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Der Junge im gestreiften Pyjama

Der Junge im gestreiften Pyjama

| Walter Gasperi |

Der Holocaust, erzählt aus der kindlichen Perspektive eines deutschen Buben.

Im Mittelpunkt von Mark Hermans Verfilmung von John Boynes gleichnamigem Bestseller steht der achtjährige Bruno. Mit seiner Familie übersiedelt er von Berlin in die Provinz, wo sein Vater, ein SS-Offizier, eine leitende Funktion in einem Vernichtungslager übernimmt. Als leidenschaftlicher Forscher beginnt Bruno die Gegend zu erkunden und trifft an einem Stacheldraht auf den gleichaltrigen Shmuel. Langsam entwickelt sich zwischen dem adrett gekleideten, perfekt gescheitelten Bruno und dem kahl rasierten, gestreifte KZ-Kleidung tragenden Gegenüber, freilich stets getrennt durch den Zaun, eine Freundschaft, die auch Brunos Glauben an die moralische Integrität seines Vaters erschüttert. Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind klar gezogen, differenziertere Konturen gewinnen die Figuren kaum und die Handlung an sich mag unglaubwürdig sein. Doch Herman geht es nicht um Realismus, sondern vielmehr um eine Parabel über das Grauen des Holocausts. In der Austauschbarkeit von Bruno und Shmuel wird die Widersinnigkeit und Künstlichkeit jeglicher rassistischer Gedanken eindringlich vermittelt. Nur mit den Augen Brunos blickt der Zuschauer auf das Lager, sieht andere Insassen nur im Hintergrund, hört das Schreien eines Aufsehers oder sieht aus der Ferne den aus dem Kamin aufsteigenden Rauch, der von den Nazis mit dem Verbrennen von Kleidern erklärt wird. Langsam, aber sich kontinuierlich steigernd schleicht sich so das Grauen ein. Auszumalen, was wirklich im Lager abläuft, überlässt Herman wohlweislich lange Zeit der Fantasie des Zuschauers.

An einer Durchleuchtung des NS-Systems, wie sie Theodor Kotulla in seiner in der Nüchternheit und Genauigkeit meisterhaften Nachzeichnung des Lebens des Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, in Aus einem deutschen Leben (1977) lieferte, ist Herman nicht interessiert, seine Inszenierung konzentriert sich ganz auf die emotionale Ebene. Mit einer flüssigen, allerdings auch sehr glatten Hollywood-gemäßen Erzählweise und exzellenten Kinderdarstellern vermag er zu bewegen und durch die neue Perspektive und den ungewohnten Zugang speziell ein jüngeres Publikum zum (erneuten) Nachdenken über dieses Massenverbrechen anzuregen. Entschieden zu dick wird nur im Finale aufgetragen, wenn Herman den Blick von Außen aufgibt und zu Gewittergrollen und aufdonnernder Musik den kleinen Protagonisten und damit auch den Zuschauer ins Lager führt und dem nicht abbildbaren Grauen durch die Visualisierung einen Teil seines Schreckens raubt.