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True Crime

Der andere Blick

| Jörg Schiffauer |
Joe Berlingers ganz spezielle Art und Weise der Auseinandersetzung mit bekannten True-Crime-Fällen eröffnet Perspektiven, die über das eigentliche Sujet weit hinausreichen.

In den Abendstunden des 15. November 1959 ereignete sich in der Nähe von Holcomb, einer Stadt im Westen von Kansas, ein Verbrechen, das in seiner Grausamkeit überregionale Aufmerksamkeit erregen sollte. Das Ehepaar Clutter und ihre beiden fast schon erwachsenen Kinder wurden in dieser Nacht auf ihrer Farm überfallen und ermordet, eine Tat, die das beschauliche Leben in dieser ländlichen Gegend zutiefst erschütterte. Als der renommierter Schriftsteller und Drehbuchautor Schriftsteller Truman Capote einen Bericht darüber las, entschloss er sich, der Geschichte nachzugehen und die Hintergründe dieses ungeheuerlichen Verbrechens zu ergründen. Capote reiste nach Kansas, sprach mit Nachbarn und Freunden der Clutters, den ermittelnden Kriminalbeamten und  nach deren Festnahme auch mit den beiden Mördern Perry Edward Smith und Eugene Hickock selbst. Mittels dieses umfassend recherchierten Materials verfasste Capote den stilbildenden Tatsachenroman In Cold Blood (1965), eine Kombination aus Journalismus und Fiktion, der als Schlüsselwerk des New Journalism gilt und in Sachen True Crime – der bekannte Fotograph Richard Avedon meinte nicht zu Unrecht, Capote habe das Genre begründet – Maßstäbe setzte.

Der Fall der Familie Clutter

Es ist also ein ambitioniertes Unterfangen, dieser Geschichte – basierend auf Capotes Buch setzte Richard Brooks mit In Cold Blood (1967) den zum Klassiker avancierten Film in Szene – ein weiteres Kapitel hinzufügen zu wollen. Doch genau dieser Aufgabe hat sich Joe Berlinger mit der vierteiligen Fernsehserie Cold Blooded: The Clutter Family Murders (2017) gewidmet. Knapp sechs Jahrzehnte nach dem Verbrechen begibt sich Berlinger in Kansas auf Spurensuche – und zwar eine mit vielerlei Perspektiven. In seiner Dokumentation rekapituliert er mit einer präzise komponierten Mischung aus Archivmaterial – darunter originale Tonbandmitschnitte aus den Verhören mit Smith und Hickock –, Interviews mit Zeitzeugen, Aufnahmen vor Ort und einigen sehr dezent eingesetzten Re-Enactment-Sequenzen den Kriminalfall, dessen Aufklärung sowie den Prozess, aber auch die Entstehung von Capotes Buch. Cold Blooded enthüllt neben bekannten Dingen auch durchaus weniger vertraute Aspekte, wenn Berlinger einen Freund von Perry Smith aus gemeinsamer Armeezeit oder einen der Wärter aus dem Todestrakt, in dem die Täter auf ihre Hinrichtung warten mussten, vor die Kamera bekommt. Doch Cold Blooded erweitert den Themenkomplex um eine spezielle Perspektive, indem er Familienangehörige und Menschen, die die Clutters persönlich gekannt haben, zu Wort kommen lässt. Und insbesondere diese Interviews machen deutlich, wie stark diese Tat auch nach so vielen Jahren in Holcomb noch immer nachwirkt. Berlinger gestaltet dies betont unspekulativ, doch mit eindringlicher Intensität – eine schlichte Kamerafahrt entlang jener Straße, die bis zum Haus der Familie Clutter führt, bekommt angesichts der Tatsache, dass die beiden Täter genau jenen Weg genommen hatten, eine beklemmend-authentische Dimension.  Mit dieser vielschichtigen Herangehensweise und dem exakten Einsatz des umfänglichen Materials macht Cold Blooded: The Clutter Family Murders deutlich, warum Joe Berlinger zu den spannendsten Dokumentaristen der Gegenwart zählt.

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Der Fall der „West Memphis Three“

Joe Berlinger, der am 30. Oktober dieses Jahres 60 Jahre alt wird, studierte englische Literatur und Germanistik an der Colgate University, um nach seinem Abschluss einige Zeit in einer Werbeagentur in Frankfurt zu arbeiten. Bald jedoch wandte er sich dem Film zu, erste Erfahrungen sammelte er bei Albert und David Maysles, Leitfiguren des Direct Cinema. Der Einfluss dieser Form des Dokumentarischen findet sich dann auch in Berlingers erster Regiearbeit Brother’s Keeper (1992). Im Zentrum steht dabei der Tod eines älteren Mannes namens William Ward, der mit seinen drei Brüdern in einem heruntergekommenen Haus lebt. Als William, der schon seit geraumer Zeit mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, eines Morgens tot in seinem Bett lag, wurde sein Bruder Delbert verdächtigt, dafür verantwortlich zu sein. Im Polizeiverhör unterschrieb er, der praktisch Analphabet war, ein Geständnis, das sich im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens als höchst problematisch herausstellen sollte.

Der mehrfach ausgezeichnete Brother’s Keeper verweist nicht nur bereits auf Joe Berlingers Vorliebe für True-Crime-Sujets, er markierte auch den Beginn der höchst erfolgreichen Zusammenarbeit von Berlinger und Bruce Sinofsky, die bis zu Sinofskys Tod 2015 eine ganze Reihe von Projekten gemeinsam verwirklichten. Ein Kriminalfall sollte auch den Ausgangspunkt für jene dokumentarische Reihe bilden, die Joe Berlingers und Bruce Sinofskys Ruf begründen sollte und geradezu exemplarisch die Qualitäten ihrer Arbeitsweise illustriert.

Am 5. Mai 1993 wurden drei achtjährige Buben in West Memphis, Arkansas, als vermisst gemeldet. Am nächsten Tagen fand man die nackten Leichen der drei in einem Waldstück mit dem mythisch anmutenden Namen Robin Hood Hills. Die Körper wiesen zahlreiche Wunden auf, einer der Buben war zudem im Genitalbereich verstümmelt worden. Das Verbrechen löste in der Gemeinde – ähnlich wie die Ermordung der Familie Clutter im ländlichen Kansas – eine Art Schockwelle aus, die die ermittelnden Behörden unter Druck setzten. Allerdings gab es kaum verwertbare Spuren. Bald schon verfolgte man die Theorie, die Morde seien Teil eines satanischen Rituals – eine weit hergeholte, absurd anmutende These, doch damit schienen die Schuldigen schnell ausgemacht.

Die Ermittlungen konzentrierten sich auf drei Burschen im Alter von 16 bis 18 Jahren. Sie hatten sich, und vor allem der vermeintliche Anführer Damien Echols, dadurch verdächtig gemacht hatten, dass sie bevorzugt schwarze Kleidung trugen und Heavy-Metal-Bands wie Metallica hörten. Zunächst befragte die Polizei den 17-jährigen Jessie Misskelley, der mit einem IQ von 72 als geistig behindert galt. Nach einer zwölf Stunden langen Befragung, bei der er weder seine Eltern noch einen Anwalt beiziehen konnte, gestand Misskelley, bei der Ermordung der drei Buben dabei gewesen zu sein und nannte Echols und Jason Baldwin als Haupttäter. Obwohl er das Geständnis, das bald in den Verdacht geriet, von den Vernehmungsbeamten mit suggestiven Methoden beeinflusst worden zu sein, widerrief, wurde den drei Burschen der Prozess gemacht.

Berlinger und Sinofsky begeben sich in Paradise Lost: The Child Murders at Robin Hood Hills (1996) auf die Spuren dieses Kriminalfalls und seiner Folgen. Neben Archivmaterial sind es aber vor allem die über Monate vor Ort in der Region von West Memphis entstandenen Interviewsequenzen, die den Kern von Paradise Lost bilden. Bereits bei seiner zweiten Regiearbeit wird ein zentrales Element von Joe Berlingers Herangehensweise offensichtlich, nämlich ein möglichst umfassendes Bild mittels unterschiedlicher Perspektiven zu zeichnen. Zu Wort kommen dabei höchst gegensätzliche Protagonisten wie die Eltern der Mordopfer sowie Verwandte und Freunde der drei Angeklagten; dass dabei völlig konträre Ansichten aufeinander prallen, liegt in der Natur der Sache. Deutlich wird auch, dass es Berlinger – ein wenig wie Werner Herzog in seiner dokumentarischen Arbeit – gelingt, zu den Protagonisten ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, das tiefgehende Einblicke ermöglicht. Die Konzentration auf die Befragten – Berlinger und Sinofsky bleiben stets außerhalb des Bilds, auch ihre Fragen sind nie zu hören, der Fokus richtet sich dadurch nahezu völlig auf die Menschen, die sie zu Wort kommen lassen – generiert höchst intensive Momente, die in ihrer Authentizität auch höchst verstörend erscheinen können. John Mark Byers etwa, Stiefvater eines der ermordeten Buben, ergeht sich am Ort des Verbrechens in einer minutenlangen Schimpftirade, in der er die drei Verdächtigen auf das Übelste verflucht und zur Hölle wünscht. Die Sequenz macht jedoch nicht nur den tiefen Schmerz der Angehörigen deutlich, sie verweist auch auf die vorherrschende Gedankenwelt in einer Region, die von strikter evangelikaler Religiosität geprägt ist (dass sich Byers als ambivalenter Charakter herausstellt, der zeitweilig selbst unter Verdacht gerät, erweist sich als Facette, die die Vielschichtigkeit von Paradise Lost unterstreicht).

Es ist nämlich – und Paradise Lost verdeutlicht das schlüssig – jene nicht gerade weltoffene Atmosphäre, die es zumindest begünstigt, dass drei junge Männer ins Visier genommen werden, weil sie sich für eine Subkultur interessieren, die in West Memphis, Arkansas, als höchst anrüchiges Teufelszeug gilt. Joe Berlinger und Bruce Sinofsky begegnen derartigen Vorurteilen mit einem ironischen Kunstgriff, verwenden sie für den Score ihres Films doch Songs von Metallica – es war übrigens das erste Mal, dass die Band die Erlaubnis gab, ihre Musik für einen Film zu verwenden.

Wie aufgeheizt und teilweise präjudizierend die Atmosphäre war, zeigte sich dann anhand der Prozesse, bei denen sich zunächst Jessie Misskelley und in der Folge Echols und Baldwin verantworten mussten. In beiden Verfahren durfte gefilmt werden, und die dabei gemachten Aufnahmen bilden ein weiteres zentrales Element von Paradise Lost, das durch die ihm innewohnende Gerichtssaaldramaturgie seine eigene Dynamik entfaltet. Obwohl es ein konstituierender Teil von Berlingers Strategie ist, sich seinem Sujet mittels höchst unterschiedlicher Blickwinkel anzunähern und so ein möglichst vollständiges Bild zu zeichnen, verharrt er dabei nicht in einer Art Äquidistanz um jeden Preis. Berlinger und Sinofsky zeigen durchaus Haltung, ohne jedoch propagandistisch zu agieren. 

Allein anhand der Aufnahmen der beiden Prozesse, die in Paradise Lost zu sehen sind, wird evident, dass die Beweislage von forensischer Seite her äußerst dünn war und vor allem die Motivlage – die Morde seien Teil eines satanistischen Rituals – mehr als fragwürdig erschien. Doch ungeachtet aller bestehenden Zweifel wurden Misskelley und Baldwin zu lebenslanger Haft, der 18-jährige Damien Echols zum Tod durch die Giftspritze verurteilt.

Paradise Lost: The Child Murders at Robin Hood Hills erwies sich jedoch nicht nur als zu Recht hochgelobter Dokumentarfilm, er war zu einem nicht unmaßgeblichen Teil auch dafür verantwortlich, dass der Fall im Fokus der öffentlichen Diskussion blieb. Mit Paradise Lost 2: Revelations (2000) beleuchten Berlinger und Sinofsky die weiteren Entwicklungen. Wiederum geschieht dies aus höchst unterschiedlichen Perspektiven. Neben den drei Angeklagten die selbst über ihre Situation sprechen, rücken etwa eine Unterstützergruppe, die für eine Revision der Urteile von Echols, Baldwin und Misskelley, die mittlerweile als die „West Memphis Three“ landesweit bekannt geworden waren, kämpft und der bereits bekannte Mark Byers, der weiterhin vehement die Schuld der Verurteilten beteuert, ins Zentrum. Der mühsame Zug durch die Instanzen des US-amerikanischen Rechtssystems sollte im Fall der „West Memphis Three“ noch Jahre andauern, ein langwieriger Prozess, der mit dem Oscar-nominierten Paradise Lost 3: Purgatory (2011) seinen Abschluss findet.

Berlinger und Sinofsky zeichnen dabei wie von Beginn der Reihe an ein komplexes Bild, das über die höchst präzise Chronologie eines Kriminalfalls hinausgeht. Neben den Auswirkungen emotionaler Natur auf die Angehörigen – sowohl der Opfer als auch der Angeklagten – beleuchten die „Paradise Lost“-Filme auch das gesellschaftliche Umfeld, in dem sich das alles abgespielt hat. Und dabei eröffnet sich über True-Crime-Geschichte ein Blick auf die ziemlich düsteren Seiten der Vereinigten Staaten. Die reichen von enormen sozialen Ungleichheiten – Damien Echols sagt in Purgatory über sich und seine beiden Mitangeklagten: „We were absolutely poverty-stricken white trash“ – bis hin zu einem Klima von kultureller, geistiger Enge und Voreingenommenheit, das durch religiösen Fanatismus gespeist wird sowie von einem Polizei- und Justizsystem, das – vorsichtig formuliert – nicht immer pannenfrei agiert und in dessen Mühlen man gerade als sozialer Außenseiter lieber nicht geraten will. Und die „Paradise Lost“-Reihe thematisiert auch die durchaus ambivalente Rolle, die Medien bei spektakulären Kriminalfällen einnehmen. Eine Rolle, die Joe Berlinger und Bruce Sinofsky auch in Bezug auf ihre eigene Arbeit – deren Einfluss spiegelt sich deutlich anhand von Mark Byers wider, der in Purgatoy nun selbst von der Unschuld der drei Verurteilten überzeugt ist – im Fall der „West Memphis Three“, wo sie von Beobachtern auch zu Akteuren wurden, reflektieren. Vor einem der Gespräche mit Damien Echols im Gefängnis rücken sich die beiden Filmemacher, die sonst strikt hinter der Kamera verbleiben, selbst ins Bild. Das Ende des Verfahrens erfolgte durch eine Extravaganz des US-amerikanischen Justizsystems: Knapp bevor eine Entscheidung über ein Wiederaufnahmeverfahren anstand, bot man den „West Memphis Three“ einen Deal an, den Echols, Baldwin und Misskelley schließlich annahmen: Sie bekannten sich mittels eines sogenannten „Alford Pleas“ schuldig – ein formales Schuldeingeständnis, bei dem der Angeklagte seine faktische Unschuld weiterhin beteuern darf. Damit wurde die drei zu einer Strafe verurteilt, die mit der bisherigen Haftzeit als verbüßt galt. Im August 2011 wurden die  „West Memphis Three“ entlassen.

Der Fall Ted Bundy

Mit einem der berüchtigsten Mörder in der Kriminalgeschichte der USA setzte sich Joe Berlinger gleich zweifach auseinander. Ausgangspunkt für Conversations with a Killer: The Ted Bundy Tapes (2019) sind die titelgebenden Gespräche, die der Journalist Stephen Michaud 1980 im Todestrakt mit Bundy geführt hatte. In vier Episoden rekapituliert Berlinger in einer furios montierten Mischung aus umfangreichem, vielfältigem Archivmaterial und Interviewsequenzen – darunter finden sich so unterschiedliche Protagonisten wie ermittelnde Polizisten oder Carol DeRanch, die einem Angriff Bundys entkommen konnte und Jahrzehnte danach diesen Schrecken vor der Kamera rekapituliert – die Geschichte jenes Mannes, dessen mörderische Untaten Mitte der siebziger Jahre für Entsetzen sorgte.

Conversations with a Killer ist aber nicht nur eine akribische Rekonstruktion eines spektakulären Kriminalfalls, Berlinger setzt diesen in einen breiteren Kontext. Am Beginn der ersten Episode findet sich eine Rede von Präsident Jimmy Carter, in der er von einer großen Vertrauenskrise, die sich in der Bevölkerung ausbreitet, spricht. Eine angesichts des Vietnamkriegs, Watergate, Ölkrise und explodierender Kriminalität wohl treffende Zustandsbeschreibung der US-amerikanischen Gesellschaft. Inmitten dieser um sich greifenden Verunsicherung traf Bundys Mord-serie – er gestand schlussendlich dreißig Morde in einem halben Dutzend Bundesstaaten, Vermutungen zufolge könnte die Zahl jedoch weit höher sein – einen Nerv. Das lag zum einen an der Opferauswahl: Die jungen Frauen, die zum Ziel von Ted Bundys Mordserie wurden, erweckten bei weiten Teilen der Bevölkerung das verstörende Gefühl, das hätte jedermanns Tochter, Freundin oder Schwester sein können. Und da war noch Ted Bundy selbst, der charmante, gut aussehende, wortgewandte Student, Wahlhelfer der Republikaner, der so gar nicht in das Bild eines mörderischen Sexualsadisten passen wollte.

Es gehört zu den besonderen Qualitäten von Joe Berlingers Arbeit, dass er zu einem Sujet wie Ted Bundy, der über die Jahre maximale mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, neue Perspektiven zu eröffnen versteht. Berlingers
dokumentarisch-narrative Strategie besteht darin, umfängliches Material, das sowohl bekannte als auch neue Informationen enthält, mosaikartig zu einem großen, vielschichtigen Bild zu ordnen. Ein Bild, das bei Conversations neben einer präzisen Chronik eines Kriminalfalls auch andere Facetten sichtbar werden lässt, wie etwa den wachsenden medialen Hype und die damit verbundene, etwas morbid anmutende Faszination, die eine Figur wie Ted Bundy auf die Öffentlichkeit ausübte. Mit Bundy etablierte sich der Begriff des Serienmörders, der bald auch zu einem festen Bestandteil der Populärkultur werden sollte.

Joe Berlinger trug dieser Entwicklung Rechnung. Zeitnah zur Produktion von Conversations with a Killer näherte er sich dem Sujet mit einem Spielfilm, der durchaus als komplementäre Arbeit gesehen werden kann. Extremely Wicked, Shockingly Evil and Vile (2019) – der Titel stammt aus der Begründung des Richters von Bundys Todesurteil – nimmt über weite Strecken die Perspektive Elizabeth Kendalls (gespielt von Lily Collins) ein, einer alleinerziehenden Mutter, die in einer jahrelangen Beziehung mit Bundy lebte und von seiner Verhaftung und den Anschuldigungen völlig überrascht wurde. Berlingers Inszenierung des True-Crime-Dramas macht anhand von Elizabeth deutlich, wie der charismatische Ted Bundy so viele Menschen über seine inneren Abgründe täuschen konnte – mit ein Grund, warum die Fassungslosigkeit später umso größer sein sollte.

Die Rolle Ted Bundys erweist sich als wahrer Besetzungscoup: Zac Efron, der mit der höchst erfolgreichen Disney-Produktion High School Musical zum Publikumsliebling avancierte, versteht es, den Charme des mörderischen Soziopathen nuanciert zu verkörpern. Eine Ambivalenz, die durch einen dramaturgischen Kunstgriff verstärkt wird, denn erst ganz am Schluss rückt die Inszenierung eine Gewalttat Bundys für einige Sekunden ins Bild. Dass Joe Berlinger eine Hand für unkonventionelle Besetzungen, die sich aber als höchst effektiv erweisen, hat, zeigt sich auch an einer weiteren Figur: Jim Parsons, bekannt als schrullig-egozentrischer Wissenschaftler Dr. Sheldon Cooper aus der Sitcom The Big Bang Theory, spielt jenen Staatsanwalt, der Bundys Verurteilung erreichte – wie gekonnt Parsons ihn verkörpert, wird deutlich, wenn man die Aufnahmen des Verfahrens in Conversations with a Killer betrachtet.

True-Crime-Sujets machen einen bedeutenden Teil von Joe Berlingers Œuvre aus, doch sein umfangreiches Schaffen erweist sich als höchst vielfältig. Der Dokumentarfilm Crude (2009) setzt sich mit der Klage gegen Chevron wegen Umweltzerstörung bei der Ölförderung in Ecuador auseinander, Tony Robbins: I am Not Your Guru (2016) beleuchtet den kontroversiellen Autor und Motivationssprecher, The Longest Wave (2019) porträtiert Surf-Legende Robbie Naish, und noch mit Bruce Sinofsky setzte Berlinger die in Paradise Lost begonnene Zusammenarbeit mit Metallica in der Dokumentation Metallica: Some Kind of Monster (2004) fort. Vier Jahre zuvor hatte Berlinger mit dem Horrorthriller Book of Shadows: Blair Witch 2 seinen ersten Spielfilm inszeniert, er führte zudem bei einer Episode der stilbildenden TV-Serie Homicide: Life on the Street Regie.  Ohnehin beleuchtet Joe Berlinger anhand von True-Crime-Sujets immer auch dahinter liegende gesellschaftliche Problemfelder. Whitey: United States of America v. James J. Bulger (2014) nimmt den Prozess gegen den berüchtigten Gangster James „Whitey“ Bulger, der in den siebziger und achtziger Jahren als führender Kopf des organisierten Verbrechens in Southside, Boston, galt, zum Ausgangspunkt. Nachdem Bulger 1994 kurz vor seiner Verhaftung untergetaucht war – und erst 16 Jahre später verhaftet werden konnte – wurde immer deutlicher, dass er seine kriminellen Umtriebe auch deswegen so lange entfalten konnte, weil er von Behörden wie dem FBI gedeckt wurde. Ob diese Unterstützung erfolgte, weil Bulger als Informant agierte oder schlichtweg Beamte bestochen hatte, wurde zu einer zentralen Thematik im Prozess, der auch Berlinger nachgeht. Nach und nach wirft der Fall sehr grundlegende Fragen über korrektes Vorgehen im Justiz- und Strafverfolgungssystem auf; die Ansichten dazu sind, wie Berlingers Film deutlich macht, höchst unterschiedlich. Vielleicht bringt Kevin Weeks, einst einer der „Partner in Crime“ von Bulger, die Frage der Suche nach der „Wahrheit“ ganz gut auf einen allgemein gültigen Punkt: „Wenn alle die Wahrheit sagen würden, ergäbe es einen Sinn, aber jeder dreht die Sache zum eigenen Vorteil. Ich denke, das ist menschlich, alle versuchen, die Geschichte ein wenig zu verändern. Keiner wird die Wahrheit wirklich erfahren, bis alle die Wahrheit sagen – die Menschen müssen ihre eigenen Schlüsse ziehen.“