„Über die Unendlichkeit“ heißt das jüngste Gestirn im eigenwilligen Kinokosmos des Roy Andersson.
Es spricht für einen Filmemacher, wenn man seine Handschrift schon am zweiten Bild erkennt. Im Vordergrund ein Paar auf einer Parkbank, platziert auf einer Anhöhe zwischen ein paar Büschen. Man sieht nur ihre Hinterköpfe, denn sie schauen nach hinten zum Horizont, wo eine Stadt hingegossen liegt wie ein stilles steinernes Meer unter grauem Himmel. Der Mann hat schütteres Haar und trägt ein lachsrosa Hemd, die Frau eine zart gepunktete, lammweiße Bluse und weiße Pumps. Ein Bein hat sie auf der Bank ausgestreckt, neben ihr eine offene Handtasche. Mit ein bisschen Phantasie sieht es aus, als würde sie ihm gerade sanft in den Hintern treten, aber das wirkt eher wie eine Fußnote.
Das Bild ist streng komponiert, wie das Gemälde eines Meisters aus einer ziemlich düsteren Phase der Romantik. Rückenfiguren wie bei Caspar David Friedrich, gemalt jedoch wie das Tableau Vivant eines Bildes, das es so nie gegeben hat. Tatsächlich gemalt jedenfalls, denn der schwedische Kinokünstler Roy Andersson fertigt die allermeisten seiner Bildhintergründe im Studio an, um sie als phantasievolle Trompe-l’œils, als Trugbilder in seinen Filmen einzusetzen. Die Farbpalette der folgenden Tableaus in Über die Unendlichkeit umfasst übrigens mehr Stufen von beige-braun-erdrot und blau-grün-grau als man in der Welt je gesehen hat. Schon das deutet auf die unendlich nuancierten Mittel ihres Schöpfers hin. In kaum einer Szene seiner Filme wird etwas dem Zufall überlassen, ob sie nun banal oder bedeutsam, komisch oder grausam ist. Andersson arbeitet mit mehreren Methoden, er vermengt Minimalismus, Slapstick und Schock, erzeugt surrealistische Atmosphären, schlägt in der alltäglichsten Situation einen irrealen Haken, verdreht Traum und Wirklichkeit, drischt den Vorschlaghammer der Groteske, des Absurden, der Übertreibung, lässt uns in phantasmagorische Fallen tappen, nur um für die nächste Szene sprichwörtlich zu Nagelfeile und Pudertöpfchen zu greifen, bevor er wieder die Beißzange auspackt. In Über die Unendlichkeit zum Beispiel wird plötzlich ein Mann zu seiner eigenen Kreuzigung gepeitscht. Das Kreuz, welches er tragen muss, trägt er allerdings nicht als Opfer für seine Mitmenschen, soviel wird bald klar. Und Erlösung? Die gibt es in Roy Anderssons Filmen sowieso bestenfalls durch Lachen.
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Was Anderssons Filme nicht haben, ist ein konsistenter Erzählfluss oder eine durchgehende Handlung, und sie haben auch keine Figuren, die durch eine Art emotionaler Entwicklung gekennzeichnet wären. Es sind vielmehr fragmentarische Episoden, überwiegend aus dem Leben gewöhnlicher Leute gegriffen, mehr oder weniger miteinander verbunden. Und diese Leute! Mit ihren aschfahlen Gesichtern und ungelenken Bewegungen kommen sie einem oft vor wie Untote. Wenn sie in einem der Tableaus nicht gerade zur apathisch-passiven Beobachtung oder zum monotonen Mitschwimmen verdammt sind, leiden sie fürchterlich an ihrer Existenz, versinken im Weltschmerz (oder doch nur im Schmerz, den ihre Liebsten oder der Zahnarzt ihnen verursachen). Doch so trostlos ihre Situation auch sein mag, daran etwas zu ändern, sind sie nicht fähig. Zum Beispiel der Pfarrer, die prominenteste Figur in Über die Unendlichkeit: Er hat den Glauben an Gott verloren. In seiner Verzweiflung wendet er sich wimmernd an einen Psychiater, doch der hat einzig im Sinn, den Bus von der Praxis nach Hause nicht zu versäumen. Überhaupt, wenn es nach den jeweils anderen in der Szenerie geht, dann sollen alle diese Heulsusen ihren Tränen allein freien Lauf lassen: ob nun die traurigsten Handelsvertreter, die jemals im Kino Scherzartikel verkauft haben, oder überhaupt das ganze Personal, vom Kellner bis zur Verkäuferin, welches unendlich lange braucht, um einfachste Tätigkeiten zu verrichten und sich furchtbar ungeschickt dabei anstellt. Die Kunden lassen es über sich ergehen oder gehen, schließlich sind es ja selber nur verdrossene Langweiler.
Der bald 77-jährige Andersson ist eine Ausnahmefigur im Weltkino; völlig unbeirrt vom Strom der Mehrheitsfähigkeit hat er über die Jahrzehnte eine ganz eigene Filmsprache entwickelt, sein Vokabular erweitert und seine Grammatik genau austariert. Legendär die Geschichte seiner künstlerischen Langzeit-Erweckung: Nach dem erfolgreichen Coming-of-Age-Erstling Eine schwedische Liebesgeschichte (1970) und dem Misserfolg der eigensinnigen Gesellschaftssatire Giliap (1975) kehrte Andersson dem Kino lange den Rücken. Während er als Werbefilmer lustige Unfallclips für eine Versicherung drehte (und Produktionsmittel ansparte), formten sich in seinem Hinterkopf kontinuierlich die Elemente eines welthaltigen Kinokosmos.
Für den Abschluss seiner Trilogie „über das menschliche Wesen“, nämlich Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach, bekam Andersson 2014 den Goldenen Löwen von Venedig. Niemand kann erklären, warum er ihn für diesen Film gewann, und nicht für den vorigen oder den nächsten. Es ändert ohnehin kaum etwas daran, dass Anderssons Kino viele abschreckt: Unverständlich, langatmig, kapriziös, blutleer, heißt es da zum Beispiel, oder gar zynisch. Es ist eben ein Kino, das viele nicht aushalten: Wenn zum Beispiel die Eröffnungssequenz seines Kurzfilms World of Glory (1991, urspr. schwed. Titel: Schön ist die Erde) die Menschenvernichtung der Nazis durch Gaslastwägen in die Gegenwart gaffender Passanten holt, dann kann man sich schon einmal überfordert fühlen als Zuseherin oder Zuseher. Oder wenn er in Eine Taube sitzt … die Schraube noch weiter anzieht, indem aus den Todesschreien ermordeter Sklaven in einer riesigen Kupferorgel Wohlklänge für ein sektschlürfendes Kolonial-Publikum gedreht werden. Wer solche Gleichnisse nicht erträgt, wem die Kenntlichkeit historischer Menschheitsverbrechen in Anderssons sorgfältig arrangierten Brennspiegeln nicht sichtbar wird, dem entgeht dann auch der bittere Witz und die böse Komik, die er in seinen gestochen scharfen Werken gerinnen lässt.
Geht man in einen Andersson-Film, sollte man sich also bewusst sein, keine Zerstreuung zu kriegen, und sich auf eine Herausforderung konzentrieren – allerdings auf eine lohnende. Um den Glauben geht es in Über die Unendlichkeit, aber eigentlich immer bei Andersson, denn es ist weniger der Glaube an Gott als die Frage der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz, die diesen Filmemacher umtreibt. Wie sinnvoll ist eine Existenz im Wissen um die größten Unmenschlichkeiten, die Menschen einander antun können? Für Andersson ist es so, dass wir alle heute lebenden Menschen dazu angetan sind, im Geiste in ein sibirisches Straflager zu gehen, in ein KZ, zur Sklavenarbeit oder in einen sinnlosen Krieg, so wie es Millionen vor uns tun mussten. Jedenfalls dann, wenn wir nicht verdrängen wollen, was Millionen vor uns erleiden mussten, während wir zum Beispiel darüber jammern, dass ein Schulfreund uns auf der Karriereleiter überholt hat. In seiner Kritik einer erkalteten Wohlstandsgesellschaft ist Roy Andersson übrigens einem Michael Haneke gar nicht so entfernt verwandt, nur seine Handschrift ist eine andere.
Apropos: Es spricht für einen Filmemacher, wenn man seine Handschrift auch am letzten Bild erkennt. Im Fall von Über die Unendlichkeit ginge die Szene auch als echohaftes Werbevideo für eine Versicherung durch und zugleich als Endzeit-Kunstinstallation. Es zeigt einen Mann, dessen Wagen mitten in der gemalten Einöde abgesoffen ist. Er steigt aus, sieht sich den Motor an. Dann dreht er sich langsam um die eigene Achse und sieht sich hilflos in der Gegend um. Schwarzblende.