ray Filmmagazin » Dokumentarfilm » Der Anständige

Der Anständige

Der Anständige

| Jörg Schiffauer |

Psychogramm eines Täters

Er war die furchteinflößendste Figur unter Hitlers Paladinen, hatte Heinrich Himmler im Verlauf seiner unheilvollen Laufbahn doch eine einzigartige Machtfülle angehäuft: Reichsführer SS, Chef der Polizei, Reichsinnenminister und Befehlshaber des Ersatzheers. Sein Name wurde zum Synonym für den Terror des NS-Regimes und er war einer der Hauptverantwortlichen für den größten Sündenfall der Geschichte – den Holocaust. Doch die Persönlichkeit Himmlers blieb weitgehend rätselhaft und warf die Frage auf, wie und warum der unscheinbare Mann in wenigen Jahren von einer historischen Randfigur zu einem Jahrhundertverbrecher als gnadenlosen Vollstrecker von Hitlers Rassenwahn werden konnte.

Vanessa Lapa unternimmt den Versuch, sich dem Psychogramm Heinrich Himmlers anzunähern. Grundlage dafür bildet ein Konvolut an privater Korrespondenz, das lange als verschollen galt, jedoch vor einigen Jahren in den Besitz von Lapas Vater gekommen war. Schauspieler lesen Passagen aus Schriftstücken unterschiedlichster Art, darunter Briefe Himmlers an seine Familienangehörigen und deren Schreiben an ihn, aber auch dienstliche Anordnungen des Reichsführers SS. Dabei formt sich das Bild eines altklugen Knaben, der sich dann als Jugendlicher, der selbst nie an der Front war, geradezu schwärmerisch über den Ersten Weltkrieg auslässt und schon in jungen Jahren antisemitische Tiraden anstimmt. Himmler erscheint als Biedermann, der kitschige Liebesbrie an seine Frau – und in späteren Jahren an seine Geliebte – verfasst, jedoch ebenso Befehle, deren bürokratischer Ton in scharfem Kontrast zu ihrem an Unmenschlichkeit nicht zu überbietenden Inhalt steht. Wirklich näher kommt man dem Innenleben Heinrich Himmlers damit allerdings kaum, bestenfalls bestätigt sich Hannah Arendts bekannte These von der „Banalität des Bösen“. Problematisch wird die Auflösung auf der Bildebene. Die gesprochenen Texte werden mit Archivmaterial illustriert, das – auch weil bis Anfang der dreißiger Jahre von dem unauffälligen Heinrich Himmler nur wenige Aufnahmen existieren – manchmal Zeitkolorit vermittelt, über weite Strecken jedoch in Beliebigkeit abrutscht und von einem reißerischen Score unangebracht dramatisiert werden soll. Wie man mörderischen Irrsinn anhand eines Originaltexts bloßlegt, hat Romuald Karmakar mittels eines extremen formalen Minimalismus im Sinn brechtscher Entfremdung in Das Himmler-Projekt vorgezeigt. Im Gegensatz dazu vermag Der Anständige – der Titel leitet sich von Himmlers berüchtigter „Posener Rede“, die auch im Zentrum von Karmakars Film steht, ab – weder eine historische noch eine hinreichend neue psychologische Perspektive zu erschließen.