In der neuen AppleTV+-Serie „Slow Horses“ spielt Gary Oldman einen ausgedienten Spion ohne Stil und ohne Manieren. Ein Gespräch über Charakterrollen, Oscars und über vierzig Jahre im Geschäft.
Er hat Winston Churchill und Lee Harvey Oswald gespielt, kann Pontius Pilatus verkörpern und im nächsten Augenblick Sid Vicious oder Ludwig van Beethoven sein. Für Francis Ford Coppola gab er den Dracula und überzeugte als Vampir ebenso wie als vermeintlicher Serienkiller Sirius Black in den Harry-Potter-Filmen. Ob als Zuhälter und Drogendealer (True Romance), korrupter Polizist (Léon, der Profi) oder exzentrischer englischer Dramatiker (Das stürmische Leben des Joe Orton), Gary Oldman steht jede Rolle gut.
Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, seit er als pensionierter Agent George Smiley in der Verfilmung von John le Carrés Roman „Dame, König, As, Spion“ auftrumpfte. Sein elegant-zwielichtiger Auftritt im Siebziger-Jahre-Look brachte dem britischen Könner damals endlich seine erste Oscar-Nominierung als Bester Schauspieler ein. Ausgezeichnet wurde er jedoch erst 2018, kurz vor seinem 60. Geburtstag, für seine Darstellung des britischer Premierministers in Die dunkelste Stunde über die wenigen Wochen im Mai und Juni 1940, als Churchill das Schicksal seiner Nation im Zweiten Weltkrieg in den Händen zu halten schien.
In der Miniserie Slow Horses begibt er sich nun erneut als Spion auf Spurensuche, allerdings diesmal als ein aus der Form geratener Tyrann, der seine Angestellten drangsaliert und ihnen damit ihr ohnehin trostloses Agentenleben nur noch schwerer macht. Denn der britische Geheimdienst hat für Leute wie Jackson Lamb (Oldman) und seine Abteilung lediglich eine heruntergekommene Außenstelle namens „Slough House“ übrig. Dort landen all jene gescheiterten Agenten und Agentinnen, die sich Fehler erlaubt oder einfach nur Pech gehabt haben, und die nun unter Lambs harscher Führung ihr trübes Geheimdienstdasein fristen. So wie River Cartwright (Jack Lowden), der Enkel eines legendären Spions (Jonathan Pryce), den sein Versagen bei einem Trainingseinsatz zu Fall brachte, noch bevor er sich überhaupt daran machen konnte, in die Fußstapfen seines Großvaters zu treten. Doch als sich die Gelegenheit ergibt, seine Karriere aus dem Sumpf zu holen, zögert er nicht lang. Gemeinsam mit seiner smarten Kollegin Sid Baker (Olivia Cooke) und den anderen Ausgestoßenen stellt er sich der Ignoranz und Geringschätzung der MI5-Führungskräfte aus der Zentrale entgegen, zu denen auch die knallharte Spitzenagentin Diana Taverner (Kristin Scott Thomas) gehört.
Mr. Oldman, Jackson Lamb ist vielleicht die grobste, unhöflichste und unverschämteste Figur, die Sie je gespielt haben. Was hat Ihnen an der Rolle am meisten gefallen?
Gary Oldman: Genau das. Es war ein großes Vergnügen, Lamb zu spielen. Er schaut so aus, als würde er gerade von der Müllhalde kommen, ungepflegt, verschwitzt, mit fettigen Haaren. Irgendwie wirkt alles an ihm klebrig, wie der Fußboden in einem Pub am Morgen nach einer lange Nacht. Und zu der Fassade gehört auch, dass er allen glauben machen will, er wäre nicht nur als Person unausstehlich, sondern würde auch als Leiter der Abteilung nur noch seine Zeit bis zur Rente absitzen. Er tut so, als hätte er längst mit seinem Job als Geheimdienstagent abgeschlossen. Aber natürlich verbirgt sich hinter dem ganzen Chaos und den ungepflegten Manieren ein genialer Geist, der weiterhin aktiv ist.
Es ist nicht das erste Mal, dass Sie eine Figur spielen, die schwierig im Umgang ist, aber gleichzeitig brillant im Kopf. Haben Sie eine Vorliebe für derartige Charakterrollen?
Na ja, sagen wir einmal so: Ich habe es in meiner Laufbahn mit vielen schwierigen Leuten zu gehabt, die alle unheimlich klug waren. Es gibt eine Menge Menschen sowohl im Filmgeschäft als auch am Theater, auf die diese Beschreibung zutrifft. Vielleicht gibt es da eine Verbindung. Und ich bin zwar kein Spion und habe keine Ahnung, was sich tatsächlich hinter den Türen von MI5 abspielt. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass die Geheimdienstwelt ähnliche Charaktere anzieht. Ob ich eine Vorliebe für solche Typen habe, kann ich schwer sagen. Ich war in meiner Karriere immer davon abhängig, was mir angeboten wurde. Und ich denke, ich hatte einfach großes Glück, dass da ein paar großartige Figuren dabei waren.
Gab es jemals eine Rolle, die Sie unbedingt spielen wollen?
Ja, in Hannibal. Ich wollte unbedingt Mason Verger für Ridley Scott spielen. Ich rief ihn an und meinte, ich liebe diese Figur. Und ich bat ihn darum, mich dafür in Erwägung zu ziehen. Gott sei Dank hatte er die Rolle noch nicht anderweitig besetzt.
Sind Sie jemand, der lange braucht, bis er sich für einen Job entscheidet, oder lassen Sie sich einfach von Ihrer Intuition leiten?
Es scheint bei mir in den letzten Jahren einen bestimmen Rhythmus zu geben: Ich bekomme ein Angebot, das meine Phantasie anregt. Dann muss ich jedoch aus irgendeinem Grund zunächst einmal nein sagen und irgendwann spiele ich die Rolle dann doch. Es ist schon merkwürdig. Manche Figuren lassen einen nicht mehr los, wenn man einmal mit ihnen in Berührung gekommen ist.
Ist Jackson Lamb auch jemand, der sich ein Stück weit selbst verachtet?
Ja, ganz sicher. Aber bei jeder Rolle kommt es darauf an, dass man etwas an der Figur findet, dass einem Spaß macht, dass man an ihr mag. Und einen Typen spielen zu dürfen, der zugleich so ungehobelt und befreit daher kommt, war ein großes Geschenk. Anstatt zu sagen „Danke, Sie können jetzt gehen“, sagt er: „Fuck off!“
Kannten Sie die Romanreihe von Mick Herron, auf dem sowohl Ihre Figur sowie die Serie insgesamt beruhen?
Nein, ich kam erst später zu den Büchern. Das Projekt wurde zunächst an mich herangetragen, ohne dass ich die Romane kannte oder das Drehbuch gelesen hatte. Ich wusste grob, worum es geht und dass es sich um eine Serie handelt, die das Spionagewesen mit Verve und Humor auf den Kopf stellt. Dann las ich das erste Buch der Reihe, „Slow Horses“, und war begeistert. Ich dachte mir, wenn das Drehbuch nur halb so gut ist, wie der Roman, bin ich dabei.
Hatten Sie eine konkrete Vorstellung davon, wie Sie die Figur schließlich vor der Kamera gestalten würden?
Ja, es gab ein paar Dinge, die ich mir überlegt hatte. Und einiges davon konnten wir übernehmen. Aber ich sage immer, das ist, wie wenn man versucht, einen Elefanten in eine Telefonzelle zu bekommen. Es bleiben stets auch ein paar Ideen außen vor, die man weglassen muss.
Sie sind seit 40 Jahren erfolgreich im Geschäft. Inwiefern hat sich Ihr Blick auf die Filmindustrie in der Zeit verändert?
Ich stehe seit 40 Jahren vor der Kamera und habe davor schon eine ganze Zeit am Theater gespielt. Und wissen Sie, was das Komische daran ist? Vor ungefähr zehn Jahren wollte ich mich zur Ruhe setzen. Ich hatte das Gefühl, jede nur erdenkliche Emotion gespielt zu haben. Ich dachte, ich hätte alles abgedeckt. Aber das unglaublich Tolle an diesem Beruf ist, dass man plötzlich aus dem Blauen heraus ein Angebot bekommt, das einen buchstäblich wiederbelebt, als hätte man eine Vitalitätsspritze bekommen. Und Slow Horses war so ein Projekt, bei dem man am Ende wieder weiß, warum man diesen Job überhaupt macht und was man damit ganz am Anfang einmal erreichen wollte. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Da ist es wichtig, dass man immer mal wieder daran erinnert wird, worum es geht. Sonst wird man träge.
Wir waren unlängst Zeugen einer chaotischen Oscar-Nacht. Was ist Ihre prägendste Erinnerung, wenn Sie an die Oscars denken?
Wenn man den eigenen Namen hört, ist das mit nichts zu vergleichen. Bei mir waren es Dame Helen Mirren und Jane Fonda, die mir den Preis überreichten. Und Jane Fonda hätte sagen sollen: „And the Oscar goes to…“. Aber weil sie noch ganz Alte Schule ist, öffnete sie den Umschlag mit den Worten: „And the winner is…“. Das ist mir damals aufgefallen. Ich dachte noch kurz, das hätte sie nicht sagen sollen und fand es ziemlich toll. Mir gefiel diese frühere Ausdrucksweise viel besser. Aber dann musste ich auf die Bühne. In dem Moment steht die Zeit für einen Augenblick still. Gleichzeitig geht alles unheimlich schnell. Es ist das Verrückteste überhaupt. Und erst wenn man wieder von der Bühne heruntergeht, wird einem bewusst, dass man einen Oscar in der Hand hält. Ich bin schon viele Male bei der Verleihung dabei gewesen, aber das Publikum von der anderen Seite aus zu sehen, ist schon extrem großartig und einschüchternd zugleich. So ein Oscar ist etwas Besonderes, ganz klar. Ein Freund von mir kam neulich mit seiner Mutter zu Besuch und zeigte auf die Trophäe im Regal. Dann meiner er: „Schau mal hier, Mama, den sieht man nicht so oft.“ Das gibt einem insgeheim das Gefühl, das man etwas im Leben richtig gemacht hat.