Elvis rockt Cannes, und ein Außenseiter bringt Bewegung in den Wettbewerb.
Zwölf Minuten. Soviel Zeit muss sein. Für den „King“ allemal. Zwölf Minuten lang feierten sie ihn, oder besser: Baz Luhrmanns Biopic Elvis am Mittwochabend im Grand Théatre Lumière mit Standing Ovations. Damit übertraf Elvis selbst die Reaktion auf Top Gun: Maverick, der genau eine Woche zuvor das riesige Premierenkino zum Beben gebracht hatte. Und der Applaus galt auch diesmal weniger dem Regisseur als dem Star des Films: So wie Tom Cruise für sein äußerst cooles Comeback als rebellischer Kampfpilot gefeiert wurde, verneigten sich die Zuschauer diesmal vor dem Hauptdarsteller Austin Butler, der im Film nicht nur den Hüftschwung des größten Showstars aller Zeiten fehlerfrei beherrscht. Jede noch so kleine Geste hat er einstudiert. Sogar die Haartolle sitzt perfekt.
Dass Luhrmanns Elvis insgesamt nicht einmal annähernd einen ähnlichen Grad an Vollkommenheit und Exzellenz erreicht, spielt dabei nicht die entscheidende Rolle. Keinem Film, keiner Bühnenshow ist es bisher gelungen, das Phänomen Elvis Presley in eine feste Form zu pressen. Und vielleicht ist allein der Versuch zum Scheitern verurteilt. Aber Luhrmann, das muss man ihm lassen, hat zumindest ein großherziges, schwungvolles Musik-Epos geschaffen, das in jeder Einstellung phantastisch ausschaut und mit Tom Hanks in der Rolle des berüchtigten Elvis-Managers Colonel Tom Parker auch dramatisch für einen gewissen Grad an Spannung sorgt. Sein Hauptanliegen, darin liegt das Problem und zugleich der Reiz des Films, gilt wie immer dem Spektakel, dem Glitzer und Glamour sowie den Schattenseiten einer Biografie, die für einen sensationsliebenden Regisseur wie ihn keine Wünsche offenlässt. Daher überrascht es auch nicht, dass Elvis von der ersten bis zur letzten Minute überladen wirkt und keinerlei Zeit darauf verschwendet, auch nur ansatzweise einen eigenen narrativen Rhythmus, geschweige denn eine Tiefe zu finden, die der komplexen Geschichte um den King und sein toxisches Verhältnis zu Parker neue Facetten abgewinnen würde.
Einer, der zwei Tage zuvor dagegen völlig zurecht wild auf dem roten Teppich auf und ab tänzeln durfte, weil ihm gelungen ist, was Luhrmanns Film abgeht, ist der amerikanische Dokumentarfilmer Brett Morgen. Moonage Daydream, der vom Festival im Rahmen des Jubiläumsprogramms als Mitternachtspremiere präsentiert wurde, ist eine phantastische filmische Collage, in der Morgen dem wahren „King of Pop“, David Bowie, ein absolut treffliches Denkmal setzt. Mit Zugang zu Bowies eigenen Archiven und bisher unveröffentlichtem Live- und Interviewmaterial bleibt seine Dokumentation dem vielseitigen Genie in jeder Sekunde treu. Denn auch wenn die Musik stets im Vordergrund steht und die Tracks voll und laut und oftmals in Live-Versionen ausgespielt werden, nimmt sich Morgen die Zeit, nach der Wahrheit hinter dem Erscheinungsbild sowie den vielen Wandlungen des Künstlers und Menschen Bowie zu forschen.
Im Wettbewerb geht es dagegen auf die Zielgerade zu, und bisher fehlt der ganz große Palmen-Kandidat, auf den an der Croisette alle immer hoffen. Ein Film wie Titane oder Parasite, der einen umhaut und unter der Presse vor Ort für Euphorie und Aufregung sorgt. Weder David Cronenbergs Body-Horror-Remake Crimes of the Future noch Claire Denis‘ erotisch aufgeladenes politisches Drama Stars at Noon vermochte das Fachpublikum tatsächlich in Begeisterung zu versetzen, obwohl auch keiner der Filme auf ganzer Linie enttäuscht. Cronenberg drehte Crimes of the Future zum ersten Mal im Jahr 1972. Das Original ist ein verstörendes Werk über eine Seuche, die alle geschlechtsreifen Frauen tötet. Der Film war transgressiv und schockierend, was man von der Neuauflage leider nicht behaupten kann, obwohl viele der Themen, die zur Sprache kommen, die gleichen sind. Wir befinden uns in der Zukunft, in der sich der menschliche Körper verändert hat. Die Chriurgie ist zu einer Form der Unterhaltung geworden, wobei der Performancekünstler Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux) zwei ihrer hochmodernen Vertreter sind. Saul lässt neue Organe in seinem Körper wachsen, die Caprice anschließend vor Publikum entfernt. Um das enigmatische Paar strickt Cronenberg verschiedene Handlungsstränge, die jedoch allzu oft ins Leere laufen. Crimes of the Future ist deshalb trotzdem kein schlechter, aber ein bisweilen lähmender Film, und der beste Beweis, dass Star-Power und ein paar kluge Ideen auch in den erfahrensten Händen noch lange kein Meisterwerk garantieren.
Ähnlich verhält es sich auch mit Stars at Noon von Claire Denis, wobei die französische Regisseurin mit etwas mehr Feingefühl an ihre Verfilmung von Denis Johnsons Roman aus dem Jahre 1986 herangeht. Auch sie hat mit Margaret Qualley und Joe Alwyn charismatische Hauptdarsteller und weiß den mittelamerikanischen Schauplatz der Handlung gekonnt in Szene zu setzen. Man fühlt sich auch bei ihr nicht selten an ihre früheren Arbeiten erinnert, die, wie etwa White Material, in Teilen Afrikas gedreht wurden, wo die Hitze die Sinne verwirrt. Niemand fängt dieses Gefühl drückender Feuchtigkeit so ein wie Denis, und niemand hat die Figuren zugleich so fest im Griff, dass sich damit automatisch eine allgemeine Atmosphäre der Gefangenschaft einstellt. In Stars at Noon mögen die Themen offener auf der Hand liegen, und doch bleibt ihre Art zu erzählen immer reizvoll. Nur leider hinterlässt auch ihr Film am Ende ein Gefühl der Unzufriedenheit, erweist sich die Geschichte als zu dünn und die Konzentration auf die Stimmung zu oberflächlich um nachhaltig zu wirken. Beinahe scheint es so, als hätte sich Denis allzu sehr darauf verlassen, dass die Schwüle auf der Leinwand auch die Sinne der Zuschauer benebelt.
Viele hofften, die beiden großen asiatischen Meistern Kore-eda Hirokazu und Park Chan-wook würden diesen Wettbewerb aus der Mittelmäßigkeit heben, und im Großen und Ganzen gelang es ihnen auch. Vor allem Park ist, wenn man der vom Branchenblatr „Screen International“ initiierten Kritiker-Umfrage Glauben schenken will, auf dem besten Weg, mit seinem einnehmenden Mystery-Crime-Drama Decision to Leave am Samstagabend den Hauptpreis zu gewinnen. Allerdings ist ihm sein japanischer Kollege Kore-eda, der bereits 2018 die Goldene Palme für Shoplifters gewann, mit Broker dicht auf den Fersen. Beide Werke sind hervorragend besetzt, konzipiert und inszeniert, nur fehlt auch ihnen schließlich der Parasite-Effekt, der Moment also, bei dem man aus dem Saal kommt und weiß, dass man gerade einen zukünftigen Klassiker des modernen Kinos gesehen hat.
Ein Außenseiter könnte die Jury allerdings auch noch in ihrer Entscheidung beeinflussen: Close von dem Belgier Lukas Dhont, der 2018 mit seinem Spielfilmdebüt Girl über eine Transgender-Ballerina in der Sektion Un Certain Regard für Furore gesorgt hatte. Dhont schließt an seinen Erstlingserfolg mit einen herzzerreißenden Drama an, das zunächst als eine herrlich leichtfüßige Ode an jugendliche gleichgeschlechtliche Freundschaften daherkommt und alsbald in eine kraftvolle Kritik umschlägt, die untersucht, wie in der modernen Gesellschaft Aggressionen unter Kindern normalisiert und gleichzeitig der Austausch von Zärtlichkeiten dämonisiert werden. Man würde Dhont die Goldene Palme oder zumindest seinen beiden hervorragenden Jungschauspielern Eden Dambrine und Gustav de Waele einen Preis für ihre große Leistung gönnen. Aber es könnte auch sein, dass Kelly Reichardt, deren Film Showing Up heute den Wettbewerb beschließt, das Rennen am Ende für sich entscheidet. Das Potenzial dazu hat die US-amerikanische Regisseurin jedenfalls allemal.