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Éric Rohmer

Éric Rohmer

Der ungreifbare Autor

| Jörg Becker |
„Ich versuche, die Gedanken der Menschen zu filmen“: Éric Rohmer zum 100. Geburtstag.

Als Éric Rohmer zur Verleihung des Prix Louis Delluc (1971 für Le genoux de Claire / Claires Knie) sich als „Autor“ zu präsentieren gezwungen sah, zeigte er sich mit falschem Schnurrbart und falscher Brille, provozierte damit Filmkritik und Boulevard und verdeutlichte insbesondere, dass er das „Autor“-Sein als diskursive Konstruktion verstand, eine von Seiten der Rezeption aus entworfene Fiktion. Jene Lust an der Maskerade, Rohmers Freude an Pseudonymen (er wurde am 21. März 1920 als Maurice Schérer geboren; unter dem Pseudonym Gilbert Cordier veröffentlichte er bereits 1946 seinen ersten und einzigen Roman „Elisabeth“, der erst 2003 auf Deutsch erschien), seine bewusste Irreführung jeder positivistischen Werkbetrachtung waren keineswegs divenhafter Koketterie noch der Absicht erhöhter Aufmerksamkeitslenkung auf die eigene Person geschuldet: „Ich will im Hintergrund bleiben. (…) Ich will, dass das französische Kino ein Autorenkino ist. (…) Ich finde, es macht Freude, wenn das Publikum den Autor durch seinen Filmstil erkennt. Aber der Autor selbst existiert nur durch sein Werk.“ (1971)

In Filmen von Freunden, etwa in Jacques Rivettes Opus magnum Out 1: Noli me tangere (1971), taucht er als bärtiger Balzac-Experte auf, scheint sich damit über seinen früheren Beruf als Literaturdozent zu belustigen. 1976 hatte er sich sogar geweigert, seine Kleist-Verfilmung La Marquise d’O (mit Bruno Ganz, Edith Clever etc.) nach Cannes zu begleiten, für die ihm der Spezialpreis der Jury zugesprochen worden war – eine erste große, wenn auch späte Anerkennung seines Werks. Rohmer verwischte gern seine Spuren, machte sich unsichtbar. Der Älteste der Nouvelle Vague, vielleicht auch der Modernste, Vorkämpfer eines konsequenten „Cinéma des auteurs“, hat getreu seinen Idealen Einfachheit und Realismus mit drei umfangreichen Filmzyklen eine Comédie humaine für das Kino hinterlassen, eine Sittenchronik, die hinter sich wandelnden Erscheinungsbildern innere Wahrheiten aufscheinen lässt.

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Plan und Zufall, Entwurf und Leben, Text und Bild
Am Ursprung der Contes moraux, der Moralischen Erzählungen (1962–1972), stand nicht das Kino, erklärte Éric Rohmer 1970 den „Cahiers du cinéma“-Redakteuren. Grundidee sei die Handlung einer Figur, die über sich und ihr Verhalten urteilt, und man sähe dieses Bewusstsein, diese Reflexion. Ma nuit chez Maud (Meine Nacht bei Maud, 1969) ist eine jener Rohmer-Geschichten, die sich wie eine Versuchsanordnung aus schier unbegrenzter Variation (die auch, so Rohmer, von einem Computer entworfen worden sein könnte) betrachten lässt, bar jeder emotionalisierenden Techniken, ohne Drama, Musik und Kommentar, mit einem Minimum an Zeitkolorit. Im Zentrum dieses Zyklus repräsentiert Maud ein allen seinen Filmen zugrundeliegendes Muster: Der Protagonist hat sich für eine Frau entschieden, seinen Lebensentwurf an sie gebunden, eine Zufallsbegegnung lässt ihn nun eine Frau kennenlernen, die ein ganz anderes Prinzip verkörpert, und die aus diesem Gegensatz heraus eine Verführung darstellt, deren Reiz sich der Mann nicht eingestehen will; ihre Begegnung wird zu einer Bewährungsprobe auf seine Moral. Dass er der Verführung der anderen Frau nicht erliegt, scheint nur oberflächlich in seiner Treue und Standfestigkeit begründet zu sein. In Wahrheit sorgt die Triebkraft seines Narzissmus für eine Version des Geschehens, die es dem Helden erlaubt, sich unbeschadet zurückzuziehen, allerdings nur, wenn er vor sich selbst verleugnet, dass diese Version vermeintlicher Treue und Standhaftigkeit, auf einem falschen Ausklang, also auf einer Lüge beruht. Es ist Rohmers distanzierter Beobachtungsstandpunkt gegenüber seinen Figuren, der über die Widersprüchlichkeit ihrer wahren Motive keinerlei Illusionen bestehen lässt, die Erzählhaltung ist dekuvrierend im Sinne des realistischen Romans und wirft ein ironisches Licht auf die Akteure. „Rohmer hat mit seinem Film Literatur sichtbar gemacht: wie sie zum Leben sich verhält“, schrieb Frieda Grafe („Filmkritik“ 8/1967). Sein Film leite sich gewissermaßen aus einem Dementi ab: „Der Film entsteht erst da, wo die Linien von Text und Bild im Zuschauer einander dementierend sich treffen.“

Ein Spiel von Liebe und Zufall / Die Blindheit für unser Begehren
Für die Aktualität von Rohmers Filmzyklen hatte Serge Daney 1988 einen Widerspiegelungseffekt verantwortlich gemacht: Zeugnis des Zeitgeistes zu sein, ein Sittenbild der französischen Mittelschicht, das über Fiktionen in der Tradition von Musset oder Marivaux entworfen ist. Zu finden seien Haltungen und Redeweisen der „sozialen Akteure“ des Moments. In einem Film wie La collectionneuse (Die Sammlerin, 1967) zum Beispiel habe man später den Widerhall dessen gesucht, was einmal als Sechziger-Jahre-Dandyismus galt.

Wenn Rohmer für etwas bekannt ist, dann dafür, dass in seinen Filmen die Personen sprechen: Das Sprechen gehöre zu ihrem Handeln, es solle nicht die Personen realer machen, vielmehr werfen seine Inhalte ein Licht auf ihr Innenleben. Éric Rohmer hatte Prosavorlagen für seinen ersten Filmzyklus „Six contes moraux“ verfasst, die zunächst als Improvisation im
Pariser Boulevard-Alltagsleben begannen. Erstmals auf 35mm und in Farbe drehte er La collectionneuse, einen Film der neuen Künstler-Bohème, eingefärbt vom Lebensgefühl eines unbedingten elitären Stilwillens in den Mittsechzigern und zugleich ein Exempel Rohmerscher Selbsttäuschungsdramaturgie, hergeleitet aus der langen Tradition seit Cervantes‘ „Don Quixote“: Nichts ist in Wahrheit so, wie es den Anschein hat.

Ferien vom Kino
Die Freiheit, die Rohmers Geschichten seinen Personen gewährt, ist die, zu erkennen, wer und was sie sind. Oft können sie sich erst als „Ferienmenschen“, im Müßiggang dem Abenteuer Nichtstun überlassen, ihren Gefühlen widmen, und das erscheint als die eigentliche Arbeit, eine Selbstprüfung und ernste Angelegenheit. Erfüllungen und Enttäuschungen, Gewinn und Verlust in Sachen des Gefühls liegen nah beieinander in Rohmers Laborsituationen über die Möglichkeit, glücklich zu sein, Experimente, die manche Beteiligte einzeln zurücklassen, andere aufs Treffendste zu Paaren ordnen, als gehorchte alles Prinzipien der Harmonie einer Musik, in der die Improvisation der Rohmer-SchauspielerInnen dazu da scheint, eine zugrundeliegende Komposition zu maskieren. „Mündig ist der Mensch, wenn er Ausgang hat“, heißt es bei Alexander Kluge. „Ich bin nichts Besonderes“, hört man die Stimme der Schauspielerin Marie Rivière als Delphine im Film Le rayon vert (Das grüne Leuchten, 1986), „es lohnt sich nicht, mich kennenzulernen“.

Rohmer stellte dem Film, wie allen seinen Comédies et proverbes, ein Motto voran: „Oh lass die Zeit rasch kommen, da die Herzen sich verlieben“ (Rimbaud). Seine Hauptdarstellerin, von einer leichten 16mm-Kamera und einem Mikro begleitet, schickte er auf Sommerreise und zeigte, wie die Erziehung des Herzens einen großen Schritt vorankommt. Von Benjamin Henrichs („Kunst oder Leben!“, „Süddeutsche“, 11. August 2007) stammt die Betrachtung, dass man in Rohmers Filmen Ferien vom Kino selber machen könne, von allen Glanz-, Gewalt- und Heldentaten, Geschlechtsakten und emotionalen Exzessen.

Der Letzte der Nouvelle Vague
Die Nouvelle Vague, diese Formation der Kritiker-Cinéasten – Truffauts Autorenpolitik, Rivettes Mise-en-scène, Godards Dekonstruktivismus – ein jeder ein Fall für sich, ist ohne Rohmer, der über Amerikanisches Kino schrieb, über Farbfilm und
Cinemascope, kaum vorstellbar, man nannte sie ehedem, in der Zeit seiner Chefredaktion, „Le gang Schérer“ (nach seinem bürgerlichen Namen).

Er war der letzte der Nouvelle Vague, der sich an die Devise der „kleinen Themen“ hielt, welche die Gruppe anfangs zusammenschloss. Zuletzt allerdings blickte er auf die Erfahrungen einer englischen Adligen während Robespierres Regime zurück (L’Anglaise et le duc / Die Lady und der Herzog, 2001), ließ dafür Schauplätze rekonstruieren, nutzte gemalte Hintergründe, an denen man das Paris der Französischen Revolution imaginieren kann, die heutige Place de la Concorde oder das Seine-Ufer: „Schließlich bedeutet Kino die Möglichkeit, einen Ort in seiner ganzen Ausdehnung zu zeigen, anders als das Theater, das seinen Ort auf die Maße einer Bühne kondensieren muss.“ (2002). Darin folgte Rohmer ganz seinen Lehrmeistern, den deutschen Expressionisten, besonders F. W. Murnau (über welchen der Literaturwissenschafter und Altphilologe 1972 eine Dissertation abgeschlossen hatte, publiziert 1978; deutsch 1980), aber auch Hitchcock (über den er mit Claude Chabrol eine frühe Monografie verfasste), Renoir (den er als seinen ersten Lehrmeister im Tonfilm gesehen hatte) und Roberto Rossellini. Für Rohmer blieb Murnau der Größte. Dieser habe den sichtbaren Raum mobilisiert und Bewegung nicht durch Verkettung der Bilder, durch Montage mobilisiert.

Lob der Rede / Für ein sprechendes Kino
„Der Geschmack des Schönen“, so der Titel einer Sammlung seiner Filmessays, hat sich bei Rohmer für die anmutige Natürlichkeit spontaner Gesten, selbstvergessener Momente ausgebildet. Vor allem aber geht es um den Widerspruch der Handelnden zwischen Reden und Tun. Er schwört auf die Rede, die um Liebe und Betrug, Eifersucht und Begehren kreist. Rohmer ist einer der wenigen Regisseure, die das Denken filmen und dafür sorgen, dass der Betrachter sich nur schwer mit den Figuren identifizieren kann. Es sind die Gegensätze, die ihn anziehen, zwischen dem äußerlich sichtbaren Verhalten, und dem, was er sagen zu müssen glaubt.

So bildet die Doppelbödigkeit, die Ambivalenz, welche Rohmer im Widerspruch von evidentem Filmbild und den sprachlichen Willensäußerungen seiner Protagonisten auf der Tonspur entlarvt, das eigentliche Spielfeld dieses erfinderischen Flaneurs. Beständig nahm er das Leben und Treiben seiner Mitmenschen in Augenschein, ließ sich überdies von den zahlreichen jungen Schauspieltalenten, auch Laiendarstellern, die er entdeckte, fürs minuziös festgelegte Scénario inspirieren.