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Das eigene Gesicht sehen

| Gunnar Landsgesell |

Notizen zum Kolloquium „Figurations of Solidarity“

Von 8. bis 10. Dezember 2016 fand im Wiener Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft das Symposium „Figurations of Solidarity – Movements of the Political in Minor Cinema“ statt, das die im Februar 2016 verstorbene Filmwissenschaftlerin Elisabeth Büttner zusammen mit Viktoria Metschl vorbereitet hatte. Dem Begriff der Figuration kommt die Bedeutung des Umbruchs und der Verwandlung zu, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielen können. Haiti und Algerien sind zwei der Orte, an denen sich im Zuge von Unabhängigkeitsbewegungen Verschiebungen und Verabschiedungen von Identitäten ereignet haben. Die Frage, was an die Stelle des Alten treten solle und wie das auf einer repräsentativen Ebene, etwa durch die Kontrolle über filmische Bilder, stattfinden könne, war ein Teil der Veranstaltung, auf den sich Vortragende bezogen.

Im Begleittext zum Kolloquium heißt es: „Figurale Äußerung und das Medium Film arbeiten einander zu. Sie erschaffen in ihren Praktiken wie in ihrer bildlichen Materialität Zeitverhältnisse, ,die nie in der gewöhnlichen Wahrnehmung’ (Gilles Deleuze) zu sehen wären, forcieren Begegnungen zwischen Ungleichem und lassen Grenzen unscharf werden. Sie brechen Beziehungen von Innen und Außen, Nähe und Ferne, Individuum und Gesellschaft auf, um sie ins Fragmentarische und Unvollendete zu überführen. Dadurch ermöglichen sie ein Hervortreten von ,Fremdheit, Andersheit, radikale[r] Veränderung’ (Louis Marin). Figurationen verknüpfen das Ästhetische mit Zusammenhängen des Politischen wie des Historischen. Das Kino wird zu ihrem Schauplatz … Die Tagung wird diese heterogene Bewegungen des Ästhetischen und Politischen einer Revision unterziehen, ihre Geschichtlichkeit sondieren und sie als Option zukünftiger Verfahren zur Debatte stellen. Sie wird das Wagnis von Solidarität auf und jenseits der Leinwand befragen, das in Algerien seit der formalen Unabhängigkeit von 1962 einen transnational wirkmächtigen Versammlungsort gefunden hat.“

Daho Djerbal von der Université d’Alger II ging auf die Frage des Anderen ein, wie sie sich zwischen Kolonisierten und Kolonisator stellt. Der Blick auf den Anderen, so Djerbal, sei immer schwierig. Die Kolonialmacht habe als Minderheit immer auch die Repräsentationsmacht über die Anderen, durch Bilder und gesellschaftliche Werte. Die Algerier waren die Subjekte Frankreichs seit 1865, gesetzlich nicht gleichgestellt, ohne die gleichen Freiheits- und Staatsbürgerrechte. Auch der Zugang zur Bildung, zu öffentlichen Posten war limitiert. 90 Prozent der Algerier hatten nicht das Recht, schreiben zu lernen. 1962 gab es nur 600 Studentinnen und Studenten in Algerien.

Die Frage in einem Moment der Unabhängigkeit sei auch, unter welchen Bedingungen man sich selbst regieren kann. Wer solle die Posten der Administration besetzen? Und mit welchem Bewusstsein würde das stattfinden? Auch die Filmwirtschaft war in Algerien als französischer Kolonie monopolisiert. Die Bilder der französischen Produktionen dienten immer auch der Propaganda. Alle Filmstrukturen, die es gab, waren der französischen Kolonialmacht unterstellt. Die grundsätzliche Frage im Moment des Umbruchs, wie ihn die Befreiung von der französischen Herrschaft nach acht Jahren Krieg und Zerstörung im Jahr 1962 darstellte, war: Ist eine Kooperation mit der Besatzungsmacht möglich, oder muss es zum vollständigen Bruch kommen, um ein eigenes gesellschaftliches Werden zu ermöglichen? Das beinhaltete natürlich auch den Bruch mit der eigenen Elterngeneration, nicht nur, was den Modus der Nachahmung (Fanon) von „Zivilisation“ und technischer Errungenschaft betrifft, sondern auch die praktische Organisation. Im kolonialisierten Algerien war es nahezu unmöglich für einen Algerier, Filmregisseur zu werden. Studentengruppen brachen also in die Lager der Fernsehsender ein, um sich Material anzueigenen und eigene Bilder zu produzieren.

Es ging darum, sich die eigene Geschichte wieder anzueigenen. Einer der wichtigsten Vordenker des antikolonialen Kampfes, Frantz Fanon, beschrieb in „Schwarze Haut, weiße Masken“, wie die Kolonisierten lernten, sich selbst durch den Blick des weißen Kolonisators wahrzunehmen. Als „minderwertige“ Subjekte, die schließlich eine „weiße Maske“ tragen müssen, um ihre Unterlegenheit zu verdecken. Im revolutionären Algerien ging es nun darum, auch die Repräsentation durch die Bilder wieder selbst zu erlangen. Ali Djenaoui, damaliger Leiter des Institut des hautes études cinématographiques (IDHEC) wusste, welche zentrale Rolle die Frage der Repräsentation einnimmt. Djenaoui schrieb, der algerische Zuseher habe nie das eigene Gesicht auf der Leinwand gesehen, nur fremde Helden, aber nie die eigenen. Der Kampf um die eigene Darstellung, so Djerbal, musste also bei Null anfangen. Denn nur das Subjekt, das für sich selbst und eigenständig denkt, könne eine algerische Wirklichkeit im Kino erschaffen. Damit wird die Kamera zur Waffe des befreiten Subjekts. Ali Djenaoui konnte diese Entwicklung nicht lange begleiten, er wurde erschossen. Die Befreiung war ein langer, mühsamer Weg, Fanon beschrieb, dass es nicht um die politische Unabhängigkeit ging, die zwar wichtig war, sondern um die Frage, wie man sich vom Fremden im eigenen Inneren befreien könne.

Der Transfer von der Subalternität, vom Anderen zum Eigenen zu werden, ist eine der Kernfragen kolonialer und postkolonialer Forschung. Daho Djerbal verweist auf die Schwierigkeit, die geistige Leere, die in diesem Prozess folgen könne, zu verhindern. Fragen, mit denen etwa auch Alain Resnais in Muriel ou le temps d’un retour (1963) oder Jean-Luc Godard auf ihre Weise theoretisiert haben, etwa in Le petit soldat (1960), in dem Godard vor dem Hintergrund des Algerienkrieges Konflikte ins Spionagemilieu nach Genf verlegt. Jahrzehnte später setzt sich die Kolonialgeschichte in neuen Bewegungen fort, wie etwa Réda Bensmaïa von der Brown University, Providence, beschrieb. Der Begriff der harraga (übersetzt aus dem Arabischen bezieht sich „harraga“ auf die Leute, die ihre Papiere verbrennen) beschreibt jene Fluchtbewegung, die Menschen auf kleinen Booten über das Mittelmeer nach Europa bringt. Diese Einwanderung, die ohne die Kolonialgeschichte Frankreichs, Englands und anderer europäischer Staaten nicht verstanden werden kann, ist vielfach Thema von Filmen. Eine der eindrücklichsten stammt vom algerischen Regisseur Merzak Allouache, er nannte seine Erzählung genau so: Harragas (2008).

 

Simparele – ein Filmbeispiel

Haiti war die erste Republik, deren Unabhängigkeit sich schwarze Menschen und ehemalige Sklaven erkämpften. Als Kolumbus mit seinen Truppen in Haiti ankam, ließ er die Bevölkerung fast vollständig ausrotten. Als neue Arbeitskräfte für die angelegten Plantagen wurden Menschen aus Afrika versklavt und verschifft. Der 1974 unter der Regie von Humberto Solás entstandene Film Simparele sucht nach Mitteln, Geschichte in eigener Sprache zu fassen. Simparele beginnt mit einer schwarzen Sängerin und deren Gesang, die den Geist der Knechtung und der Befreiung beschwört. Der Film greift auf die Phänomene der Volkskunst als erzählerisches Mittel zurück. Tänze, religiöse Rituale, Choreografien und episodische Einschübe geschichtlicher Konfrontationen formulieren das Geschehen in einer eigenen Sprache. Louise Diamond und Lyn Parker schrieben 1978 in der Filmzeitschrift „Jump Cut“: „Simparele acknowledges the powerful role which Afro-Haitian culture has played in these people’s political struggle as both repository for people’s history and the raw material from which that history can be reconstructed and transformed.“ Die Kultur der Bevölkerung verbindet sich nicht nur untrennbar mit dem Aufstand und der Befreiung aus dem Kolonialismus, sie ist Teil dessen. Die Leitfigur in Simparele ist ein ehemaliger Sklave namens Boukman. Er führt eine Gruppe von Revolutionären an, die in einer Nacht 1791 einen Angriff auf weiße Kolonialisten nahe einer Plantage ausführen. Der Film fasst diese Aktion hingegen in den Bildern eines blutigen Rituals, in dem ein Schwein geschlachtet wird und findet damit zu einer Verschiebung von chronikalen Repräsentationen zu einer eigenen Form. Diamond und Parker schreiben: „The shock of viewing this ritual sacrifice confirms that Solás has abandoned history as written by the rulers in order to confront the viewer with the visceral experience of history for the ruled.“