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Der Hass ist eine Sackgasse

| Ruslana Berndl |

Das Let’s CEE Filmfestival in Wien (1. bis 11. Oktober) widmet dem jungen russischen Filmemacher Yury Bykov eine Werkschau. Ein Gespräch.

Yury  Bykov, geboren 1981 in Novo Mitschurinsk im Bezirk Rjasan, ist ein russischer Filmemacher, Drehbuchautor, Schauspieler, Komponist und Cutter. Im Jahr 2005 schloss er das renommierte Gerassimow-Institut für Kinematografie (VGIK) in Moskau ab. 2010 entstand sein erter Langfilm Zhit (To Live), 2013 Major (The Major) und 2014 Durak (The Fool), für den er u.a. beim Filmfestival in Locarno mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet wurde.

Sie sind von Beruf Schauspieler, haben früher auch Gedichte geschrieben. Wie kamen Sie zur Regie? Was war der Anstoß?
Ein Bursche aus einem kleinen Provinzstädtchen brauchte einen Fluchtweg aus der sozialen Wirklichkeit. Er beschäftigte sich zuerst mit allem: mit der Musik, den Gedichten. Es ist eine  gewöhnliche Geschichte, ich war einfach das schwarze Schaf in der unbarmherzigen Gesellschaft der neunziger Jahre. Wenn man einige Fähigkeiten hat, so findet man irgendwo so ein Ventil. Ich stamme aus einer armen Familie, meine Eltern sind einfache Arbeiter, ich spielte in einer Schauspieltruppe und so dachte ich, ich werde Schauspieler. Aber ich halte mich nicht für einen Regisseur, im engen Sinn des Wortes.

Sondern?
Ich versuche, mich richtig einzuschätzen. Ich bin ein Mensch, der versucht, sich mit den Mitteln, die zur Zeit am meisten verbreitetet und populär sind, zu äußern. Bücher liest man kaum noch, und predigen wie ein Priester will ich nicht. Ich bin Agnostiker. Ich hatte eine vage Vorstellung und den Wunsch etwas zu verändern, wie es bei jedem beliebigen Schizophrenen der Fall ist. Ich bin nicht sehr klug. Mir schien das Kino eine Methode zu sein, mit der man viele Menschen erreichen kann. Später verstand ich, dass das Kino ein Beruf, ein Handwerk ist. Und das Ziel ist, Menschen zu unterhalten, zu interessieren, nicht zu predigen. Ich fühle mich da noch immer nicht sehr sicher. Die Regie ist für mich vor allem eine Sammlung von Techniken und Griffen, von Wissens.

Sind Sie in Russland bekannt?
Meine Filme sind populär. Ich stelle soziale Fragen. Aber bei den Filmprofis und Kritikern bin ich nicht sehr beliebt.

Warum nicht?
Die Independent-Szene hält mich für einen Emporkömmling, und das ist wahrscheinlich gerechtfertigt, weil ich nicht fähig bin, eine Filmsprache zu entwickeln. Das Einzige, was ich habe, ist meine kompromisslose Lebensauffassung, die  den Zuschauern wohl gefällt. Die Profis sind skeptisch mir gegenüber oder ironisch. Ich weiß nicht, wie ich zu mir selber stehe, es ist meine Arbeit und eine Beschäftigung mit etwas Sinnvollem. Manchmal scheint es mir, dass ich genug verstehe, um mich meiner Präsenz in diesem Beruf nicht schämen zu müssen. Ich glaube, dass ich mit den Zuschauern liebäugele, was sich ein Profi normalerweise nicht erlaubt. Aber da gibt es wohl keine objektiven Kriterien. Das ernsthafte Kino machen laut den Filmkritikern Sokurov, Alexei German jr. und Zvyagintsev. Sie machen aber Filme für sehr wenige Zuschauer.

Fühlen Sie sich von der Filmbranche geächtet?
Ja, irgendwie shcon. Ich war beim russischen Filmfestival „Kinotavr“, da versammelt sich unsere Film-Elite. Ich fühle mich unbehaglich in dieser Gesellschaft. Ich bemühe mich, zu distanzieren. Ich habe meine Nische gefunden. Die elitäre Filmkunst ist für ein sehr begrenztes Publikum. Menschen, die große soziale Probleme haben, schauen sich selten Autorenfilme an. Und meine Filme finden den Weg zu den Zuschauern. Kein einfacher Mensch schaut sich Opfer (1985, Anm.) von Andrei Tarkowskij an.

Für welches Publikum machen Sie Ihre Filme?
Ich mache meine Filme für Russen. Das Interesse für russische Künstler im Westen ist in der politischen Situation, die zur Zeit herrscht, begründet. Man braucht Dissidenten. Und ich weiß noch nicht, ob ich Dissident sein will. In letzter Zeit zweifle ich oft daran, ob ich weitermachen soll, weil ich keine Unterstützung durch das Publikum bekam, für das ich Filme mache. Und auch keine Zahlungen aus dem Westen. Ich habe das Gefühl, in einer Zwangslage zu sein, dass ich zur Marionette wurde.

Wessen Marionette sollten Sie sein?
Vor allem jener Menschen, die eine bestimmte Position haben. Es ist kein Geheimnis, dass bis zu einer bestimmten Zeit, bis zu Leviathan (Film von Andrej Zvyagintsev, 2014, Anm.) alles reibungslos in Russland verlief. Man wusste, das die Independent-Szene vor allem Filme macht, um Preise im Westen abzuräumen.

Was passierte dann?
Als klar wurde, dass ein Film wie Leviathan die Gesellschaft beeinflussen und spalten und ein ernstes Dilemma schaffen kann, wurde das Kulturministerium nachdenklich. Ich denke, jetzt ist Schluss damit. Es gibt keine Förderungen und Wettbewerbe mehr für bestimmte Themen. Es ist noch nicht verboten, solche Filme zu machen, aber vielleicht sind wir nicht mehr weit davon entfernt. Wer möchte sich schon kritisieren lassen, und das noch dazu für das eigene Geld? Ich habe auch ein kompliziertes Dilemma, ich kann mich von dem Milieu, in dem ich geboren und aufgewachsen wurde, nicht trennen. Es bedeutet mir sehr viel, mit allen seinen Licht- und Schattenseiten. Als ich in Locarno von einigen russischen Filmkritikern hörte, was für ein schreckliches Land Russland sei und mit welcher Freude und welchem Eifer sie darüber schimpften, fühlte ich Scham in Bezug auf meine Mutter, die als einfache Krankenpflegerin in einem Entbindungsheim arbeitet. Mir war das peinlich, und ich fühlte mich so beschämt, weil ich als Mensch betrachtet werde, der Russland nicht voranbringt. Das ist mein Dilemma, und ich bin ziemlich verwirrt. Ich wollte einfach Probleme aufwerfen, die Wahrheit zeigen. Im Endeffekt habe ich mich als Dissident erwiesen.

Stört es Sie, Dissident zu sein?
Ich will kein Dissident sein, ich will nicht, dass das einfache Volk glaubt, dass ich es verraten habe, dass ich auf Russland und die russische Kultur pfeife, überhaupt auf die einfachen Menschen in Russland. Die Elite interessiert mich wenig. Sie ist sowieso gebildet und braucht keine Unterstützung.

Ist es nicht seltsam, dass Ihr Film „The Fool“in Russland als Pro-Putin-Film gilt?
Vielleicht deshalb, weil Leviathan und The Fool verglichen wurden. In The Fool wurden die gleichen Helden voreingenommen dargestellt und in Leviathan unparteiisch. Ich muss mit diesem Drama fertig werden, vielleicht habe ich kein Recht dazu, aber so zynisch und kompromisslos (wie in Leviathan, Anm.) kann man Russland nicht als einen toten Raum darstellen, der den Punkt erreicht hat, von dem an es kein Zurück mehr gibt. Ich billige nicht, was die Macht in Russland tut, das, was in Russland geschieht, tut mir unheimlich weh, aber ich stehe nicht mit einem Glas Rotwein an der Côte d’Azur und beschwere mich, dass in Russland alles Scheiße ist. Wenn wirklich alles so schlecht ist und man sich trotzdem für einen Russen hält, muss man ebenso so schlecht leben wie das Volk. Und sich wenigstens bemühen, die Zustände mit ihm zu teilen oder etwas zu verändern.

Sind Sie Kommunist?
Wahrscheinlich bin ich Kommunist. Nicht in dem Sinne, dass man alles aufteilen muss, sondern mich interessieren die Probleme der einfachen Menschen. Bei meinem Vater wird jetzt das Kraftwerk geschlossen, und etwa tausend Menschen werden ihre Arbeit verlieren. Das beschäftigt mich. Ich werde darüber einen Film machen, über die Schließung eines Unternehmens. Ich bin stolz darauf, Russe zu sein. Ich werde jetzt nicht das Übliche erwähnen wie die Heimat von Tschechow, Dostojewski, Tschajkowski usw. Es gibt einfach Menschen, auf die ich stolz bin. Es ist mir nicht peinlich, dass ich Russe bin. Die Eltern sucht man sich nicht aus. Der westliche Lebensstandard ist wunderbar.  Aber wenn man sich mit der Geschichte auseinandersetzt, wird einem klar, wie sehr Nordafrika, Indien, Asien ausgebeutet wurden, damit auf einer kleinen Insel mit dem Namen Großbritannien die Menschen komfortabel leben können.

Verachten Sie die Politik?
Ich verachte die Oligarchen, die Menschen, die durch die Armen reich werden. Ich denke, dass die Politik sich immer weiter von der Menschlichkeit entfernt. Ich mag keine Politiker, noch weniger Oligarchen, weil sie alles regieren. Ich verstehe nicht, warum ein Mensch Milliarden von Dollar braucht. Ich verstehe, dass Putin die Geldströme kontrolliert, die Massenmedien kontrolliert, weil er nicht das Schicksal Ghadafis erleiden will, aber ich verstehe nicht, warum diese Menschen so viel Geld brauchen? Die Gehirne werden durch die Medien gewaschen, eine freie Presse existiert nicht. Wer zahlt, macht die Musik. Ich habe mich damit ausgesöhnt, das es die persönliche Verantwortung für jene Sprache und Kultur gibt, in der ich  geboren und aufgewachsen bin. Ich fühle mich nicht als Weltmensch. Die Heimat wählt man auch nicht. Wo man zur Welt kommt, dort wird man gebraucht. Andere können tun, was sie wollen. Ich habe meine Wahl getroffen: Ich bleibe in Russland. Und selbst wenn es sich in meiner westlichen Festivalkarriere widerspiegelt, egal.

Wie verhält sich die russische Macht Ihnen gegenüber? Mögen Sie die Staatsbeamten?
Wahrscheinlich bin ich ein Narr, der gerne die Wahrheit erzählt, z.B. dass die Beamten stehlen. Und wer weiß nicht, dass die Beamten stehlen? Das hat schon Michail Saltykow-Schtschedrin (russischer Schriftsteller und Satiriker, Anm.) geschrieben. Ich bekomme sogar von Beamten aufrichtiges Lob. Sie sagen, wie toll ich bin, dass ich die Wahrheit erzähle. Sie laden mich sogar zum Trinken ein, ich trinke aber nicht. Sie verhalten sich zu mir wie zu einem begabten, aber nicht sehr klugen Menschen. Wäre ich irgendeine revolutionäre Einheit und fähig, etwas zu ändern, hätte man mich schon längst beseitigt. Boris Nemzow wollte auch etwas ändern, jemand hat ihn aber beseitigt.

Welche russischen Autoren sind für Sie Vorbild oder stehen Ihnen am nächsten?
Rein professionell finde ich Inspiration bei Tschechow und Puschkin. In der Kürze liegt die Würze – wie Tschechow sagte. Ich mag Bulgakow, obwohl er mir ein wenig hochmütig und wie ein Snob vorkommt. Als Mensch am nächsten steht mir Tschechow. Er war Workaholic, mit einer sehr europäischen Denkweise. Ich mag Literatur mit klassischer Konstruktion und Dramaturgie. Ich mag Soschtschenko und Ilja Ilf und Petrow sehr. Und die Kriegsliteratur.

Worin liegt der Sinn des Lebens für Sie?
Ich versuche, die einfachen Grundlagen zu finden: Liebe, Treue, Heimat. Es macht mich krank, wenn man diese Begriffe entwertet, nach dem Motto: Wir sollen nach etwas Neuem suchen, wir sollen uns alle vereinigen, es gibt keine Teilung in Vater und Mutter, Mann und Frau.

Sind Sie sehr konservativ?
Ja, ich bin ein ernsthafter Konservativer, dabei habe ich genügend revolutionäre Ansichten. Ich wurde so erzogen und zweifle nicht an den Werten, die mir die Mutter vermittelt hat. Probleme gibt es dann, wenn man nichts zu beißen hat, wenn man kein Dach über dem Kopf hat, wenn man das Kind nicht in die Schule schicken kann, wenn man keine Existenzsicherheit hat usw. Wenn man hingegen ein Problem damit hat, mit wem man schlafen soll, mit einem Mann oder einer Frau, dann ist das kein Problem. Und wenn man ein solches Problem hat, dann soll man einfach in den Krieg ziehen.

Wie fühlen Sie sich in Moskau als so genannter „Provinzler“?
Mich mag die Moskauer Schickimicki-Szene nicht, weil ich in ein Dorfbursche bin. Ich verstehe nicht, nach welchen Gesetzen diese Konsumgesellschaft in ihrer sinnlosen Existenz lebt, obwohl ich selber ein Teil dieser Gesellschaft bin. Ich versuche aber, sie zu meiden. In Moskau sehen die Menschen nicht die Offensichtlichkeit der Existenz. Was ist der Sinn? Geld zu verdienen, ein Auto zu kaufen, sich eine Freundin zu beschaffen? Es mag sehr pathetisch klingen, aber der einzige Sinn des Menschenlebens ist die Selbstvervollkommnung.

Wer von den Protagonisten Ihrer Filme ist Ihnen am nächsten?
Ich verstehe jede meiner Figuren, aber ich würde nicht sagen, dass der Protagonist, den ich in The Major spiele, mir nahe ist. Ich teile dieses feudale Wertesystem nicht, das Menschen in „unsere“ und „fremde“ teilt. Ich verstehe, warum es dieses System gibt. Es ist so aufgebaut, damit man leichter überleben kann, es gewährleistet irgendeinen sozialen Vertrag, wo die Armen unten sind und die Reichen oben, oder die Starken regieren die Schwache. Was Nikitin aus The Fool betrifft, bin ich nicht so naiv. Ich machte den Film darüber, dass ein Mensch, der gegen den sozialen Vertrag auftritt, alle stört. Ich habe eine komplizierte weltanschauliche Position. Sie ist apathisch. Ich zeige die Ausweglosigkeit und die Paradoxie der Menschen. Ständiges Mitleid dem Menschen gegenüber ist unmöglich. Deshalb wenden sich die glücklichen Menschen vom fremden Unglück einfach ab. Und jene Menschen, die sehr fein das fremde Unglück fühlen, das es in der sie umgebenden Realität gibt, halten das manchmal nicht aus. Deshalb verlassen uns oft die Besten sehr früh, weil sie sich von Schmerz, Übel und Ungerechtigkeit nicht abstrahieren konnten. Ich beneide die Menschen, die in Rubljowka (dem „russischen Beverly Hills“, Anm.) leben. Nichts macht ihnen Sorgen, außer der eigene Wohlstand. So eine Auffassung ist ein Gottesgeschenk.

Warum ist es ein Gottesgeschenk?
Ich dachte früher, dass die größte Gabe eines Menschen sein Talent ist. Jetzt glaube ich, dass es die Fähigkeit ist, den Schmerz anderer Menschen nicht zu bemerken. Wenn man mit dem Gefühl lebt, dass man nur für die eigene Familie Verantwortung trägt. Nach diesem Prinzip existiert eben die Konsumgesellschaft. Es ist eine merkwürdige Gabe. Irgendwo verbrennen Menschen, irgendwo werden Menschen getötet, aber sei’s drum! Es ist nur wichtig, dass ich einen Platz an der Sonne habe. Ich verstehe, warum die breite Masse des Volkes sich anpasst. Diese Masse hat keine inneren Probleme mit der Realität, nur das Dach über dem Kopf ist interessant. Deshalb denke ich, dass die Empfindung, den fremden Schmerz zu fühlen, eine Last ist und keine Gabe.

Glauben Sie an Gott?
Für mich besteht die Frage nicht, ob es Gott gibt oder nicht. Die Frage ist, ob er böse oder gut ist. Wenn der höchste Wille so wie das kalte Universum ist, indem es das Gewicht und das Gegengewicht gibt, Aktion und Reaktion wie in der Tierwelt, wo der Starke den Schwachen auffrisst, dann ist es traurig. Und wenn Gott gut ist, dann gibt es die Hoffnung darauf, dass das höchste Wohl und der höchste Sinn doch existieren.

Mir scheint aber, dass es ein absolutes Gut sowie ein absolutes Übel gar nicht gibt. Es gibt so viele Farbtöne.
Den Farbton gibt es nur, wenn der Mensch für das Glück geboren ist. Und der Mensch kann sich glücklich fühlen, wenn er keinen Schmerz verursacht und wenn ihm kein Schmerz verursacht wird. Das ist eigentlich die Grundlage des Humanismus.

Wenn ich Ihre Filme anschaue, scheint mir, dass es keinen Lichtstreifen mehr gibt – wie in „The Fool“. Nach Solschenizyn, zum Beispiel, bleibt immer das Gefühl, dass das Leben wunderschön ist. Sie sind damit einverstanden, dass Sie keine Hoffnung geben?
Solange es glückliche Menschen auf der Erde gibt, gibt es Hoffnung. Die Frage besteht nicht darin, ob es einen Ausweg gibt oder nicht. Mein Standpunkt hat keine außerordentlich große Bedeutung, weil ich nicht die letzte Instanz bin. Wenn einer keinen Lebenssinn sieht, so ist das nur sein Problem. Es ist eine Frage des Willens, der Arbeit, der inneren Bemühung, es ist die Frage der ernsten Beziehung zur eigenen Existenz.
Früher stand ich sehr skeptisch zur Aussage, zu leben sei schwieriger als zu sterben. Ab einem bestimmten Moment verstand ich, dass es schwieriger ist, zu leben, zu glauben,  zu arbeiten. Die Frage des Glaubens ist wahrscheinlich die Hauptfrage. Ich spreche jetzt nicht über Religion. Die Religion ist die Etappe der Aneignung, wo die Menschen versuchen zu verstehen, wofür sie leben. Weil sie irgendwie verstehen, dass das Kleinbürgertum nicht alles ist. Ja, sich aufopfern ist furchtbar, bei einigen funktioniert es spontan und organisch, weil in der Genetik die Kraft des Geistes gelegen ist. Ich zum Beispiel bin ein feiger Mensch. Der Sinn besteht darin, dass man die eigene Empfindung der Sinnlosigkeit überwinden muss. Das Leben hat sich jemand sehr Vernünftiger ausgedacht.

Sie erlauben Ihrem Major, Gewissensbisse und Zweifel zu haben, aber nicht, nach seinem Gewissen bis zum Ende zu handeln.
Er bekommt ein Ultimatum: er oder seine Familie. Es geht um reine Männerpsychologie. Die Frau, die das Kind und den Mann verloren hat, hat keine Zukunft. Und er muss für die Familie, für das neugeborene Kind Verantwortung tragen. Er trifft eine komplizierte, aber meiner Meinung nach die einzig richtige Entscheidung. Ja, der gewöhnliche Zuschauer wünscht sich, dass er bereut, sich erschießt, aber das wäre wie im amerikanischen Kino. Es geht nicht um den  Wunsch, ein guter Mensch zu bleiben, sondern darum, was aus der Notwendigkeit des Lebens hervorgeht. Die Chirurgen schneiden auch das Bein ab, wenn es eine Gangräne gibt. Der Protagonist hat versucht, unkonventionell zu handeln. Es gibt da keine Moral und Sittlichkeit.

Es geht um die feudale Einrichtung der Gesellschaft, sowie die Ritter und deren Vasallen, die das eigene Territorium schützen. Wenn sie auf fremdes Territorium kommen, vergewaltigen und töten sie Frauen und Kinder. Man entmenschlicht sie, dann kann man sie töten.

Diese Situation ist im Prinzip archetypisch, und es geht nicht darum, ob man damit zurecht kommt oder nicht. Sondern um die Frage, was soll man tun, damit sich das System der Werte ändert, es soll sich wie in der ärztlichen Praxis ändern. Der Arzt hat kein Recht, dem Kranken nicht zu helfen.

Sie zeigen Pascha Korschunow im „Major“, der mehrere Personen tötet, als positiven Helden.
In dem Koordinatensystem, in dem er lebt, ist er der positive Held. Es ist das ewige Problem der Beziehung zwischen Kreon und Antigone. Der Mensch, der gezwungen ist, die Gesellschaft in einem bestimmten sozialen Rahmen zu halten, verfügt über keine Moral oder Sittlichkeit. Wenn Antigone fragt, wie man in einer Welt leben kann, in der es keine ideale Moral gibt, antwortet Kreon, dass man das Schiff, wenn es durch den Sturm fährt, in eisernen Handschuhen halten muss, sonst geht es unter. Pascha versteht, dass in jenem System, in dem er sich befindet, alles so gestaltet ist. Und dort kann keine Sentimentalität auftreten, sonst wird das System zerstört. Das ist der Ausdruck der Vernunft, wenn er sagt, hätte ich sie gleich getötet, gäbe es keine anderen Tode. In Wirklichkeit stellt uns das Leben manchmal vor die Auswahl, das man das kleinere Übel begehen muss, um größeres Übel zu verhindern. Und in diesem Sinn ist Korschunow der Mensch, der versteht, dass die Welt so gestaltet ist. Dass es keinen Platz für eine gewöhnliche Menschlichkeit gibt. Jetzt flüchten die Migranten nach Europa. Die Menschen in Europa gehen mit Plakaten hinaus: Wir geben euch unser Haus. Wie lange wird es dauern? Bis die Moslems neben Notre-Dame ihre Häuser zu bauen beginnen? Wohl kaum. Toleranz kann nicht grenzenlos sein.

Im „Major“ versucht der Held, die Situation zu verbessern und macht sie noch viel schlimmer? Hatten Sie ein alternatives Ende für diesen Film?
Ich verstehe, dass jedes beliebige Happy-End in einer ähnlichen Geschichte der offensichtliche Höhepunkt wäre. Aber das Drama ist deshalb Drama, um vom Anfang bis zum Ende Drama zu sein. Das alternative Ende hatte nicht ich, sondern die Filmverleiher, wo alle heiraten, einander verzeihen usw. Ich mache Filme überwiegend darüber, was nicht geschehen soll, über Ereignisse, die sich unvermeidlich so gestalten, wenn sich das System nicht von Grund auf ändert. Allein der Wunsch, mit anderen Menschen Mitleid zu haben, ist die einzige Hoffnung, die Menschen retten kann. Der Hass tötet alles. Und das Verzeihen gehört auch zu dem Wesentlichen.

Warum gibt es in Ihren Filmen so viel Gewalt, insbesondere die psychologische, die noch stärker wirkt?
Ich muss die Farben kräftig malen, um zu sagen: Wenn die Situation sich weiter so entwickelt, dann ist es bald aus. Ich muss maximale Wirkung erzielen, damit das Gefühl entsteht, dass alles in den Hades fährt, deshalb geschieht das bei mir im Laufe von sehr kurzer Zeit und sehr ungestüm.

Ihre Filme sind sehr maskulin und Ihr Blick auch.
Der Mann hat keine konkrete Verantwortung. Der Mann macht die Welt so, wie sie ist, er macht die Klasseneinteilung, er schafft alle sozialen Probleme usw. Alle Männer versuchen einander zu zeigen, wer stärker ist, wessen Auto größer ist – und nicht nur das Auto … Es ist eine Männergesellschaft. Obama versucht, Putin zu beweisen, dass er cooler ist, und Putin versucht, es Obama zu beweisen. Die Frauen gebären inzwischen die Kinder und machen nichts Böses.

Sie rebellieren gegen das Übel, aber am Ende versöhnen sich Ihre Protagonisten mit dem Übel. Ich spreche jetzt von „To Live“ und „The Major“.
Es gibt Situationen, wo Moral bedeutet, eine Untat zu begehen, damit kein größeres Übel passiert. Ich machte meine Filme über Geiseln des Systems. Diese Menschen sind nur das Begleitpersonal des Systems und nicht dessen Begründer. Ich fürchte, es ist eine sehr tiefe und komplexe Frage: die Frage der Geografie, der ausgeprägten Mentalität und so weiter.

Es ist nichts gelungen, das kann man sich auch nicht einreden. 150 Jahre nach der großen französischen Revolution marschierten die Deutschen durch Frankreich im Parademarsch. Was war aus Toleranz, Freiheit, Menschenrechten, Aufmerksamkeit für die Menschen geworden? Und in Russland sind die Deutschen liegen geblieben, dabei war er das unentwickelte asiatische Land. Leider ist die Welt pragmatisch und real. Man darf nicht schwach sein. Jemand sagte einmal, der Schwache kann nicht frei sein. Das merke ich mir für mein ganzes Leben. Diese These wird in meinem nächsten Film weiterentwickelt. Ja, ich begrüße Toleranz und Moral und allgemeine humanistischen Prinzipien. Aber der Schwache kann nicht frei sein. Wenn Sie keine Willensstärke haben, mit den Menschen, die Ihnen ihren Willen aufdrängen wollen, zu kämpfen, werden Sie niemals frei sein. Oder Sie gehen nach dem Prinzip des Christentums vor: Demut und Duldsamkeit. Ich fürchte aber, das Ganze ist nur eine Legende. Mit den Prinzipien von Christus haben die Kreuzritter den halben Osten ausgerottet.

Es gibt keine Ästhetik ohne Ethik, sagte die französische Nouvelle Vague. Sind Sie damit einverstanden, dass Ihre Kunst mit Ethik eher wenig zu tun hat?
Meine Filme machte ich auf einer misanthropischen Grundlage. Natürlich leide ich als Künstler und Autor, dass es keine allgemein gültige Moral und Sittlichkeit gibt. Ich habe keinen Film gemacht, der der Liebe zum Menschen gewidmet ist. Ich machte alle meine Filme ausgehend davon, dass mir etwas am Menschen nicht passt. Aber ich kann Ihnen sagen, dass Andrey Zvyagintsev viel misanthropischere Filme machte. Wie Leviathan und Elena.

Gibt es irgendwelche Parallelen von Ihrem „Fool“ mit F. M. Dostojewskis „Idioten“? Zwischen Ihrem Dima Nikitin und Fürst Myschkin?
Mich interessiert der Mensch, der eine Seele hat. Ich äußere jetzt einen furchtbaren Gedanken, aber mir scheint, dass Myschkin keine Seele hat. Myschkin ist irgendeine ausgedachte, pathologische Persönlichkeit. Dima Nikitin ist ein sehr seltsamer Protagonist, aber er ist real und echt.

Ist Ihr Protagonist der Märtyrer oder der Held?
Natürlich ist er der Märtyrer, der Narr, er kann nicht anders. Er ist der normale harmonische Mensch, er ist Antigone, im Grunde genommen, und er könnte mit dem Gefühl sich selber zu verraten, nicht mehr leben.

Machen Sie Ihre Filme mehr aus Hassgefühl oder doch aus Liebe?
Ich stelle mir diese Frage natürlich. Ich glaube, dass ich diese Filme aus Hass gemacht habe, auch The Fool – aus Hass gegenüber der Gesellschaft, die mich benachteiligt hat. Es sind drei Filme aus einer einer einzigen Haltung heraus. Ich machte diese Filme aus dem Gefühl der absoluten Hoffnungslosigkeit, aus dem Gefühl, dass es nichts gibt, wofür es sich zu leben lohnt. Damals trank ich, und jetzt seit eineinhalb Jahren nicht mehr. So zu leben, mit einem solchen Hass auf die Umwelt, das will ich nicht mehr. Das ist eine Sackgasse.

Warum muss Ihr Narr sterben? Hat es Sie nicht gereizt, ihn am Leben zu lassen?
Es hat einen Versuch gegeben, dem Film ein positives Ende zu geben. Er hätte in der Früh auf das Dach laufen und alle wecken sollen. Er stirbt aber wegen seiner Weltanschauung, die man ganz einfach formulieren kann: maximalistisch und burschikos. Er ist  auch sorglos. Er will etwas sagen, er hat irgendeinen Eifer, aber er denkt nicht über die Folgen nach. Später habe ich verstanden: Wenn der Mensch länger lebt, beginnt er das Leben mehr zu schätzen, er fürchtet sich mehr vor der Sinnlosigkeit, vor dem Tod, davor, Liebe und Hoffnung zu verlieren. Ich wollte das zuspitzen, verschärfen, wahrscheinlich, weil ich den Preis dafür einfach nicht kannte. Ich hatte eine sehr harte Position in Bezug auf die Realität.

Ist der Narr der Gerechte, auf dessen Schultern das ganze Dorf ruht? Ist das Glück in unseren Händen?
Nein, ein Mann allein kann das Feld nicht behaupten.