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Der Film ist ein Spiegel unserer selbst

| Rafael K. Dernbach |

Joshua Oppenheimer hat mit „The Act of Killing“ einen der umstrittensten Filme des vergangenen Jahres gedreht. Der Dokumentarfilm zeigt, wie Männer, die massiv am Genozid im Indonesien der Siebziger beteiligt waren, auch 30 Jahre später noch als Helden gefeiert werden. Und das aus der Perspektive der Täter. Ein Gespräch über Empathie und ihre Grenzen.

Nach einer Vorführung ihres Films auf der Berlinale in 2013 fragte Sie ein empörter Zuschauer, wie Sie einen Dokumentarfilm über einen Genozid aus der Perspektive der Täter machen konnten. Sie antworteten, dass es niemals zu viel Empathie geben kann. Was meinten Sie damit?
Empathie ist kein Nullsummenspiel. Wenn man mit den Tätern mitfühlt, heißt das nicht, dass man weniger Mitgefühl mit den Überlebenden haben muss. Im Gegenteil man hat wahrscheinlich sogar mehr Mitgefühl. Natürlich kann man für sich eine Form der Empathie beanspruchen, die darauf basiert, anderen Empathie zu entziehen. Du hast Mitgefühl mit einer Seite und verurteilst die andere: ganz im Sinne von wir gegen die. Doch das ist selbstgerecht, weil es eher darum geht, die eigene Position anhand eines Feindes zu definieren und nicht so sehr um die Person, mit der du fühlst. Das trifft ganz besonders auf eine Empathie zu, die ein absolutes Außen definiert: Menschen, die keine verdienen.

Welche Rolle spielten diese Arten von Empathie beim Dreh von The Act of Killing? Es ist schwer zu glauben, dass es Ihnen leicht fiel, mit Massenmördern zu arbeiten.
Ich habe mit dem Film angefangen, um ein Regime der Straflosigkeit in Indonesien aufzudecken. Und das im Namen der Überlebenden und der Menschenrechtsaktivisten, die sich für sie einsetzen. Aber als ich anfing zu drehen, kam ich dazu, meine Position zu überdenken. Nachdem ich den ersten Täter gefilmt hatte, bekam ich Besuch von seiner Frau. Der Täter hatte mir beschrieben, wie er Menschen auf unvorstellbare Weise vor den Augen seiner Frau und seiner Enkelin hingerichtet hatte. Diese Frau kam nun zu mir nach Hause mit einem Teller frittierter Bananen als Geschenk für mich. Ich bedankte mich höflich, aber nachdem sie gegangen war warf ich die Bananen weg. Ich wollte ihre Freundlichkeit, ihr Essen, ihre Küche einfach von mir stoßen. Alles was aus dieser Küche kam, war für mich verdorben. Doch meine Reaktion irritierte mich. Mir wurde klar, dass ich mich auf diese Menschen einlassen musste, wenn ich verstehen wollte, wie sie solch furchtbare Dinge tun konnten. So war Empathie etwas, das sich erst im Laufe des Films entwickelte. Ich habe mir geschworen, nie wieder eine andere Person in ihrer Gesamtheit abzulehnen, wie in dem Moment, als ich diese Bananen wegwarf.

Würden Sie zustimmen, dass The Act of Killing ein Film über gescheiterte Empathie ist?
Wenn es eine Sache gibt, die all die Mörder verbindet, die ich getroffen habe, dann war das eine exorbitante Selbstsucht im Moment des Mordes. Wenn man jemanden fragt, warum er gemordet hat, dann wird die Person die Entschuldigungen und die Lügen vorbringen, die sie sich selbst erzählt, um weiterleben zu können. Doch wenn man versucht, diese Lügen abzuschälen, um zu sehen, warum Leute wirklich das erste Mal getötet haben, dann zeigt sich, dass alle, die ich getroffen habe, aus Eigennutz töteten: aus dem Begehren nach Macht oder Geld oder aus Angst, weil sie selbst bedroht wurden. Es hat immer zutiefst mit ihnen selbst zu tun.

Auch das Publikum wird in ihrem Film immer wieder auf die Probe gestellt. Jede und jeder muss sich fragen: „Wie weit geht mein Mitgefühl mit diesen Tätern?“
Natürlich gibt es Momente in denen wir uns mit Anwar [einer der Täter] identifizieren. Dann zerfällt die Fassade unserer Unterteilung der Welt in gute und schlechte Menschen. Wir sind plötzlich dazu gezwungen, zu sehen, dass diese Person, die normalerweise in der Tradition des Kinos fest als schlechter Mensch gesetzt wäre, im Grunde genau wie wir ist. In diesem Moment sind wir dazu gezwungen das Fehlen von Empathie zu sehen, dass so viele Mainstream-Kinofilme ausmacht. All die Filme, in denen wir uns mit den Guten anstelle der Bösen identifizieren. Das ist, wovon ich vorhin sprach: eine Form falscher Empathie, verwurzelt in einer Definition von denen, die außerhalb sind. Eine falsche Empathie, die darauf aufbaut, jemanden auszuschließen.

Sie zeigen im Film auch, wie die Täter ihre Morde aus Kinofilmen kopiert haben. Wie reagierten sie auf die Entdeckung, dass tatsächlich amerikanische Gangsterfilme als Vorbilder für viele der Morde gedient haben?
Als Anwar mir erzählte, dass er Techniken für seine Morde aus Filmen übernahm, musste ich das fünf bis zehnmal filmen, bevor ich verstand, dass er es wortwörtlich meinte. Es war auf seine Art zu perfekt. Ich konnte nicht verstehen, dass er wirklich diese Filme gesehen und ihnen Inspirationen für seine Morde entnommen hatte. Doch selbst nachdem ich es verstand, blieb ich skeptisch. Denn obwohl Anwar sagt, er wäre von Gangsterfilmen inspiriert worden, nennt er als wichtigstes Beispiel ein Elvis-Presley-Musical, dass es ihm erlaubte, durch die Straßen zu tanzen und fröhlich zu töten. Nun sind Elvis-Presley-Musicals nicht gewalttätig. Sie sind einfach nur bescheuert. Und darum geht es viel mehr: Wie wir Geschichten erzählen, um vor unseren bittersten und schmerzlichsten Wahrheiten zu fliehen. Wie wir lügen, um unsere Handlungen zu rechtfertigen, sodass man nicht der schmerzhaften Wahrheit ins Auge blicken muss.

Viele haben The Act Of Killing als Intervention beschrieben, als einen Eingriff in die Geschichtsschreibung Indonesiens. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Der Film ist eine Intervention, aber ich denke, jede genuine Kunst ist eine Intervention. Ich denke, die Aufgabe von Kunst besteht gerade darin, uns dabei zu helfen den schmerzhaftesten und mysteriösesten Aspekten, die uns ausmachenm, ohne Angst zu begegnen. Man lädt Leute ein, ihre schmerzhaftesten, schwersten und hartnäckigsten Probleme zu erkennen und zu artikulieren. Und so hat der Film in Indonesien gewirkt. Er hat dabei geholfen, einen Wandel zu initiieren, wie Indonesien über seine Vergangenheit spricht und wie Indonesier ihre korrupte und gewalttätige Gegenwart verstehen. Sie sind im Stande zu sagen: Halt, diese Korruption und Gewalt rührt daher, dass wir alle Angst haben. Kunst sollte also sein, wie das Kind im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, das auf den König zeigt und sagt: „Schaut, der Kaiser ist nackt.“ Und alle wussten es, aber waren zu ängstlich es zu sagen.

Das erinnert mich an das Zitat von Hölderlin, das ihr Ko-Produzent Werner Herzog jungen Filmemachern immer wieder mit auf den Weg gibt: “Der Dichter darf seine Augen nicht abwenden.“ Können Sie diese Aufforderung nachvollziehen?
Absolut. Das zeigt sich an dem Elvis-Presley-Musical, von dem ich sagte, es sei nicht gewalttätig, aber dumm. Daran zeigt sich die Gefahr von Verleugnung. In The Act Of Killing sehen wir, dass kollektives Verleugnen einen hohen Preis hat. Und dass Verleugnen eine Abwärtsspirale in Bewegung setzt, die letztendlich zu weiterem Übel und Korruption führt. Das betrifft nicht nur die Verleugnung in Indonesien, sondern auch das Verleugnen bei uns. Alles was wir kaufen wird an Orten wie dem Indonesien in The Act Of Killing produziert. Und ein Teil des Preises, den wir zahlen, geht an Schläger wie Anwar und seine Freunde, die Streiks brechen und Leute in Angst versetzen, damit für uns alles billig bleibt. Und das bringt uns zurück zu der Frage der Empathie vom Anfang: wenn wir auf einen Film wie The Act Of Killing mit Sätzen reagieren wie „Oh, diese Männer sind Monster“, dann müssen wir uns der Tatsache stellen, dass wir immer noch auf solche Menschen angewiesen sind. In diesem Sinne müssen wir den Film wie einen Spiegel betrachten, der zeigt wer wir wirklich sind.

Also ist das Streben nach Empathie eine Methode, um mit Verleugnung umzugehen?
Ich glaube, wenn man wirklich mit anderen Menschen mitfühlt, darf man nicht nur deren gute Seiten sehen. Man muss auch sagen: „Ich verstehe, was es bedeutet, Böses zu tun.“ Denn wir alle tun schlimme Dinge. Und wie ist es für eine Person, zu lügen oder sich selbst zu belügen? Wie ist es, furchtbare Handlungen zu rechtfertigen? Was sind die Konsequenzen daraus für ihn und seine Mitmenschen? Wahre Empathie ist also zwangsläufig das Gegenteil von Verleugnung.