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Ho Rui An | Interview

Das Gespenst des Kapitalismus

| Ella Raidel |
Die Kunsthalle Wien zeigt die Ausstellung „The Ends of a Long Boom“ mit neueren Arbeiten des aus Singapur stammenden Künstlers Ho Rui An. Ein Gespräch über künstlerische Recherche und Praxis, über den Horrorfilm und über Denkanstöße durch einen Wechsel der historischen Perspektive.

Für Ho Rui An (geb. 1990) kristallisieren sich an markanten historischen Ereignissen die globalen Entwicklungen der Gegenwart heraus. Politische Schlagworte, Reden und Statements zirkulieren dabei als Textmaterial in seinen essayistischen Arbeiten, Videos und performativen Vorträgen. In der Kunsthalle Wien sind neuere Arbeiten unter dem Titel „The Ends of a Long Boom“ versammelt. Dieser ist eine ironische Referenz an den von den „Futurologen“ Peter Schwartz und Peter Leyden 1997 in der Hipster-Zeitschrift „Wired“ publizierten Essay „The Long Boom: A History of the Future, 1980–2020“, in dem die beiden mit nassforschem Optimismus einen bis 2020 anhaltenden ökonomischen Boom prophezeiten (1999 entstand daraus auch ein Buch). Vor dem Hintergrund eines proklamierten asiatischen Wirtschaftsbooms und dem Postulat des Neoliberalismus als neue Weltordnung wurde ohne Rücksicht auf die lokalen sozialen oder politischen Bedingungen und auf Kosten der Umwelt ein konstantes wirtschaftliches Wachstum verherrlicht, das vor allem dem Westen zugute kommen sollte. Wie sich die geopolitischen Machtverhältnisse vornehmlich in Ost- und Südostasien tatsächlich auswirken, recherchierte Ho Rui An zuletzt unter dem Titel „Asia the Unmiraculous“ (2018–2020). In dem Werkkomplex verdeutlicht er die Auswirkungen der Finanzkrise von 1997, auf die das asiatische Wirtschaftswunder folgte.

In allen seinen Arbeiten sind Metaphern des Unsichtbaren am Werk, veranschaulicht am Handmodell des IMF-Finanzchefs oder mit Mitteln des Horror-Genres, wie in dem mit dem FIPRESCI-Preis beim Internationalen Kurzfilmfestival Oberhausen ausgezeichneten Essayfilm Student Bodies (2019). Der Spuk des Kapitals, von Ho Rui An profund recherchiert, kursiert als Narrativ durch seine Arbeiten, in Form subversiver Untertitel, als elektronische Signale, die Stimmen des Horrors hervorbringen oder als Euromünzen, die dem Sog chinesischer Highspeed-Züge trotzen. In „The Ends of a Long Boom“ präsentiert er nun Arbeiten, die die Wechselbeziehungen von Bildern und Macht demonstrieren, die dem Kontext der Globalisierung und der vorherrschenden Herrschaftsstrukturen entspringen, zirkulieren und verschwinden.

Den vollständigen Artikel lesen Sie in unserer Printausgabe 07 + 08/2021

 

Sie arbeiten mit politischen Texten, Ereignissen und halten Vorträge, die die Grundlage Ihrer Ausstellungen, Objekte und essayistischen Narrative bilden. Sie spüren dabei den geheimen Machenschaften von Wirtschaft, Politik und ihrer globalen Auswirkungen nach. Wie ist Ihre Herangehensweise an die Kunstproduktion?
Ho Rui An:
Ich bin kein medienspezifischer Künstler. Die Arbeit nimmt im Laufe des Forschungsprozesses ihre Form an. Nicht jeder Recherche-Korpus kulminiert, wie manche vielleicht glauben, in einem Kunstwerk, das in einer Galerie gezeigt wird. Der Schlüsselfaktor bei der Bestimmung des Mediums einer Arbeit ist tatsächlich die Art von Aufmerksamkeit, die ich mit meiner Arbeit erwecken möchte. Es besteht eine gewisse essayistische Qualität, auch wenn die Arbeit kein schriftlicher Aufsatz ist, insofern als in der Praxis verschiedene Fragmente entstehen, die in einem breiten Narrativ zusammengefügt werden.

Wir diskutieren heute in Kunst- und Filmuniversitäten, was künstlerische Forschung ist, welche Art von Wissen sie produziert, und wie wir sie von anderen akademischen Disziplinen unterscheiden. Was ist Ihr Interesse am Akademischen, und was beeinflusst Ihre Lecture-Performances?
Über Bilder nachzudenken und zu schreiben, war immer schon ein bedeutender Bestandteil meiner Praxis. Aber erst als ich begann, meine Argumente mündlich vorzutragen, bewegte ich mich auf den Vortrag als künstlerisches Medium zu. Ich persönlich bin nicht besonders begeistert von der Bezeichnung Lecture-Performance als Beschreibung meiner Arbeit, weil ich einer Lecture eigentlich keine performative Dimension hinzufüge; die Lecture an sich ist ja schon eine performative Form. Aus diesem Grund habe ich mich bei der Überlegung über diese Form schon immer eher an einem akademischen, im Besonderen an einem anthropologischen Zugang orientiert, weniger an einem künstlerischen. Für ethnografische Untersuchungen zum Beispiel ist es notwendig, einen dramatischen Bogen zu schlagen, was natürlich ein zutiefst künstlerisches Unterfangen ist. Meine eigene Arbeit konnte ich eher durch Lesen und das Anhören von sogenannten akademischen Vorträgen formen.

Die Ausstellung, die Sie in der Kunsthalle Wien zeigen werden, bezieht sich auch auf Ihren früheren Werkkomplex „Asia the Unmiraculous“. Darin stellen Sie das asiatische Jahrzehnt“ als Zeitraum des Wirtschaftswunders in Frage, welches ja eine Zeit vieler Widersprüche war, deren Auswirkungen noch die Gegenwart überschatten. Bilder dieser Heimsuchungen gibt es auch in Ihrem Film-Essay Student Bodies“, der als Horrorfilm adaptiert ist …
Student Bodies ist eine Weiterführung meiner Recherche zu “Asia the Unmiraculous”, die ich von 2016 bis etwa 2019 durchgeführt habe. Beginnend mit der asiatischen Finanzkrise von 1997 untersuchte ich den breiteren historischen Zeitraum des Wirtschaftsbooms in Asien vor der Krise und auch, was nachher kam. Bemerkenswerterweise war diese Finanzkrise ein Schlüsselfaktor für den Aufschwung des asiatischen Horrorfilms. Während der Krise und in den Jahren danach haben etliche große Produktionsfirmen Bankrott gemacht oder konnten es sich nicht mehr leisten, große Blockbuster zu produzieren. Folglich wandten sich viele von ihnen dem billigsten Genre zu, in dem man produzieren kann, nämlich dem Horrorfilm. Es erfordert die minimalsten Investitionen, um maximale emotionale Wirkung zu erzielen. Es ist buchstäblich ein Genre des Körpers, weil es die körperlichen Reaktionen des Publikums braucht, um sich zu behaupten. Auf der narrativen Ebene lässt sich auch gut interpretieren, wie der Film die gesellschaftlichen Bedingungen nach der Krise reflektiert. Für „Asia the Unmiraculous“ selbst habe ich kein Horrormaterial verwendet. Für mich ist diese Arbeit eher eine Tragikomödie, weil es Teile gibt, die ziemlich lustig, sogar absurd, sein sollen. Student Bodies hingegen ist die Horrorversion desselben Forschungskorpus‘.

„Student Bodies“ hat viele textliche und visuelle Ebenen. Die Untertitel erfüllen nicht den Zweck der Übersetzung des gesprochenen Texts, sondern sind eine eigene Stimme. Das erinnert mich im Besonderen an die Benshi“-Tradition des japanisches Stummfilms, als ein Erzähler vor Ort die Bilder besprach. Während der japanischen Kolonialzeit konnten diese „Übersetzungen“ die Zensur unterlaufen, indem sie abweichende politische Inhalte transportierten. Da gab es immer die Dissonanz zwischen Bildern, gesprochenen Worten und den Übersetzungen. Beziehen Sie sich auf Benshi?
Ich bin tatsächlich fasziniert von der Figur des Kinoerzählers, wie er lange Zeit von Benshi dargestellt wurde. Aber mein Hauptbezug ist eigentlich nicht die japanische Tradition, sondern eine ähnliche Figur, wie sie die thailändische Filmhistorikerin May Adadol Ingawanij im Zusammenhang mit dem ländlichen Thailand während des Kalten Krieges beschreibt. Man nannte diese Leute, viele von ihnen waren Frauen, „Film-Versionistinnen“, also Film-Übersetzerinnen. Während die Benshi schon zu ihrer Zeit als Künstler galten, war die Arbeit der Versionistinnen weniger formalisiert. Sie arbeiteten gewöhnlich als reisende Truppe und brachten Filme, auch viele ausländische, in die Provinzen und Dörfer. Sie bauten ihre eigene Leinwand und den Projektionsapparat auf, manchmal mit Hilfe der Dorfbevölkerung, sodass in diesem Sinne das „Ins-Kino-gehen“ eine ganze Abfolge von sozialen Aktivitäten einschloss, die tief in den Rhythmus des ländlichen Lebens integriert war. Die Rolle der Erzählerin war also eine organischere, die sich zwischen Erzählung, Synchronisation, Kommentar und sogar Kritik bewegte. Mays Forschung war für mich sehr lehrreich, zumindest, was die Konzeptualisierung meines eigenen Standpunkts als lebender Körper neben einer Filmleinwand angeht. Diese Positionalitiät bietet mir verschiedene Register und Herangehensweisen zu den Bildern, die neben mir ablaufen. Ich kann diese Bilder erklären, ihnen antworten, schauen, was dahinter liegt, was am Rande des Rahmens abläuft, was im Hintergrund ist.

In Student Bodies hört man nicht die subjektive Stimme eines einzelnen Erzählers. Alle Texte, die im Film vorkommen, einschließlich der Untertitel, sind Zitate aus verschiedenen Quellen. Abgesehen von den Untertiteln, die die geisterhaften Stimmen, die man hört, übersetzen, gibt es die Zeitschiene, die lediglich das Vorkommen von Geschehnissen oder einer historischen Entwicklung auflistet, aber es gibt keinen Hinweis darauf in der Stimme des Erzählers. Ich wollte die Stimmenvielfalt und die Fragmentierung dieser Darstellungen hervorstreichen und nicht mit meiner eigenen Stimme eine dicht gewobene Erzählung darüberlegen.

Das Spuk- oder Heimsuchungs-Motiv ist in Ihrer Arbeit ziemlich vorherrschend. Was sind die unsichtbaren Auswirkungen des Kapitalismus? Wie erfahren wir seine Heimsuchung?
Es gibt verschiedene Arten wie man über diese Heimsuchungen im Film denken kann die alle mit der „Ambience“ zu tun haben. Die erste ist, dass man Ambience akustisch als geisterhaft konstruieren kann: nicht nur, dass sie aus Geisterstimmen besteht, sondern dass die Atmosphäre selbst aus den Angeln ist. Ambience betrachte ich als etwas, das, genau genommen, weder präsent noch absent ist. Bei der Arbeit am Sound-Design mit Zai Tang haben wir Möglichkeiten diskutiert, wie man Ambience in den Vordergrund bringen kann auf eine Art, die kontra-intuitiv erscheinen mag, insofern, da Atmosphäre gewöhnlich als etwas gilt, das zwar da ist, aber nicht voll als Präsenz registriert wird. Außerdem kann sich Atmosphäre im geschichtlichen Kontext auch auf Stimmen beziehen, die unterdrückt wurden, aber nicht verschwunden sind. Hier ist das Konzept, dass Ambience etwas so Normales ist, dass man es nicht bemerkt. Ich würde sagen, dass der Kapitalismus als notwendigerweise atmosphärisches Element fungiert, das so total in den Hintergrund unseres Lebens assimiliert ist, dass wir nicht bewusst darüber nachdenken müssen, wie wir als kapitalistische Subjekte tatsächlich am Kapitalismus partizipieren.

Die Stimme ist das Horror-Element, und am Ende des Films schält sich noch ein weiblicher Geist aus dem Fernsehschirm heraus. Was ist der Gedanke hinter diesem technologischen Geist?
Das ist ein direkter Bezug auf Nakata Hideos Film Ring (1998), der während der asiatischen Finanzkrise herauskam. Im Film gibt es ein verhextes Videoband, das kopiert und an jemand anderen weitergegeben werden muss, damit die Person, die es betrachtet, nicht sofort stirbt. Er reflektiert eine Reihe von Ängsten rund um die Massenreproduzierbarkeit, die zu dieser Zeit exemplarisch waren. Das führt auch zur erweiterten Frage von Technologie und Massenmediation, mit der sich der Film beschäftigt. Das Fernsehen war auch ein Schlüsselmedium zur Verbreitung vieler Studentenbewegungen, mit denen sich der Film beschäftigt, ebenso wie es der Fotokopierer als Technologie zum Reproduzieren und Verbreiten radikaler Literatur war. Die Mobilisierung dieser technischen Geräte war der Schlüssel für die schnelle Ausbreitung der Studentenbewegungen in der ganzen Welt. Viele dieser radikalen Gruppen in verschiedenen Gegenden der Welt wussten voneinander. Im Falle von Japan war es das Fernsehen, das es ihnen möglich machte, den Ereignissen im Westen 1968 zu folgen, und das erleichterte die Migration einiger Formen und Strategien des Protests über die lokalen Umstände hinaus – manchmal von Japan in den Westen – auch wenn die Anliegen im jeweiligen Umfeld verschieden gewesen sein mögen.

Sie kritisieren und benützen die Medien gleichermaßen, um historische Ereignisse in neuem Licht zu sehen, im Besonderen den asiatischen Wirtschaftsboom. Das Publikum kann Ihrer Provokation in Sachen historisches Neu-Bedenken folgen und über die Rolle der technologischen Globalisierung und des Geschichtenerzählens reflektieren. Wie kann diese Herangehensweise Ihre übergeordneten Absichten in der Forschung und in der Kunstpraxis beeinflussen?
Einer der Gründe für meine Entscheidung, die asiatische Finanzkrise zu untersuchen – darüber wird sogar in Asien heute wenig gesprochen – ist nicht einfach nur, die historische Amnesie zu korrigieren, sondern um die ganze Geschichte des Neoliberalismus durch die Verschiebung des historischen Bezugspunktes seiner negativen Konsequenzen neu zu erzählen. Seinerzeit nahm man an, die asiatische Finanzkrise sei ausschließlich das Ergebnis des schlechten wirtschaftlichen Managements der asiatischen Regierungen gewesen, aber heute ist klar, dass diese Krise aus den tiefgreifenden strukturellen Widersprüchen im globalen System entstanden war. Das war immer der Ausgangspunkt für alle meine Projekte: wie man die Geschichte neu betrachten kann, um die Gegenwart besser zu verstehen. Sehr oft gewinnt man ein völlig neues Verständnis für die heutige Welt, wenn man den historischen Bezugspunkt verändert.