ray Filmmagazin » Themen » Das Gedächtnis im Moment
Eszter Salamon in Reappearance (2022). Regie: Eszter Salamon. Im Hintergrund Evelyne Axells Gemälde „Le mur du son“, 1966 © Marie Zahir

ImPulsTanz-Festival

Das Gedächtnis im Moment

| Ania Gleich |
Die ungarische Choreografin Eszter Salamon kommt heuer gleich mit vier Arbeiten zum ImPulsTanz-Festival, das vom 11. Juli bis zum 11. August 2024 in Wien stattfindet.

Erinnern ist nicht das passive Zurückblicken auf ein Vergangenes. Nein, es ist eine dynamische Kraft, die sich in der Gegenwart wieder(-holend) zusammensetzt. Erinnerungen sind aktive Rekonstruktionen und formen sich im Brennpunkt jetziger Erfahrungen: Tänzerin und Choreografin Eszter Salamon ändert den Blickwinkel des Vergangenen so, dass sich seine Bewegungen im Jetzt zerstreuen. Das Gedächtnis, das in ihren Performances sitzt, arbeitet im Moment. Damit werden Salamons Stücke zu einer Linse, in der die Vergangenheit auf verschiedene Weise neu verhandelt wird. Das ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival, das vom 11. Juli bis 11. August 2024 stattfindet, bringt dabei gleich vier Produktionen der ungarischen Künstlerin in Wien auf die Bühne und die Leinwand. Von MONUMENT 0.7: M/OTHERS (2019), einer Tanzperformance mit ihrer Mutter, über Reappearance (2022) und Sommerspiele (2023), zwei Film-Hommagen an Grotesk-Tänzerin Valeska Gert, bis hin zu Dance for Nothing (2010), einem Stück, das ganz im Zeichen von John Cage steht.

Werbung
Duett zwischen Mutter und Tochter

Erzsébet Gyarmati und Eszter Salamon: Mutter und Tochter. Zwei Generationen von Frauen, aber auch zwei Tänzerinnen. Salamons Mutter war eine der Pionierinnen in Ungarn, was die Eingliederung von zeitgenössischem und klassischem Tanz als Teil der grundlegenden künstlerischen Ausbildung betraf. In der siebzigminütigen Performance MONUMENT 0.7: M/OTHERS stellt Salamon ihre Mutter sich selbst wie einen Zwilling gegenüber. Die Bewegungen der beiden gleiten in Stille in- und auseinander und lassen Raum für einen Film, der im Auge der Betrachtenden abläuft: Wo steht die Mutter in einem selbst? Wovon löst man sich, und was trägt man weiter? Welche Rolle spielen diese Ähnlichkeiten und Unterschiede? Und: Wie erkennt man die Überlagerungen zwischen zwei Generationen? Das spiegelhafte Spiel auf der Bühne wird vom inneren Dialog begleitet, der sich im Jetzt manifestiert. Dass M/OTHERS Teil der MONUMENTS-Serie ist, ist nicht verwunderlich: Mit ihr will Salamon „spekulative Geschichtsschreibung, ohne das Versprechen einer Teleologie“ betreiben, so Salamon. Es seien „Anti-Denkmäler“, die zu „Gelegenheiten werden, sich dem Vergessen und dem Ausschluss zu widersetzen, mit dem Potenzial, zu transformieren und zu reparieren“ sagt die Choreografin. „So investieren sie in einen Akt der Schaffung von Erinnerung“, erzählt die Künstlerin über ihre Arbeit an den MONUMENTS. Genauso passiert es in M/OTHERS: Die Spuren des Vergangenen kriegen eine neue Bedeutung und werden durch den intimen Dialog zwischen Mutter und Tochter zu einer Bewegung statt zu einem Relikt.

Den vollständigen Artikellesen Sie in unserer Printausgabe 07+08/24

 

Blinde Flecken der Vergangenheit

In früheren Teilen ihrer MONUMENTS-Serie hat sich Salamon mit der Geschichte rund um die deutsch-jüdische Tänzerin Valeska Gert beschäftigt. Die Tanz-Pionierin, Kabarett-Künstlerin und Schauspielerin hat zur Zeit der Weimarer Republik eine Reihe Avantgarde-Stücke konzipiert, die in satirischer bis grotesker Weise damalige soziale Probleme auf den Kopf stellten. Die Unsichtbarmachung dieser Arbeit durch die Nazis und Gerts weitgehende Nicht-Bekanntheit wurden zum Antrieb für Salamon, sich intensiver mit der Künstlerin zu beschäftigen. Anders als andere Tänzerinnen ihrer Zeit, war Gert niemand, die etwas wie eine Schule oder Ausdrucksform begründet hat. Vielmehr trieb sie mit ihrer Arbeit – auch aufgrund ihrer Vertreibung aus Nazi-Deutschland – zwischen der Geschichte. Ihre überlieferten Arbeiten wirken wie Bruchstücke einer Persönlichkeit. Salamon baut daraus Denkmäler, die die poetischen Dokumente von Valeska Gert aufnehmen und nachbilden. Die ungarische Künstlerin nennt ihre Arbeitsweise dafür „Halluzinieren“: „Von Gerts Werk sind nur noch so wenige Elemente übrig, dass meine Idee des Halluzinierens bedeutet, dass ich meine Situation des Nichtwissens über sie anerkenne“, so die Tänzerin 2021 in einem Interview mit Flash Art: Es sei ein Konstruieren mit Fragmenten. 2022 und 2023 entstehen schließlich die von Eszter Salamon produzierten Filme Reappearance und Sommerspiele. Filme, die sich der kollektiven Bequemlichkeit des Vergessens widersetzen. In beiden mimt die Choreografin das Aussehen von Valeska Gert und lässt das Groteske ihrer Arbeit auferstehen. Sei es das Muzeum Susch in der Schweiz (Reappearance) oder das Olympiastadion in Berlin (Sommerspiele) – Salamons nackter Körper kokettiert mit dem Hintergrund, provoziert durch die Bewegung, während ihre Stimme durch den Raum ächzt. „Seit den Anfängen meiner Praxis verwende ich die Stimme in meiner Arbeit, zunächst war sie die Erweiterung der Bewegung und des körperlichen Ausdrucks“, so Salamon im Interview. Später sei die Stimme für die Tänzerin zu einer Möglichkeit geworden, einen Diskurs zu schaffen, der den stummen Körper infrage stellt: „Als ich entdeckte, dass Gert 1920, also ganz am Anfang des modernen Tanzes, mit dem Einsatz der Stimme begonnen hat, hat mich das umgehauen“, erzählt die Künstlerin.

Tanz für Nichts

„Während die Stille als eine Erfindung von John Cage angesehen wird‚ sage ich, dass Gert das Äquivalent im Tanz, die Unbeweglichkeit, in Pause (1920) dreißig Jahre zuvor erdacht hat“, sagt Salamon und bezieht sich damit auf ein Stück, das Gert zwischen Wochenschauen im Kino aufgeführt haben soll. Mit der Erfindung der Stille spielt Salamon auf „4’33“ (1952) von John Cage an, jenes berühmte Stück, in dem der Musiker die Interpreten dazu anhielt, für die Dauer der Komposition nicht zu spielen. Cage hat sich aber auch abseits von „4’33“ viel mit der Stille und dem Nichts beschäftigt. Hier kann die Brücke von Gert zu Cage, und von Cage zu Salamon ausgebaut werden: Die Performance Dance for Nothing ist ebenfalls Teil des diesjährigen ImPulsTanz-Festivals und mit ihr setzt sich die ungarische Choreografin erstmals 2010 ganz konkret mit Cage und seiner „Lecture on Nothing“ (1949) auseinander. Während der sechzigminütigen Tanzperformance, die sie für den Galerieraum im mumok neu adaptiert hat, verbindet Salamon Bewegung mit den Worten und Klängen von Cage. Es wirkt wie eine Hommage an sich selbst, dass Salamon diesmal die noch einmal verlangsamte Aufnahme der amerikanischen Cellistin und Komponistin Frances-Marie Uitti verwendet und wiederholt. Die Leere des Vortrags wird in die Länge gezogen, die Erkundung des Klangs loopt sich zu etwas fast Greifbarem. Dadurch (ent-)spannt Salaman den Bogen zwischen Unbeweglichkeit und Beweglichkeit neu, während sie sprachlich über das Nichts meditiert. Der Tanz für das Nichts wird zu etwas, das einen Raum schafft, wo keiner war.

Weibliche Genealogie

Handeln, Fühlen, Wahrnehmen: Die intersubjektive Zeit und wie man sie empfinden kann, ist das, was Eszter Salamon interessiert. Sie bildet nicht nur den Raum zwischen den Personen auf der Bühne, sondern auch zwischen Bühne und Publikum. Es entsteht ein Zusammensein. Im Zentrum fast aller Arbeiten der ungarischen Künstlerin steht in irgendeiner Form ein Suchen nach diesem Zusammensein, sei es in der Form von Mehrgenerations-Beziehungen oder feministischen Genealogien. Die Subjekte erzeugen ein Sein und Mit-Sein, das alle dazu anregt, einen Zeit-Raum jenseits festgelegter Identitäten zu erforschen. Egal ob Salamons eigene Mutter oder eine historische Figur – die Subjekte werden zu affirmativen Projektionsflächen, die neue Blickwinkel ermöglichen.