzwerken

Spricht man über Dänemark und Dokumentarfilm, kommt man um CPH:DOX nicht herum. Unter diesem flotten Titel leistet sich das kleine Land seit 2003 ein großes internationales Dokumentarfilmfestival in Kopenhagen. Die Zahl der Besucher stieg von 2003 auf 2015 um mehr als das Sechsfache, von 14.000 auf mehr als 91.000. Das Festival fand viele Jahre lang im eher ungastlichen November statt, heuer wanderte man erstmals in den März. CPH:DOX gehört wie die ähnlich gestrickten Festivals von Jihlava, Leipzig, Lissabon, Marseille, Nyon und Warschau zum höchst aktiven Zusammenschluss „Doc Alliance“, der inzwischen zu einer treibenden Kraft im europäischen Dokumentarfilm geworden ist und Filme auch online (dafilms.com) günstig (ab 5 Euro pro Monat Flatrate) als Streams anbietet. Das Angebot umfasst inzwischen mehr als 1.500 Dokumentarfilme und wächst ständig. Wie seine Partnerveranstaltungen ist CPH:DOX ein Festival ganz aktuellen Zuschnitts, soll heißen: Es versteht sich zwar selbstverständlich als Ort, an dem auch Filme gezeigt werden (und es sind wirklich viele Filme), aber vor allem ist CPH:DOX ein großer Treffpunkt für die Branche, die hier weiter an ihrem Netzwerk webt, mit dessen Hilfe Dokumentarfilm (noch) stärker gefördert, noch mehr produziert und noch intensiver im Bewusstsein einer filminteressierten Öffentlichkeit verankert werden soll. In Veranstaltungen wie CPH:PITCH, CPH:FORUM, CPH:MARKET, CPH:MEETINGS oder CPH:CONFERENCE wird gepitcht, gebrieft, informiert und diskutiert von früh bis spät, und natürlich geht es spätabends mit Feiern und Small Talk in Hotelbars weiter. Es gibt seit einigen Jahren eine Kooperation mit der Crowdfunding-Plattform Kickstarter, einen kuratierten Video-on-Demand-Markt für Dokumentarfilme und mit CPH:LAB ein Talente-Programm, dessen Team auch Festivaldirektorin Tine Fischer angehört. Nicht zu vergessen: „Propellor“, eine von CPH:DOX, dem European Film Market in Berlin, dem Internationalen Filmfestival in Rotterdam und Cinemathon gemeinsam gegründete und betriebene Innovationsplattform, mit deren Hilfe neue Wege für die Produktion, den Vertrieb und das Anschauen von Dokumentarfilmen gefunden werden sollen.

Mission Dokumentarfilm

„CPH:DOX is devoted to supporting independent and innovative filmmaking and presents the best and brightest in contemporary non-fiction, art cinema and experimental film“, lautet die Kurzfassung des Mission Statements. In nicht weniger als sieben Wettbewerben matchen sich mehr als 200 Filme, von denen eine stattliche Anzahl dänische (Ko-)Produktionen sind. Diese sind über die Sektionen verstreut, ein paar weitere, und nicht die uninteressantesten, finden sich in der Info-Schau „Danish:Dox“. Manche von ihnen sind schon aufgrund ihrer Zeitangaben (52 Minuten, 60 Minuten) als Fernsehproduktionen erkennbar: Dokumentarfilm pendelt sich eben aufgrund des unersättlichen Bedarfs von TV-Sendern und VoD-Plattformen sehr oft in dieser Länge ein. Es gibt aber auch „ausgewachsene“ Filme, wie den viel gepriesenen und tatsächlich unglaublich eindringlichen Last Men in Aleppo von Feras Fayyad und Steen Johannessen, prominent ausgezeichnet mit dem Grand Jury Prize beim Sundance Film Festival. Der Film über die White-Helmets-Ärzte, die sich inmitten des Bombenhagels und anderer Gräuel um Verwundete und Schwerverletzte kümmern, geht wirklich unter die Haut und sollte vor allem jenen gezeigt werden, die die Notwendigkeit zur Flucht daran messen, ob jemand ein Handy besitzt. Ähnlich eindringlich, wenngleich auf einer anderen Ebene ist The President from the North von Lasse Feldballe-Pedersen über Ahmed Dualeh, der einst als junger Mann aus Somalia zum Studieren nach Dänemark kam, ein Vorzeige-Immigrant wurde und jetzt, im Alter von 67 Jahren, beschließt, in seine Heimat zurückzukehren, um dort eine Demokratie nach dänischem Vorbild aufzubauen. Seine tragikomischen Anstrengungen, die – wie nicht anders zu erwarten – auf viel Widerstand stoßen und recht wenig bewirken, haben etwas Anrührendes, ebenso wie sein unverbrüchlicher Idealismus und seine schwärmerische Liebe zu beiden Ländern.

In privatere Gefilde begibt sich Sven Vinges In My Father’s Hands, in dem der Filmemacher zusammen mit seinem eher unwilligen Bruder versucht, die Beziehung zu seinem vor 17 Jahren unter rätselhaften Umständen verstorbenen Vater, einem alkoholkranken Keramikkünstler, zu rekonstruieren. Mit Hilfe privater Bild- und Tonaufnahmen, aber auch mit nachgestellten Szenen, in denen er abwechselnd den Vater und sich selbst spielt, entsteht ein spannender Prozess der Selbstvergewisserung. Wenig hilfreich erweist sich allerdings seine alte Großmutter, die an Svens Vater (also ihren Sohn) gar keine bis keine guten Erinnerungen hat. Ebenfalls privat, auf schockierende Weise, ist Death of a Child von Matilda und Lasse Barkfors. Der Titel lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen offen; die Filmemacher befragen Eltern – und es gibt tatsächlich mehrere davon –, die ihre kleinen Kinder, mit tödlichen Konsequenzen, einfach im Auto vergessen haben. So haarsträubend das klingt, so sehr zieht einen der Film in seinen Sog, und auf die Frage, wie so etwas passieren kann, antwortet eine der betroffenen Mütter recht lapidar: „I don’t know how it can happen but it happens – because it happened to me.“ Eine reine TV-Produktion, aber in abendfüllender Länge, ist Illegal in Denmark, eine Art Undercover-Reportage, die der brisanten Frage nachgeht, wie nicht weniger als 18.000 „illegale“ Immigranten in einem sozialstaatlich durchorganisierten Land wie Dänemark durch die Maschen schlüpfen konnten. Was tun sie? Wie leben sie? Wie stillen sie ihre täglichen Bedürfnisse? Die Dokumentation wirbelte bei ihrer Erstausstrahlung auf TV2 sehr viel Staub auf und sorgte für hoch emotionale Debatten – was kann man Besseres über einen Dokumentarfilm sagen?